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Die Meuterei des Kapitäns

Zwei alte Fussballschuhe hängen an der Wand, an einem Nagel

Kleines Rollenspiel: Sie sind Personalleiter eines gut situierten, international operierenden Unternehmens. Ja, es gab bessere Zeiten – vor zehn, fünfzehn Jahren waren Sie Weltspitze –, aber alles in allem stehen Sie gut da. Solide Performance im Heimatmarkt, guter Cashflow, nach wie vor herausragendes Personal. Nur die Presse nörgelt immer wieder mal wieder, dass die großen Vertriebserfolge ausbleiben und das Topmanagement frische Impulse brauche. Dabei betonen Sie immer wieder, dass gerade das die große Stärke des Unternehmens ist: Sie stehen für Kontinuität und lassen die Führung in Ruhe arbeiten; in Ihrer Branche ist das absolut unüblich.

Am liebsten gar nichts mehr zu tun

Nun also ist es Samstagmorgen, der Frühstückstisch ist gedeckt, Sie schlagen die Zeitung auf. Kaum haben Sie ins Brötchen gebissen, entdecken Sie einen Ihrer wichtigsten Mitarbeiter im Interview. Das ist an sich keine Seltenheit – immerhin ist der Mann meinungsstark, eloquent, loyal, seit Jahren im Unternehmen. Die Firma wirbt mit seinem Gesicht. Im Sommer wird er in den Ruhestand gehen, die ganz großen Deals machen inzwischen andere – doch der Beratervertrag im Anschluss ist bereits eingetütet, und selbst in Altersteilzeit ist er der vielleicht wichtigste Ansprechpartner unter Mitarbeitern und Stakeholdern. Auch für Sie.

Doch heute liegt der Fall anders: Weder haben Sie etwas von einem Interview gewusst noch kann Ihnen gefallen, was Sie lesen. Ihr verdienter Kopf spricht in aller Offenheit über den Druck, den er in seinem Job empfindet: Vor wichtigen Projekten sei er all die Jahre kaum zur Ruhe gekommen, er kämpfe mit Übelkeit und Magenproblemen, die Aufregung habe ihm regelmäßig den Schlaf geraubt. Nach dem öffentlichkeitswirksamen Scheitern eines großen Auftrags sei er in erster Linie froh gewesen, dass es endlich vorbei war. Und am liebsten sei es ihm heute eigentlich, gar nichts mehr zu tun zu haben.

Offenheit tut gut

All das ist in etwa so passiert. Nur dass es sich beim Unternehmen um den Fußballclub Arsenal London handelte und beim Mitarbeiter um den deutschen Mannschaftskapitän Per Mertesacker. Dessen Spiegel-Interview schlug im März über den Fußball hinaus hohe Wellen, weil es die knallharte, teils brutale Realität des Leistungssports aus der Sicht eines Weltmeisters offenlegte. Mertesackers Vertrag läuft in diesen Tagen aus, rund 15 Profijahre liegen hinter ihm. Ab Sommer wird er die Arsenal-Nachwuchsakademie leiten – den Ort also, wo den Talenten der unbedingte Leistungswille erst richtig eingeimpft wird. Dieses System wolle er „angreifen“, so Mertesacker, und seinen Schützlingen auch die Welt jenseits des Fußballs nahebringen.

„Brutal ehrliches Interview, großer Respekt“, twitterte Sportschau-Hauptmoderator Matthias Opdenhövel noch am Tag des Erscheinens. „Tolles Interview, von bemerkenswerter, seltener Offenheit“, schwärmte Sky-Chefkommentator Wolff-Christoph Fuss wenig später. Und sie haben ja recht: Dass Mertesacker die Härten des Geschäfts anspricht, ist gut und richtig. Profis zahlen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch einen hohen Preis dafür, dass sie dem Traumberuf von Millionen Jungs nachgehen. Kein normaler Arbeitnehmer kann sich den Druck vorstellen, dem sie seit frühester Jugend ausgesetzt sind: stets unter Beobachtung zu sein, niemals einknicken zu dürfen, immer liefern zu müssen. Es ist gut, wenn Profis dies auf differenzierte Art und Weise auch während der Karriere kritisch reflektieren.

Halbherziger „Angriff“ des Systems

Doch es tut eben keiner. Denn wenn Millionengehälter auch kein Grund sein dürfen, unmenschlich oder unethisch zu werden, dienen sie – im Fußball wie auch in anderen leistungsbezogenen Branchen – nicht zuletzt als Schmerzens- und Schweigegeld. Wer sie kassiert, ist Teil des Systems und liefert ab. Andere – ehemalige Nationalspieler wie Sebastian Deisler oder Tobias Rau – haben so viel Mut, Frust oder Schmerz, das System zu verlassen. Mertesacker aber, der betont, er „würde es immer wieder machen“, bleibt Teil der Maschine und sorgt dafür, dass sie weiterläuft. Das passt nicht recht zusammen. Wer ein System „angreifen“ will, sollte sich davon unabhängig machen. Das gilt besonders, wenn man es sich finanziell erlauben kann.

Auch aus Arbeitgebersicht ist Mertesackers Vorstoß bedenklich: In seinem jetzigen Job gefordert werden würde er eigentlich lieber nicht mehr, sagt er, wehrt sich aber eben auch nicht gegen die vertraglich vereinbarten Millionen und den attraktiven Anschlussvertrag. In der Kombination ist dies das falsche Signal an Verein, Mitspieler, Mitarbeiter und Fans. Was würde etwa geschehen, wenn Mertesackers Advokaten Fuss und Opdenhövel – bei laufendem Vertrag und voller Bezahlung – öffentlich proklamierten, dass sie eigentlich ganz froh waren, das WM-Finale nicht kommentieren zu müssen? Dass sie Krankmeldungen als willkommene Pausen sehen und ohnehin am liebsten nur noch auf Abruf stünden? Als Hauptmoderator und Chefkommentator sind sie in etwa das genaue Gegenstück zu dem, was Mertesacker für Arsenal ist: herausgehobene Persönlichkeiten, besondere Sympathieträger, Topverdiener und gewissermaßen Primi inter pares im Team. Verständlicherweise würde in ihren Sendern eine Diskussion entbrennen, ob sie auf ihrer Position noch richtig sind. Und in der Öffentlichkeit ebenfalls.

Dass es von Arsenal keine offizielle Reaktion gab, ist kaum ein Zeichen von Gleichgültigkeit. Gewiss ist man in London „not amused“ – für echte Konsequenzen liefern die Äußerungen aber keine Angriffsfläche. Das finden auch Arbeitsrechtler, mit denen wir im Rahmen der Recherche sprachen: „Mertesacker hat seine Worte gut gewählt.“ Immerhin: Damit hat der Kapitän eine der wichtigsten Anforderungen an seine Rolle erfüllt.

Hinweis: Eine gekürzte Fassung dieses Kommentars finden Sie, ergänzt um aktuelle Zahlen zu Stress und Druck im Arbeitsleben, in Personalwirtschaft-Ausgabe 05. Nicht-Abonnenten bestellen die Einzelausgabe in unserem › Shop.

Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.