Ausgabe 5 - 2014
Fakt oder Fata Morgana?
Händeringend, heißt es, suchen Firmen qualifizierte Mitarbeiter. Doch selbst in Engpassberufen gibt es schlecht bezahlte Fachkräfte, gut ausgebildete Langzeitarbeitslose und frustrierte Bewerber sonder Zahl. Was läuft schief?
Gefragt, ob sie unter Fachkräftemangel leiden, stimmen Firmen überwiegend zu. Hakt man jedoch nach, was sie dagegen tun, kommt ein rückständiges Recruiting zum Vorschein: Vielfach werden lediglich Stellenanzeigen geschaltet. „Post and pray“, inserieren und abwarten, ob sich jemand meldet. Kein Zweifel, hier ist noch Luft nach oben.
Das bringt Martin Gaedt auf die Palme. Der Geschäftsführer des Berliner HR- und IT-Dienstleisters Younect, 2013 mit dem „HR Excellence Award“ ausgezeichnet, hat seine Beobachtungen aufgezeichnet und vor wenigen Wochen als Buch veröffentlicht. Darin liest er den ewig jammernden Unternehmen die Leviten. „Mythos Fachkräftemangel“ dreht sich nicht allein um die eingangs skizzierte These, wonach allein durch ein modernes Recruiting Boden gutgemacht werden könnte. These zwei: Würden Unternehmen sich nur annähernd so ernsthaft und intensiv um Mitarbeiter, Bewerber und Kandidaten kümmern wie um ihre Kunden, würde dem Gerede vom vermeintlichen Fachkräftemangel unweigerlich der Boden entzogen. Beherzt schwört Gaedt die im Arbeitsmarkt irrlichternden Akteure auf einen neuen Kurs ein: Regionale Nachteile könne man durch Kooperation ausbügeln und mangelnde Bekanntheit durch Internetauftritte, die Zielgruppen anziehen und begeistern. Beispiel: „Karrieretag Familienunternehmen“. Unter der Plattform haben sich seit 2006 einige Mittelständler organisiert. Knapp 10 000 Facebook-User, sagt Sprecher Sebastian Klemm, strebten ihren beruflichen Einstieg dort statt in Konzernen an.
Nicht zuletzt warnt Gaedt davor, sich bei der Personalwerbung lediglich auf die nominell schrumpfende Gruppe der Absolventen zu beschränken. Vor allem bei Azubis und den grundlos vernachlässigten Älteren, Frauen, Migranten und Gehandicapten renne man offene Türen ein.
Dies vorweg: Unter Insidern findet man kaum gegenteilige Argumente. Sich über den Fachkräftemangel zu ereifern, sagt etwa Wolfgang Brickwedde, Direktor des Institute for Competitive Recruiting (ICR) in Heidelberg, sei vielfach ein „Feigenblatt für passive Personaler“. Beispiel: Gesundheitsbranche. Wer Ärzte und Pflegekräfte gewinnen wolle, sollte Arbeitsbedingungen verändern. Kliniken müssten umstrukturieren. Beispiel: Großkanzleien. „Wer junge Juristen bis 23 Uhr schuften lässt, sollte schleunigst die Arroganz ablegen. Sonst schaut sich die Generation Y künftig woanders um“, so Brickwedde.
