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Digitale HR: Für dein besseres Ich

Bild einer alten Digitaluhr
Bild: claudiodivizia/istock

Als die Band Tocotronic 1995 ihr Debütalbum „Digital ist besser“ veröffentlichte, waren Digitaluhren sehr, sehr uncool. Es war die große Zeit der Marke Swatch, und Uhren hatten vor allem eines zu sein: bunt. Sänger Dirk von Lowtzow trug trotzdem weiter digital und wirkte damit wie aus der Zeit gefallen. „In einer Gesellschaft, in der man bunte Uhren trägt, bin ich nur im Weg“, sang er, und das klang trotzig und rotzig und ganz wunderbar anti. Der Beginn einer großen deutschen Band.

Seit ein paar Jahren ist die Digitaluhr aus den Achtzigern wieder en vogue. Ein Hipster- Accessoire – vielleicht gerade weil das aus heutiger Sicht Digitalste an ihr der Name ist. In einer Gesellschaft, in der man smarte Uhren trägt, ist sie purer Anachronismus. Eine Uhr kann doch heute so viel mehr! Die kürzlich mit großem Tamtam vorgestellte vierte Generation der Apple Watch etwa „inspiriert dich zu einem gesünderen Leben“, „überwacht deine Herz frequenz“, „motiviert dich wie ein Personal Trainer“ und „hilft dir, alles besser zu managen“. So steht es auf der Website.

„Für dein besseres Ich“ lautet sinnvollerweise der Slogan, mit dem diese Uhr beworben wird, und treffender könnte man die Verheißung, die aus dem Silicon Valley in die Welt schallt, nicht kondensieren: Wenn du dich auf uns einlässt, helfen wir dir, zur besten Version deiner selbst zu werden. Kauf unsere Geräte und gib uns deine Daten – dann wird dich unsere Technik schlanker, fitter und schlauer machen, gesünder, sparsamer und effizienter. Sie nimmt dir das Lästige ab und lässt dich das Schöne noch mehr genießen. Du wirst besser organisiert sein, bewusster atmen und gesünder schlafen.

Digital ist besser – zwar meinten Tocotronic etwas völlig anderes, doch der Lockruf zieht mehr denn je. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Geräte genauer über uns Bescheid wissen als wir selbst. Ständig setzen wir Datenpunkte, die sich auf Serverfarmen sammeln und dort entwaffnend schlüssige digitale Abbilder unserer vermeintlich analogen Leben zeichnen. Das rechnet sich. Allein Amazon und Apple sind heute mehr wert als alle Dax-30-Unternehmen zusammen.

Kein Wunder, dass vor allem die großen HR-Abteilungen eifrig daran arbeiten, diesen technischen Fortschritt für die Personalarbeit nutzbar zu machen. People Analytics, Robotik und künstliche Intelligenz sind die aktuellen Buzzwords auf HR-Fachkonferenzen. Manch technikaffiner HRler sieht sich schon in Gedanken mit dem Tablet in der Hand, dem CEO lässig am HR-Dashboard mit einigen Wischbewegungen die Talent-Pipeline für die nächsten Jahre aufzeigend. Dass sich die Personalarbeit mithilfe von Daten so optimieren ließe wie das eigene Selbst – schlanker, intelligenter, effizienter –, das klingt genial. Doch um Daten in HR zu nutzen, muss man zunächst lernen, sie strukturiert zu sammeln, aufzubereiten und zu analysieren. Einmal ganz abgesehen von den datenschutzrechtlichen Verwicklungen. Das braucht, wie die Beispiele Merck und Swarovski in diesem Heft zeigen, jede Menge Zeit, Hirnschmalz und Frustrationstoleranz.

Welche Studie man auch liest, welchen Experten man auch befragt, die Quintessenz ist oft dieselbe: Je mehr Daten und Technik ins Spiel kommen, desto wichtiger werde das Menschliche. Die Maschinen erledigen zunehmend die lästige Arbeit, während wir Menschen uns auf unsere Stärken – Empathie, Zugewandtheit, Kommunikation – konzentrieren. Technik mache Personaler also nicht überflüssig, sie ermögliche vielmehr das Gegenteil: „Für dein besseres Ich“, jetzt auch im Job.

Das ist zwar in sich sauber argumentiert, klingt aber trotzdem verdächtig nach einem Beruhigungsmantra. Schon in den späten Neunzigern, als Dave Ulrich HR mit dem Business-Partner-Modell einen neuen konzeptionellen Zuschnitt verpasste, war die Hoffnung ähnlich: HR würde endlich vom operativen Verwalter zum strategischen Gestalter werden. In der Breite ist das aber bis heute nicht eingetroffen, weil viele HR-Abteilungen die damit verbundene Haltungsänderung nicht angenommen haben. Das ist eine Frage der Selbsteinschätzung: Wo stehen wir? Und wofür stehen wir? Ein Modell auf dem Papier zu ändern, ist das eine, es mit Leben zu füllen, ist das andere.

Zeitgleich zu Ulrichs HR-Makeover übrigens änderten Tocotronic ihren Musikstil. Sie traten fortan seltener auf den Gitarrenverzerrer, wurden sanfter, setzten auf Synthies und Streicher. Damit kamen sie in die Charts und blieben dort bis heute. Trotzdem wirft ihnen kaum ein Fan vor, sich verkauft zu haben. Denn das, was den Kern der Band ausmacht – Haltung, Rhetorik, Indie-Intellektualität –, ist geblieben. Authentische Weiterentwicklung also, ganz ohne Selbstoptimierung und Digitalisierung und Transformation. Geht anscheinend auch.


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Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.