Personalwirtschaft: Herr Werner, bei DM haben Sie bereits vor über 20 Jahren Ihren Teams in den Filialen Eigenverantwortung übertragen, die Kundenorientierung zum Leitmotiv gemacht, sich intensiv um die Entwicklung der Mitarbeiter gekümmert. Berater nennen das heute Holacracy, Customer Centricity oder Employee Experience – und Sie werden als hellsichtiger New-Work- Pionier gefeiert. Wie erleben Sie das?
Götz Werner: Die unternehmerische Attitüde ist natürlich, dass man sich angewöhnt, im Jetzt zu handeln, aber in die Zukunft zu denken. Mit Hellseherei hat das aber nichts zu tun. Antizipation kann man üben – ganz so, wie man sich intensiv mit der Wolkenbildung befassen und dann irgendwann das Wetter vorhersagen kann. Es geht darum, immer auf die Konstellationen zu achten und streng zu beobachten, wie und warum sie sich ändern. Und das dann für die Zukunft zu antizipieren.
Sie legen großen Wert auf Präzision im Beobachten und Benennen der Dinge. „Große Organisationen lassen sich nur mit Begriffen führen“, haben Sie in Ihrem Vortrag bei der New Work Experience betont. Wie meinen Sie das konkret?
Die Erkenntnistheorie besagt, dass die Wahrnehmung ohne den Begriff nicht zur Wirklichkeit kommt. Begriffe heißen Begriffe, weil wir mit ihnen die Welt begreifen. Das ist in Unternehmen genauso. Mein Vater – ich bin in der vierten Generation Drogist – sprach von seinen Angestellten immer als „Gefolgschaft“. Das ist ein ganz anderer Ton. Heute wäre so etwas unmöglich. So kann man Menschen nicht mehr führen. Die Menschen sind so individuell geworden, dass man Bewusstsein nur noch über Begriffe führen kann. Wenn man heute eine Gemeinschaft führen will, muss man zutreffende Begriffe finden.
Das haben Sie getan: Die Auszubildenden bei DM heißen etwa „Lernlinge“. Und statt von Personalkosten sprechen Sie von „Mitarbeitereinkommen“. Was entgegnen Sie Unternehmerkollegen, die bei diesen Begriffen den Kopf schütteln?
Wenn ich junge Menschen einbinden will, dann darf ich sie nicht Auszubildende nennen, weil das etwas ganz Passives ist. Wir wollen sie zum eigenverantwortlichen Lernen ermutigen und nicht belehren. Die Ausbildung wird zum Teil eines ganzheitlichen Bildungsgedankens. Und was den Begriff „Mitarbeitereinkommen“ angeht: Von Personalkosten zu sprechen, ist widersinnig. Mitarbeiter sind keine Kostenfaktoren! Sie ermöglichen vielmehr die zukünftige Leistung des Unternehmens. Das ist eine ganz andere Perspektive – eine, die motiviert und Sinn stiftet.
Es gibt einen Satz von Freiherr von Stein, den Sie gerne zitieren: „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.“ Viele Unternehmer würden das anders sehen.
Wenn man genau hinschaut, geht es nicht ohne Zutrauen. Es ist doch völlig widersprüchlich, einem Menschen beispielsweise eine Investition anzuvertrauen, ihm dann aber im gleichen Zug nichts zuzutrauen. Und dann zu meinen, man müsste ihn auf Schritt und Tritt kontrollieren. Eine Führungskraft muss heutzutage nicht mehr Direktor sein, sondern Evokator. Der Direktor weiß alles besser, gibt die Direktiven. Und der Evokator sucht nach den interessanten Fragestellungen, stellt die Vorgehensweisen infrage und muss nicht zwangsläufig die richtigen Antworten geben.
Stößt sich die Theorie da nicht an der Praxis? Gerade der Handel gilt als ein Bereich, in dem viele Führungskräfte den direktiven Ansatz wählen. Haben Sie es geschafft, in Ihrem Unternehmen Führungskräfte zu Evokatoren zu machen?
Wie heißt es so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel. Das ist aber kein Phänomen, das sich nur auf den Handel ausstreckt. Exzellenz erfordert besondere Anstrengung, in allen Bereichen. Und auch hier kommt es wieder auf die Begriffe an. Denken Sie an die Luftfahrt: Beim Start, wenn Sie nur schnell sein wollen, genügt der Schub. Wenn Sie dann aber abheben und fliegen wollen, brauchen Sie immer einen Sog. Es geht darum, nicht nur Schub zu geben, sondern einen Sog auszulösen.
Im Vortrag haben Sie von einer Mitarbeiterin berichtet, der es bei DM so gut gefalle, weil sie nichts verkaufen müsse. Nun ist DM Europas größte Drogeriekette – da klingt das etwas paradox.
Nein, sie hat es richtig erkannt. Unsere Kolleginnen und Kollegen müssen den Kunden nichts verkaufen. Sie hat mir berichtet, dass sie Freude daran hat, dem Kunden etwas Vernünftiges anzubieten, etwas, das ihm einsichtig ist und das sie nicht wegen irgendwelcher Bonussysteme verkauft. Das ist Kundenorientierung. Die Kollegin schaut nicht zum Vorgesetzten, sondern zum Kunden.
