„Asozial“ und „verantwortungslos“ nennt es SPD-Chef Martin Schulz, wenn Siemens Milliardengewinne einfährt und zugleich Tausende Stellen abbaut. Cliff Lehnen ist der Meinung: Damit hat er sich leider wieder einmal verrannt.
Vielleicht wäre eine Biografie wie die des Josef Käser aus Arnsbruck im Bayerischen Wald ohne die SPD gar nicht möglich gewesen: Dass es der Arbeitersohn aus dem 2000-Seelen-Dorf in den Siebzigern an die Fachhochschule nach Regensburg schaffte, das war gelebte Bildungsgerechtigkeit. Dass er 1980 bei Siemens ein- und dort aufsteigen konnte, den Konzern schon bald im Ausland repräsentieren durfte: ein Beispiel für Chancengerechtigkeit. In den Neunzigern ging es für ihn im Auftrag des Unternehmens in die USA, und von dort kam er als gemachter Mann zurück: als „Joe Kaeser“ nämlich. Aus Josef war Joe geworden, ganz amtlich, ganz offiziell, und vor allem: ohne Umlaut. International ist das ein- fach praktischer. Und zielführender.
Seit viereinhalb Jahren nun ist Joe Kaeser CEO von Siemens. Davor war er sieben Jahre Finanz- vorstand. Er hat es ganz nach oben geschafft, weil er durch und durch Stratege ist. Und er ist bereit, einschneidende Entscheidungen zu treffen, wenn sie dem großen Ganzen dienen. So kühl wie er einst seinen Namen auf die wichtigsten Elemente reduzierte, so kündigte er auch jüngst an, in der Kraftwerks- und Antriebstechnik weltweit 6900 Stellen zu streichen.
Welcher Aspekt dieser Stellenstreichung hat SPD-Schlachtross Martin Schulz wirklich auf die Palme gebracht, so sehr, dass er das Verhalten der Siemens-Oberen lautstark „verantwortungslos“ und „asozial“ nannte? Waren es die Milliardengewinne, die Siemens gleichzeitig verbuchte? Waren es die Einzelschicksale der Arbeiter in Mülheim, Görlitz oder Berlin? Oder trieb ihn bloß die Hoffnung auf späte – zu späte – Gunst aus dem Volk? All das mag seinen Furor verstärkt haben, doch zuvorderst dürfte es die Kaeser’sche Kühle gewesen sein, an der er sich stieß. Schulz ist Bauchmensch, Gerechtigkeitsfanatiker, im Wahlkampf hat er die soziale Gerechtigkeit zu seinem Thema gemacht. Schulz wollte mehr Wärme. Dafür hat er sich aufgerieben, damit ist er böse auf die Nase gefallen.
Und auch diesmal ging es schief. Kaesers Antwort fiel standes- gemäß nüchtern aus: Siemens habe allein in den vergangenen fünf Jahren mehr als 20 Milliarden Euro an Steuern, Abgaben und Sozialversicherungsbeiträgen an den deutschen Staat über- wiesen; in Deutschland gebe es wegen der Energiewende kaum mehr Nachfrage für Gas- und Kohlekraftwerke; und überhaupt solle sich Schulz „dabei auch überlegen, wer wirklich verantwortungslos handelt: diejenigen, die absehbare Strukturprobleme proaktiv angehen und nach langfristigen Lösungen suchen, oder diejenigen, die sich der Verantwortung und dem Dialog entziehen.“ Ein empfindlicher Wirkungstreffer für den Wahlverlierer und zunächst trotzigen GroKo-Verweigerer Schulz.
Martin Schulz: Der Politiker von der traurigen Gestalt. Stets bemüht, stets emotional, doch nichts will ihm recht gelingen. Das lässt ihn verbissen wirken, manchmal auch verbittert. Dagegen wirkt Kaeser, der kühle Stratege, aufgeräumt und klar.
Man würde denken, der neue Joe Kaeser – der erfolgreiche Mann von Welt – habe alle Verbindungen in die alte Heimat Niederbayern gekappt. Doch dem ist nicht so. Noch heute wohnt er dort, geht zum Gemeindefest, engagiert sich für die Freiwillige Feuerwehr. Alte Freunde rufen ihn „Sepp“, Executives nennen ihn „Joe“. Martin Schulz hingegen nennen alle bloß Martin. Oder „Machtin“, so klingt das im Rheinland. Martin, der Verwurzelte. Martin, der Hoffnungsträger. Martin, der gefallene Stern.
Martin, der geprügelte Hund, dessen Bissigkeit erst wieder aufblitzte, als die Wahl vorbei war. Eine Langzeitreportage im „Spiegel“ zeigte kurz darauf, dass es Parteikollegen, Berater, Redenschreiber und andere vermeintliche Helfer waren, die ihn um ein besseres Ergebnis brachten – weil sie ihn Stück für Stück von seinen Ideen und Werten entfernten, ihn in ein schief sitzendes Kampagnenkorsett steckten. Die inhaltlichen Wurzeln waren längst gekappt. Was blieb, war die Wurzel Heimat: Würselen bei Aachen. Die Buchhandlung, das Bürgermeisteramt, die B-Jugend-Vizemeisterschaft – all diese lokalen Spezifika hat uns die Wahlkampagne so lange vorgebetet, bis wir sie auswendig konnten. Martin Schulz kann man gar nicht den- ken ohne die totale Verortung. So wurde in kaum einem Jahr aus Deutschlands profiliertestem Europapolitiker ein bräsiger Provinzler. Eine Abstiegsbiografie – auch diese übrigens ohne die SPD undenkbar.
Martin, das Bauernopfer. Wieder einmal hat er sich verrannt. „Die Leute sind ja nett zu mir, aber sie sind es aus Mitleid“, meint Schulz an einer Stelle im Spiegel-Porträt. Leider hat er damit recht.
Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.