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Max Hollein versteht Führung kontextbezogen unterschiedlich - ganz im Sinne der Kontingenztheorie.
Max Hollein versteht Führung kontextbezogen unterschiedlich – ganz im Sinne der Kontingenztheorie.

Als Max Hollein im August 2001 Direktor der Frankfurter Kunsthalle
Schirn wurde, herrschte Skepsis, ob der österreichische Kurator mit
Anfang 30 seiner Aufgabe gerecht werden würde. Das verging: Als er sich
im Mai 2016, fünfzehn Jahre später, Richtung Kalifornien verabschiedete,
um künftig die Fine Arts Museums of San Francisco zu leiten, bereiteten
ihm die Stadt Frankfurt und die deutsche Kunstszene einen großen
Abschied. Mit welchem Führungsbegriff er seine Arbeit versieht, zeigt er
im Teil III unserer Serie „Besser führen“.

Wir haben unser Gespräch im Dezember 2012 geführt, in Max Holleins Büro im Frankfurter Städel-Museum. Er gewährte uns sehr schnell einen Termin, war aber dann – wie immer – sehr beschäftigt und völlig durchgetaktet. Wir bauten also unser Video- und Ton-Equipment auf, während er noch in Gesprächen war, und gleich nach dem Interview musste er uns auch wieder verlassen, um einer Gruppe von Stiftern eine exklusive Führung durch das Städel zu geben – eine Aufgabe, die Max Hollein in Frankfurt von Beginn an gerne übernommen hatte, um eine enge Verbindung zu potenziellen Spendern aufzubauen. Hollein hat als Kunsthistoriker und Betriebswirt immer beide Perspektiven im Auge gehabt und diese für Frankfurt sehr fruchtbar einsetzen können.

Eine Frage, mit der ich in fast alle Führungsinterviews eingestiegen bin, ist, ob der jeweilige Gesprächspartner selbst (noch) Führung braucht. Oft konnte ich mit Personen sprechen, die hohe und höchste Ämter und Funktionen innehatten – sei es als Vorstands- oder Aufsichtsratsvorsitzender, Oberbürgermeisterin oder Bundespräsident. Ich habe mich dabei immer gefragt, wer denn diesen Personen noch Führung im Sinne von Halt, Ratschlag oder konstruktiver Kritik bieten kann – und ob das überhaupt gewünscht war.

Die Antworten auf diese etwas provokante Frage „Brauchen Sie selbst Führung?“ fielen zweigeteilt aus. Die meisten Gesprächspartner – vor allem diejenigen aus Wirtschaft und Politik – antworteten mit einem klaren „Ja“ und nannten dann andere Menschen oder Gremien: die CEOs den Aufsichtsrat, die Politiker die Parlamente. Anders war es bei den Gesprächspartnern aus Kunst und Kultur. Von Günter Grass, Wolfgang Niedecken oder Ulrich Wickert wurde es zum Teil vehement abgelehnt, dass man selbst geführt werden müsse. Hier war der Tenor eher dieser: „Ich selbst brauche keine Führung, aber andere Menschen schon…“

Gute Kunst entsteht oft jenseits jeglicher Führung.

So war es auch bei Max Hollein. Als ich Hollein also fragte, ob er überhaupt Führung brauche, sagte er: „Ich glaube, wir führen uns selber am besten. Wir sind motiviert durch etwas, wir wollen etwas erreichen – auch gemeinsam mit anderen. Aber ich bin natürlich auch im Kunstbereich aktiv: ein Bereich, in dem viele Leute vollkommen ohne Führung leben oder agieren können. Gerade gute Kunst entsteht in der Regel jenseits jeglicher Führung.“ Wir halten fest: Max Hollein braucht – so seine eigene Wahrnehmung – für sich selbst und in seinem Tätigkeitsbereich keine Führung.

Dann kommt Hollein zum Thema Zusammenarbeit und zum Führungsbedarf der Mitarbeiter: „Auf der anderen Seite bedürfen große Projekte, wo es um das Zusammenwirken vieler Kräfte geht – nicht nur um Mitarbeiter, sondern auch um Dinge, die weit außerhalb des Betriebes liegen –, schon starker Führung. Und zwar betrifft die Führung nicht nur Personen, sondern auch Prozesse. Ich glaube, dass das sehr notwendig ist.“

Interessant hier ist nun weniger, dass Hollein meint, er selber brauche keine Führung, die Mitarbeiter aber schon, sondern, dass es ihm auf die Situation ankommt. Mit dem ersten Teil der Aussage beschreibt er künstlerische Prozesse, die ohne Führungskräfte auskommen, mit dem zweiten die Koordinierungsfunktionen, die eine Führungskraft bei großen Projekten übernehmen muss. Hollein vertritt hier im Prinzip eine Kontingenztheorie – in manchen Bereichen ist Führung (und er meint hier wohl die aufgabenorientierte Führung) unerlässlich, in anderen kann völlig auf sie verzichtet werden.