Viele Führungskräfte sind im ständigen Spagat zwischen dem nächsten Quartalsergebnis und langfristiger, nachhaltiger Werthaltigkeit. Wie gelingt dieser Spagat?
Das Gift sind die Budgets, also Zielvorgaben, die unter allen Umständen eingehalten werden müssen. Das dürfen Sie in einem Unternehmen nie haben. Auch die Begrifflichkeit spielt hier wieder eine Rolle. Wenn Sie den Begriff „Budget“ verwenden, kommt etwas ganz anderes dabei heraus, als wenn Sie sagen: Das ist unsere Perspektive. Davon abgesehen, kann es in einem ganzheitlich geführten Unternehmen Phasen geben, in denen man zu Lasten der Umsatzrendite wirtschaftet, wenn es der Nachhaltigkeit zuträglich ist.
Ihr positives Menschenbild spiegelt sich auch in Ihrem Engagement für das bedingungslose Grundeinkommen, für das Sie öffentlich engagiert werben. Im März wurde Ihr Buch „Einkommen für alle“ nach zehn Jahren neu aufgelegt. Damals war es ein Nischenthema, heute wird es breit diskutiert, und zwar längst nicht nur an WG- Küchentischen. Hätten Sie das gedacht?
Ich habe es gehofft. Der Anteil der Fürsprecher ist deutlich gestiegen. Das ist auch eine persönliche Bestätigung dafür, dass ich nicht danebenliege. Es ist ein Trend ausgelöst worden, der nun zu einer Pandemie werden muss.
Seit einiger Zeit schalten sich auch andere CEOs in die Debatte ein. Die scheinen aber teilweise einen anderen Blick auf die Dinge zu haben, da geht es eher um das Szenario „Digitalisierung frisst Arbeitsplätze“ und um die Erhaltung der Kaufkraft, wenn Millionen von Menschen plötzlich keine Jobs mehr haben. Sprich: Sie arbeiten zwar aufs gleiche Ziel hin, aber die Motive sind andere. Ist das für Sie dann trotzdem gleichwertige Unterstützung?
Mir ist jeder recht, der die Idee unterstützt, und die Idee ist so stark, dass sie auch andere Motive aushält. Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht umgekehrt. Die Gretchenfrage lautet: Ist der Mensch Mittel oder Zweck? Es ist im Grunde ja eine Idee, die in den letzten 500 Jahren immer wieder auftauchte, die aber heute durch unsere Produktivität finanzierbar wird. Wir müssen es nur neu denken: Das Grundeinkommen ist nicht die Belohnung für Arbeit, sondern die Ermöglichung von Arbeit. Es wird nicht ohne gehen! Es ist doch längst normal geworden, dass Menschen zeitweise keinen Erwerbsarbeitsplatz haben, dass ihre Berufe verschwinden oder deren Anforderungen sich radikal wandeln. Und überhaupt gibt es viele Tätigkeiten, die man gar nicht bezahlen kann, beispielsweise die Kindererziehung. Die Welt hat sich schon so verändert, dass das Grundeinkommen dazukommen muss, damit es künftig einigermaßen funktioniert.
Im Überblick |
---|
Unternehmer: Götz W. Werner, Jahrgang 1944, ist Gründer und Aufsichtsratsmitglied des Unternehmens DM (Unternehmensschreibweise: dm-drogerie markt), dessen Geschäftsführer er 35 Jahre lang war. Als Drogist in vierter Generation gründete er 1973 seine erste Drogerie in Karlsruhe, bereits fünf Jahre später gab es mehr als 100 Filialen. Heute erwirtschaften 59 000 Mitarbeiter in rund 3500 Filialen einen Umsatz von 10,3 Milliarden Euro, DM ist der größte Drogeriekonzern Europas. 2008 zog sich Werner aus dem operativen Geschäft zurück, 2010 brachte er seine Firmenanteile vollständig in eine gemeinnützige Stiftung ein. |
Visionär: Götz Werner ist bekennender Anthroposoph. DM setzt auf Initiative, Eigenverantwortung und persönliche Weiterentwicklung seiner Mitarbeiter. Bereits Anfang der 1990er-Jahre änderte Werner schrittweise die interne Organisationsstruktur, übertrug mehr Verantwortung an die Filialen, die heute selbst ihr Sortiment, ihre Dienstpläne, zum Teil auch Vorgesetzte und Gehälter bestimmen. Zudem wirbt Werner seit mehr als einem Jahrzehnt in der öffentlichen Debatte für das bedingungslose Grundeinkommen. Seine unternehmerische Leistung und sein politisch-soziales Engagement wurden vielfach ausgezeichnet. |
Autor: Anfang März ist nach über zehn Jahren die überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe von Götz Werners Buch „Einkommen für alle“ erschienen. Darin beschreibt er Einkommen als ein „Bürgerrecht“, das vor allem eines schafft: Freiheit. Werner bearbeitet das komplexe Thema allgemeinverständlich und ohne zu dozieren. Offensichtlich wird, wie sehr die Debatte in den zehn Jahren seit der ersten Veröffentlichung an Fahrt gewonnen hat – trotzdem dürfte der Untertitel „Die Zeit ist reif“ einigen Beobachtern als zu forsch erscheinen. Aus HR-Sicht bedauerlich (aus Lektorensicht aber absolut sinnvoll) ist, dass das Kapitel zur Führungs- und Unternehmenskultur bei DM weichen musste. |
Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.