Unzulängliche Personalwerbung
Schauen wir uns Gaedts These von der unzulänglichen Personalwerbung näher an. Vier von fünf Unternehmen, schätzt er, belassen es bei der herkömmlichen Stellenanzeige, wobei Online-Inserate eingeschlossen sind. „Es liegt auf der Hand, dass bei einer Gesamtsumme von unzähligen Stellenportalen und kontinuierlich sinkender Wahrnehmung unter den avisierten Zielgruppen als Resultat weniger Bewerbungen ins Haus flattern.“ Sogar in der boomenden Automobilindustrie sei dieses Manko anzutreffen, zumindest unter Zulieferern, erläutert Brickwedde. Sie beklagten sich, die gesuchten Ingenieure und Fachkräfte würden doch samt und sonders Autobauern den Vorzug geben. „Tatsächlich bleibt ihr eigenes Recruiting weit hinter den Möglichkeiten zurück.“
Verstärkt wird dieser Effekt durch eine verbreitete, virusgleiche Schlafmützigkeit der Personaler. „40 Prozent aller Bewerber“, bezieht sich Gaedt auf Umfragen, „kriegen keine Antwort. Weitere 30 Prozent warten vier Wochen. Lediglich jeder dritte Bewerber kann auf schnelles Feedback zählen“. Darüber beklagen sich auch Personalberater, wie zum Beispiel Martin Vesterling, ein auf IT-Fachkräfte und Ingenieure spezialisierter Personalberater aus München. „Wollen die Firmen dann endlich den Kandidaten kennenlernen, müssen wir ihnen mitteilen, dass er schon anderweitig unterschrieben hat.“ Nicht nur Mittelständler, auch DAX-Unternehmen sollten ihre Recruiting-Prozesse auf Vordermann bringen, so Vesterling.
Es lässt sich erahnen: „Humankapital“ entspricht nicht jener Wertschätzung, die hier und dort mit Phrasen wie „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“ vorgetäuscht wird. Mitarbeiter, Bewerber und Kandidaten – lediglich eine frei disponible „Ressource“, die wie Draht, Holm und Stift hin- und hergeschoben wird? Dass Unternehmen Mitarbeiter und Bewerber oft weniger pfleglich behandeln als ihre Kunden, so Gaedts Kernthese, ist für Andreas Boes, Vorstand im Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) in München, ein valides Argument. „In der Arbeitswelt scheint der Ton rauer geworden zu sein.“ Nicht nur ISF-Studien zufolge nehmen psychische Erkrankungen zahlenmäßig stark zu.
Die Mär vom Fachkräftemangel?
Trifft womöglich der Verdacht zu, dass die Mär vom Fachkräftemangel zusätzliche Kohorten dazu inspirieren soll, eine berufliche Perspektive zu verfolgen, die später in einem Überangebot mit sinkenden Gehältern und Stundensätzen resultiert? Was der IT-Freiberufler Daniel Roth herausfand, gibt der Annahme neue Nahrung. Kunden und potenzielle Auftraggeber fragte er, wie viele Bewerbungen sie auf ein offene Freiberufler-Position erhielten. Die überlassenen Daten lassen tief blicken: Auf Positionen im IT-Support entfielen demnach 300 bis 700 Bewerbungen, in IT-Administration immerhin 80 bis 150.
Selbst höherwertige Vakanzen wie der IT System Engineer (50 bis 100) oder IT Projektmanager (20 bis 50) lösten Bewerbungen in einem Maße aus, das jeglichem Gerede vom Fachkräftemangel eine geradezu zynische Note verleiht. Einzige Ausnahme: Softwareentwickler und SAP-Berater. Roth: „Ich kann jedem jungen Menschen für die Berufswahl nur empfehlen: Finger weg von der IT.“ Maßgeblichen Anteil an solchen Verwerfungen haben die einschlägigen Verbände. Die IT-Lobbyisten vom Berliner Bitkom etwa beziffern das Minus auf rund 39 000 Fachkräfte, wobei sie von einer Beschäftigtenzahl von knapp 920 000 Fachkräften ausgehen. Auf diese Grundgesamtheit bezieht sich auch die IG Metall, die erst jüngst ihre jährliche IT-Gehaltsstudie veröffentlicht hat. Doch die Gewerkschaft kann keinen Fachkräftemangel erkennen. Wäre er ein Faktum, sagt Juan-Carlos Rio-Antas, im Vorstand der IG Metall für die IT-Branche zuständig, „müssten die Entgelte deutlich stärker steigen, als sie es tun“.