Max Hollein und die Kontingenztheorie

Mit dem Prinzip der „Kontingenz“ beschäftigt sich die Wissenschaft seit etwa einem halben Jahrhundert: Die erste Kontingenztheorie wurde von Fred Fiedler in den 1960er Jahren entwickelt. Zuvor hatte man vor allem die Eigenschaften der Führungskräfte (die Persönlichkeits- oder Eigenschaftstheorien) oder ihr Verhalten (die Verhaltenstheorien) untersucht und wollte herausfinden, welche Eigenschaften oder welches Verhalten denn erfolgreiche von weniger erfolgreichen Führungspersonen unterscheidet. Fred Fiedler sagte erstmals, dass es so einfach nicht ist und dass es auch auf die Umstände ankommt.

Fiedler unterschied – wie die Verhaltenstheoretiker auch – zwischen zwei grundsätzlichen Führungsstilen: der personenorientierten Führung und der aufgabenorientierten Führung. Die personenorientierte Führungskraft kümmert sich vor allem um die Bedürfnisse der Mitarbeiter und darum, dass es im Team harmonisch zugeht. Dem aufgabenorientierten Vorgesetzten sind solche Dinge weniger wichtig – er kümmert sich darum, dass die Aufgaben erledigt werden, indem ganz klare Ziele gesetzt werden und die Zielerreichung kontrolliert wird. Nach Fiedler ist weder der eine noch der andere Stil per se besser – vielmehr kommt es auf die Situation an. Wenn eine Führungskraft eine hohe Positionsmacht hat (er also belohnen und bestrafen kann wie im Militär oder in Unternehmen), wenn die Aufgabe ganz klar ist (wie am Fließband) und wenn die Beziehungen zwischen der Führungskraft und den Mitarbeitern allgemein gut sind, spricht Fiedler von hoher Situationskontrolle. Wenn die Aufgaben unklar sind, die Beziehungen nicht so gut und die Führungskraft nur über geringe Positionsmacht verfügt (beispielsweise  in Wahlgremien oder Freiwilligenorganisationen), ist die Situationskontrolle gering. Fiedlers These: In Situationen mit sehr hoher oder sehr niedriger Situationskontrolle sei es erfolgversprechender, wenn sich die Führungsperson auf die Aufgaben und weniger auf die Mitarbeiter konzentriert;  bei mittlerer Situationskontrolle sei besser, wenn sie sich um die Mitarbeiter kümmert. Eine ganze Reihe von Studien konnten diese Vorhersagen auch ganz gut belegen. Max Holleins Praxis scheint sich mit der Theorie ebenfalls zu decken.

Eigene Motivation führt zu Mitarbeitermotivation

Auf meine nächste Frage, wie er gute Führung definieren würde, sagte Max Hollein, gute Führungskräfte zeichne zunächst aus, „dass sie klare Ziele vorgeben, dass sie etwas gemeinsam erreichen wollen und das auch definieren können“. Hier erinnert seine Deutung wiederum an die Konzepte der transaktionalen und der transformationalen Führung. Transaktionale Führungskräfte führen sehr stark dadurch, dass sie ein Ziel vorgeben, die Erreichung der Ziele überwachen und dann die Mitarbeiter belohnen oder bestrafen, je nachdem, ob die Ziele erreicht sind oder nicht. Diese Art der Führung macht vermutlich den Großteil von Führung aus und in der Regel ist es auch genau das, was Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwarten und was in normalen Zeiten und alltäglichen Situationen ausreicht.

Weil man inhaltlich etwas erreichen will, weil man etwas gemeinsam voranbringen möchte.

Hollein sagt dann aber weiter, und damit beschreibt er zumindest Teilaspekte der transformationalen Führung, dass gute Führungskräfte „Begeisterung und Engagement hervorrufen können“ sollten. Das ist ein wichtiger Teilaspekt des Konzepts der transformationalen Führung von MacGregor Burns. Transformationale Führung besteht aus vier Elementen (die sogenannten vier „i“):

– den idealisierten Einfluss durch das Vorbild der Führungsperson,
– die inspirierende Motivation durch das Entwickeln und Vermitteln einer Vision,
– die intellektuelle Anregung der kreativen Fähigkeiten der Mitarbeiter
– und die individuelle Unterstützung der Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen.

