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Glücklich im Asbesttempel

Foto von einem baufälligen Bürohaus
Bild: hanohiki/istock

New Work: Die Vision von einer kreativeren, flexibleren, weniger hierarchischen Arbeitswelt ist groß. Sie trifft den Geist einer Zeit, in der sich viele Menschen von übervollen Pendlerzügen, hirnlosen Meetings und herzlosen Chefs getrieben, gehetzt und genervt fühlen. Wenn im März wieder 1500 Menschen zur „New Work Experience“ des Businessnetzwerks Xing in die Elbphilharmonie nach Hamburg pilgern, so gleicht dies einer Prozession: raus aus der alten Welt, raus aus dem Hamsterrad!

Längst haben die meisten Unternehmen erkannt, dass ein „Weiter so“ nicht möglich ist. Quer durch alle Branchen sind Organisationen durch die Digitalisierung gezwungen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und sich selbst neu zu erfinden. Das geht nur mit qualifizierten, motivierten Mitarbeitern, die sich gern einbringen und gemeinsam an neuen Lösungen arbeiten. Mehr denn je glaubt man heute daran, dass der zukünftige Unternehmenserfolg von den Räumlichkeiten und Gegebenheiten im Büro abhängt. Inspiriert von den kreativ-kommunikativen Campuslandschaften der Silicon-Valley- Giganten wurden in den letzten Jahren zahlreiche offene Büroarchitekturen geschaffen: Sie sollen den Austausch zwischen Mitarbeitern und Teams befördern, Silos auflösen, agilere Formen der Zusammenarbeit ermöglichen. Wenn schon ein inhaltsleerer „Bullshit- Job“, so möchte man im Duktus David Graebers ätzen, dann doch wenigstens mit Barista und Bällebad.

Was ist also Ihr Antrieb, eine neue Büroarchitektur zu schaffen? Ist es der bloße Wunsch nach einer „cooleren“ Arbeitsumgebung, mit der sich neue Mitarbeiterzielgruppen rekrutieren lassen? Dann werden Sie scheitern. Wollen Sie ein bisschen sein wie Apple und Google? Auch das wird leider nichts werden. Hoffen Sie, dass mit dem Umzug in ein neues Büro die alten Probleme Ihrer Organisation verschwinden? Das Gegenteil wird der Fall sein.

Vermutlich haben die zahlreichen Management Learning Journeys ins Valley den Blick auf eine simple Wahrheit zuletzt etwas vernebelt: Unserem Büro ist es schnuppe, wie wir miteinander umgehen. Kultur isst Büroarchitektur zum Frühstück, könnte man in geradezu fahrlässig grobschlächtiger Abwandlung eines berühmten Zitats von Peter Drucker postulieren. Jedoch: Kultur zu verändern, ist ein langer Weg ohne sicheres Ergebnis. Das macht viele Manager nervös. Umzuziehen oder neu zu bauen ist einfacher, planbarer und öffentlichkeitswirksamer. Und manchmal ist es natürlich auch sinnvoll oder gar unabdingbar. Es gibt sie ja, diese Knoten, die sich nicht mehr entwirren, sondern nur noch zerschlagen lassen. Diese Zukunftsbilder, die mit der Vergangenheit nicht mehr viel gemein haben.

Bei all dem New-Work-Gesumme (an dem wir als Medium fleißig mitwirken) geht indes oft unter, dass viele Mitarbeiter gar nicht mobil, flexibel und kommunikationsoffen arbeiten wollen. Und das gilt selbst für diejenigen in Ihrer Belegschaft, die seit Jahren über das alte, verstaubte, verwinkelte Büro gemeckert haben. Seien Sie sicher: Kaum haben Sie den Wechsel ins offene, luftige, nach allen Regeln der New-Work-Kunst designte Agency Office verkündet, wollen alle plötzlich lieber im in die Jahre gekommenen Asbesttempel bleiben. Wo ein werdendes Neues ist, gibt es immer auch das Dagewesene – die Territorien, die Grabenkämpfe, die Hinterzimmer, die Kaffeeküchen, den Klatsch. Den hartnäckigen Beharrungswillen des Systems spüren wir dann am stärksten, wenn es ins Wanken gerät. Das Neue bedroht uns, weil es den eigenen Schreibtisch, den eigenen Rückzugsraum, die eigene Identität infrage stellt. Weil wir – und das ist Realität und Dystopie zugleich – Angst haben, namenlos zu werden: eine Nummer am täglich wechselnden Schreibtisch.

Diese Sorgen sind berechtigt, Unternehmen müssen sie ernst nehmen, Angebote und Lösungen dafür entwickeln. Genauso ist es unternehmerische Pflicht, den Blick stets in die Zukunft zu richten.Wenn nach einer intensiven Analyse klar ist, dass der Weg zu neuen Geschäftsmodellen nur mit neuen Formen von Zusammenarbeit und Kommunikation sowie neuen Profilen und Kompetenzen in der Belegschaft möglich ist, dann sind Neubau, Umbau oder Umzug logische und richtige Konsequenzen. Doch eines bleibt man selbst dem missliebigsten Knoten schuldig: Mag er auch noch so verheddert sein – man sollte versucht haben, ihn von Hand zu lösen, bevor man ihn unwiderbringlich zerschlägt.


Diese Stilkritik ist in Ausgabe 02/2019 erschienen. Das gesamte Heft finden Sie in unserem › Shop

Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.