Warum ändert sich immer erst dann etwas, wenn der Schuh zu sehr drückt? Menschen und Gesellschaftssysteme tun sich schwer damit, sich zu verändern. Der Grund: Wir sind und bleiben Gewohnheitstiere. Selbst wenn wir uns unserer Schwächen bewusst sind oder sie deutlich aufgezeigt bekommen, braucht es – mal mehr, mal weniger – Zeit, bis wir uns ändern. Wenn wir es denn überhaupt tun.
Die erste Hochphase der Corona-Pandemie hat im März und April gezeigt, wie schnell und tiefgreifend Veränderung möglich ist, wenn der Leidensdruck hoch ist und ein gemeinsames Ziel verfolgt wird. Anschließend zeigte sich ebenso deutlich, wie schnell Mensch und System wieder Richtung Komfortzone driften, wenn die Wichtigkeit und Dringlichkeit zur Veränderung sinken. Sichtbar wird dies beispielsweise an der Vergütungsdebatte, welche die Pandemie angestoßen hat: Systemrelevanten Berufen wie Pflegenden, Kassierern, Zugführerinnen, Busfahrern und vielen anderen wurde im Frühjahr besondere Aufmerksamkeit zuteil. Plötzlich war es en vogue, denjenigen zu applaudieren, die sonst im Schatten stehen.
Im Nachgang hat das etwas von „Opium für die Systemrelevanten“, denn nicht nur der Applaus ist verhallt – auch die zum Höhepunkt der Krise von vielen Seiten geforderte bessere Entlohnung blieb weitgehend Schall und Rauch. Dabei sind die schlechten Arbeitsbedingungen in den systemrelevanten Branchen und die niedrige Bezahlung der Fachkräfte seit Jahren bekannt. Verwunderlich ist, dass sich wenige Monate nach dem allgemeinen Beifall kaum jemand mehr dafür interessiert – das altbekannte Problem Fachkräftemangel fällt in verschärfter Form zurück in die Personalabteilungen.
Lediglich Mitarbeitende in der Altenpflege können sich auf eine geringe einmalige Bonuszahlung freuen – aber auch nur, weil sie deutlich weniger verdienen als die ebenfalls nicht auf Rosen gebetteten Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. Es gibt auch Kliniken und Krankenhäuser, die ihrem Pflegepersonal einen freiwilligen einmaligen Corona-Bonus zahlen. Der fällt zwar meist niedriger aus als die von Gesundheitsminister Spahn genannten bis zu 1500 Euro, zeigt aber den guten Willen und das Verständnis für die Forderungen der Belegschaft nach mehr Geld, die in vielen europäischen Ländern laut werden. In Frankreich etwa haben Pflegekräfte landesweit Mitte Juni für eine allgemeine Lohnerhöhung um 300 Euro für Pflegeberufe demonstriert.
Es geht hierbei nicht nur um die Wertschätzung von strukturell wichtigen Berufsgruppen, sondern auch um die Anerkennung, die wir dem gesellschaftlichen Zusammenleben im Ganzen zuteilwerden lassen.
Wir alle sind auf hilfsbereite, gut ausgebildete und motivierte Fachkräfte in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in Supermärkten, Kindergärten, Polizeidienststellen oder Pflegeeinrichtungen angewiesen. Ihren Job auch finanziell aufzuwerten ist ein Kraftakt – doch er ist überfällig. Die Politik aber verschiebt das Problem. Zum Beispiel, indem sie niedrige Löhne durch Hilfspakete oder Lohnaufstockung auffängt.
Auch Benefits, deren Etablierung Corona unterstützt hat und mit denen Arbeitgeber um neue Mitarbeiter werben, helfen diesen Berufsgruppen nicht. Im Homeoffice oder von unterwegs arbeiten kommt für sie nicht infrage. Sie erhalten keine moderne IT-Hardware oder geldwerte Nebenleistungen.
Viele Beschäftige in diesen Branchen sind zurecht unzufrieden. Das wird sich auf ihre Moral und Leistungsbereitschaft niederschlagen, und es wird das Recruiting von Nachwuchskräften weiter erschweren. Eine Chance für wertschätzende Unternehmen: Greifen Arbeitgeber jetzt ein, können sie dies nicht nur als Argument für ihr Employer Branding nutzen, sie würden auch im Recruiting profitieren – und nebenbei einen Beitrag zu mehr Gleichheit und Fairness in der Gesellschaft leisten.
Tim Stakenborg verantwortet die Heftplanung des Magazins Personalwirtschaft. Zudem betreut er das Thema Aus- und Weiterbildung (inklusive MBA und E-Learning) und beschäftigt sich mit dem Bereich Employee Experience und Retention.