Eindeutiges Zeichen für ein zunehmendes Angebot an Fachkräften, so Rio-Antas, seien die in jüngster Vergangenheit gestiegenen Einstellungsquoten. Für den Soziologen Boes ist der angebliche Fachkräftemangel vor allem ein Problem des Mittelstandes. Viele kleine und mittlere Unternehmen blieben allein wegen ihrer nachteiligen regionalen Lage auf der Strecke. Erschwerend hinzu komme eine Personalpolitik, die „über 50-Jährige tendenziell durch 30-Jährige ersetzen will, statt sie mit den Technologiesprüngen weiter zu qualifizieren“.
Vom Arbeitgeber zum Abschuss freigegeben
Einblick in den Arbeitsmarkt von Ingenieuren, angeblich nicht minder umworben als IT-Kräfte, gewährt die Outplacement-Beraterin Karin Sonn-Nußbaum. Ältere Ingenieure, von ihren Arbeitgebern zum Abschuss freigegeben, fängt sie auf und impft ihnen Zuversicht ein. Sofern sich ein Unternehmen gnädig erweist, vermittelt sie den Kandidaten in neue Arbeit. Ein ganzes Bündel an Gründen erklärt laut der Beraterin, warum es so kompliziert ist, dass Arbeitssuchende und Arbeitgeber zusammenkommen. Erstens: zu hohe Erwartungen seitens der Arbeitgeber. Ein Kandidat müsse ohne jeden Abstrich sofort produktiv sein.
Ein „Mismatch“, fehlende Passung zwischen Anforderungen und Bewerberprofil also, sei Sonn-Nußbaum zufolge die Ursache. Deshalb funktionierten auch Branchenwechsel nicht. „Arbeitgeber wollen unbedingt Anpassungsschulungen vermeiden.“ Genau das Gegenteil legt eine neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Unternehmen dringend ans Herz. Insgesamt müssten sie umdenken und auch ihre Ansprüche an Kandidaten herunterschrauben. Dass Eile geboten ist, bestätigt Personalberater Vesterling. Rund 500 Positionen könnten allein seine Auftraggeber kaum besetzen. „Zum Teil sind sie seit vielen Monaten offen.“
Weitere Hürden, wie das auseinanderklaffende Gehaltsgefüge zwischen Konzernen und Mittelständlern, erschweren laut Sonn-Nußbaum, dass Bewerber zum Zug kommen. Ältere Ingenieure tun sich demnach schwer, Abstriche zu akzeptieren, die sie bei einem kleineren Unternehmen unweigerlich hinnehmen müssten. „Monate gehen ins Land, ehe die von Arbeitslosigkeit gezeichneten Fachkräfte zum Kompromiss bereit sind“, sagt die Outplacement-Beraterin. Boes erklärt es so: „Für einen 50-Jährigen kann man bis zu zwei 25-Jährige einstellen.“
Kein Münchner geht nach Hamburg
Nächstes Problem: mangelnde Mobilität. „Kein Münchner geht nach Hamburg“, sagt Sonn-Nußbaum. Aus der Metropole in die Provinz zu wechseln, käme ohnehin nicht in Frage. „Erst wenn die Schmerzgrenze erreicht ist, wird Pendeln eine Option.“ Ein weiteres Problem ist das Alter. Es gebe genug ausgezeichnet qualifizierte Kräfte, die, wären sie in den dreißiger oder vierziger Jahren, problemlos eine neue Position fänden. „Ab 55 sind sie jedoch als unvermittelbar stigmatisiert.“ Der Jüngere sei einfach billiger und passe sich besser an. Die Erfahrung der Älteren würde nachrangiger gewertet.