Hollein meint vor allem das zweite „I“, das Mitnehmen der Mitarbeiter, indem man sie für ein großes Projekt begeistert. Er begründet dies damit, dass man mit transaktionaler Führung im Kunstbetrieb nicht immer besonders weit kommt, weil man es dort „mit einem Personal zu tun hat, das weniger aufgrund von monetären Anreizen hier ist, sondern weil es inhaltlich etwas erreichen möchte, weil es etwas gemeinsam voranbringen möchte“. Transformationale Führung ist also vor allem dort gefragt, wo Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inhaltlich und weniger durch Belohnung und Bestrafung zu erreichen sind.

„Fröhliche und fröhlichste Feiern“ als Belohnung

Eine weitere „Kontingenz“, also ein Umstand, von dem abhängt, welche Art der Führung effektiv ist, ist sicherlich auch die Kultur. Ich habe Hollein, der ja auch ein Wanderer zwischen der amerikanischen und der deutschen Kultur ist, gefragt, ob er in den USA Unterschiede wahrgenommen hat. Er sagt: „Ja, natürlich. Für mich waren die sechs Jahre in New York extrem prägend. Dazu gehörte besonders die Herangehensweise an Themen, die Idee: Do not take ‚no‘ for an answer. Das hat auch etwas mit Selbstbewusstsein zu tun. Also auf eine Frage eine negative Antwort zu bekommen und diese nicht zu akzeptieren, sondern die Frage umzuformulieren und es dann noch einmal und noch einmal zu versuchen.“

Wir sprachen auch über große Projekte, zum Beispiel eine damals bevorstehende (und dann sehr erfolgreiche) Jeff-Koons-Ausstellung, die von drei Kuratoren und über 50 Mitarbeitern jahrelang geplant wurde. Ich fragte ihn zum Schluss, ob es nach einer solchen Ausstellung auch einmal einen Tag frei für alle Mitarbeiter gebe oder gemeinsam gefeiert würde. Hollein lachte und sagte, nein, einen freien Tag gebe es nicht, „aber wir feiern sehr gerne. Das was wir tun, ist immer wieder mit fröhlichen und fröhlichsten Feiern verbunden. Jede Ausstellung wird oft bis früh morgens auch mit den Künstlern gefeiert“.

Theorien hin oder her – dies jedenfalls ist etwas, das Führungskräfte in anderen Bereichen aus der Kunst und Kultur lernen können: ihre Mitarbeiter nicht nur mit materiellen Anreizen oder zusätzlichen Urlaubstagen zu außergewöhnlichen Leistungen motivieren, sondern Erfolge auch regelmäßig gemeinsam zu feiern – und zwar richtig!

Das vollständige Gespräch zwischen Max Hollein und Rolf van Dick finden Sie › hier als Video.

Zur Person
Max Hollein ist seit Juni 2016 Direktor der Fine Arts Museums of San
Francisco. Zuvor war er ab 2001 Direktor der Frankfurter Kunsthalle
Schirn und ab 2006 auch Direktor des Städel und der Liebighaus
Skulpturensammlung.  Hollein wurde 1969 in Wien geboren. In seinem
Elternhaus – sein Vater war der
Avantgarde-Architekt und Designer Hans Hollein – gingen Künstler wie Claes Oldenburg oder Joseph Beuys ein und aus.
Hollein
studierte in Wien Betriebswirtschaft und Kunstgeschichte und war nach
Ende seines Studiums von 1995 bis 2000 in New York am Guggenheim Museum
unter anderem als Chief of Staff beschäftigt. Er hat verschiedene
wichtige Ausstellungen kuratiert, zum Beispiel war er Kurator des
amerikanischen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig 2000 und
Kurator des österreichischen Pavillons auf der Kunstbiennale Venedig
2005. Er hat in Frankfurt durch geschickte Verbindung von Kunst und
Wirtschaft viel bewegt. Dazu gehört der 2012
eröffnete Erweiterungsbau des Städel, für den er sich nie zu schade war,
in gelben Gummistiefeln Spenden zu sammeln.

Dieser Beitrag ist Teil III unserer Serie „Besser führen“. Teil I – im Gespräch mit Jürgen Fitschen – finden
Sie › hier und Teil II – im Gespräch mit Sahra Wagenknecht – finden Sie › hier.

Zum Autor:

Rolf van Dick lehrt Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, unter anderem am Center for Leadership and Behavior in Organizations (CLBO). In unserer aktuellen Serie „Besser führen“ präsentieren wir seine Gespräche mit Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und anderen Bereichen.