Schließlich habe ein Klotz am Bein, wer nicht jeden Technologieschub durch zeitnahe Weiterbildung dokumentieren könne. „Zeugnisse können noch so gut sein“, erläutert die Beraterin. „Fehlen jedoch Zertifizierungen, etwa im Projektmanagement, senkt sich der Daumen.“ Niemand kaufe die Katze im Sack. Dringend appelliert Sonn-Nußbaum an Unternehmen, ihr Herz für ältere Fachkräfte zu öffnen, nicht zuletzt, weil es doch heißt, wir müssten künftig alle länger arbeiten. „Wegen des demografischen Wandels müssten mehr Firmen offen sein für Arbeitnehmer, die tatsächlich länger arbeiten wollen.“ Der demografische Wandel ist wie der Fachkräftemangel ein häufig verwendeter Begriff, hinter dem sich laut Boes nicht immer ein ernsthaftes Bemühen zeige. Man rechne Daten in die Zukunft hoch, unter sonst gleichen Bedingungen. „Dies blendet vollkommen aus, dass sich im Laufe der Zeit auch andere Einflussgrößen, wie die Produktivität, die Erwerbsbeteiligung oder die Migrationsbewegungen, verändern.“ Demografischer Wandel und Fachkräftemangel seien eher sich ständig reproduzierende Kommunikationsartefakte, eine Art „goldenes Kalb“, um das alle tanzten. Boes: „Es gibt Nahrung für die Legitimation vieler Interessen – je nachdem, was damit begründet werden soll.“
Ein hausgemachtes Phänomen
Daraus hat Nicole Mamier, Personalleiterin des SAP-Dienstleisters Realtec in Walldorf, ihre Lehren gezogen. Für sie ist der viel beschworene Fachkräftemangel ein „hausgemachtes Phänomen“. Würden sich Unternehmen ihrem jeweiligen Arbeitsmarkt, etwa in der IT-Branche, mit realistischen Erwartungen nähern, wüssten sie, dass gut ausgebildete SAP-Berater nicht „auf den Bäumen wachsen“. Würden sie hingegen klug in Ausbildung investieren, entstünde ein „Fachkräfte-Pool, aus dem bei Bedarf rekrutiert werden kann“.
Immer wenn Mamier auf jemanden trifft, der sich über Fachkräftemangel beklagt, erinnert sie daran, dass schon eine gewisse Portion Kreativität dazu gehört, will man erfolgreich Personal gewinnen. „Wir investieren in eine Art Erstausbildung, um später Absolventen und Quereinsteiger professionell in Projekten einsetzen zu können.“ Parallel hat Mamier das Recruiting aufgepeppt. Um die Erkenntnis, dass die IT-Branche ein Arbeitnehmermarkt sei, komme man nicht herum. Inzwischen spreche ein Recruiter im Arbeitsmarkt aktiv Kandidaten an und versuche gleichzeitig, Realtech als attraktiven Arbeitgeber bei den Zielgruppen zu bewerben.
Dass es Unternehmen nicht immer gelingt, sich aus eigener Kraft zu behaupten, will Autor Gaedt nicht verhehlen. Das Problem erweise sich vor allem bei der Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. „Nur 15 Prozent sind bereit, englischsprachige Kräfte einzustellen“, kritisiert er. Personalberater Vesterling teilt diese Beobachtung. Ein IT-Systemadministrator benötige keine stilsicheren Deutschkenntnisse. „Das sind Denkmuster von vorgestern.“
Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich stellen Behörden zu hohe Hürden auf. „Arbeitsagentur und Ausländerbehörden sind weit davon entfernt, eine Willkommenskultur zu praktizieren“, ärgert sich Gaedt über die vor anderthalb Jahren eingeführte Blue Card für Arbeitssuchende aus Nicht-EU-Ländern. In der Tat müssen Antragsteller bis zu fünf Monate warten. Vesterling: „Viele gut qualifizierte Bewerber lassen sich das nicht gefallen.“ Sie lassen den Wirtschaftsstandort einfach links liegen.
Autor
Winfried Gertz, freier Journalist, München
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