Gerade in einem Unternehmen wie der Lufthansa, deren Kultur stark durch Sicherheit und damit Risikovermeidung geprägt ist, ist Veränderung eine große Herausforderung. Uns war von Anfang an klar, dass dies nicht von heute auf morgen gelingen kann, sondern dieser Transformationsprozess einer intensiven Begleitung bedarf. Eine Transformation, die dazu führt, dass unsere Mitarbeiter sich kontinuierlich weiterentwickeln, neue Kompetenzen erlernen und in der Lage sind, mit komplexen Sachverhalten umzugehen. Dies erfordert eine neue Art der Zusammenarbeit.
Der Strategieansatz
Bevor ich begonnen habe, eine HR-Strategie zu erarbeiten, habe ich formuliert, wofür ich persönlich als Arbeitsdirektorin stehe und was mich antreibt. Ich lege den Fokus auf den Menschen und bin davon überzeugt: „Jeder will gesehen werden“ und jeder ist wichtig in seinem Beitrag zum großen Ganzen. Wir müssen jedem respektvoll und wertschätzend gegenübertreten – dies ist die Grundlage unserer Personalarbeit. Eine HR-Strategie gab es bei meinem Start nicht. Um mit den Mitarbeitern des Personalbereichs in den Dialog über den strategischen Ansatz zu treten und dabei schon ein bisschen Orientierung zu geben, habe ich mit meinem engsten Team ein Motto für den HR-Bereich entwickelt: „Zukunft denken, Neues wagen, Verantwortung leben.“ Dieses hat sich zwar nicht durchgesetzt, aber das Auseinandersetzen mit diesem Motto war wichtig.
„Zukunft denken“ hat zu folgenden Fragen geführt: Was brauchen wir jetzt für Führungskräfte, die die Zukunft gestalten? Welche und wie viele Mitarbeiter brauchen wir wann und wo? Welche Anforderungen stellt der Nachwuchs an uns als Arbeitgeber? Welche Anforderungen haben unsere aktuellen Mitarbeiter an das Unternehmen?
Mit „Neues wagen“ war ganz klar das Thema Fehlerkultur adressiert. In jeder Veranstaltung im Jahr 2013 habe ich gesagt: „Die Zeit der langen Konzepte ist vorbei. Wir müssen wegkommen vom Reaktiven zum Agilen.“ Damals war das für Lufthansa eine argwöhnisch betrachtete Äußerung, da man es aufgrund der Sicherheitskultur gewohnt war, so lange an dem Konzept zu arbeiten, bis man sicher war, dass es auch greift. Klar war, dass wir auch schwierige Themen angehen müssen, was in früheren Jahren eher vermieden wurde.
Auf zwei Handlungsstränge haben wir uns daher zunächst in der HR-Strategie fokussiert: Kultur und Führung sowie moderne Arbeitswelten. Beide Themenfelder müssen kontinuierlich weiter vorangetrieben werden. Es ist kein Ende in Sicht! Wie es wahrscheinlich in jedem Großkonzern der Fall ist, werden immer wieder neue Charts produziert, um die Strategie zu erklären. Meine Erfahrung ist allerdings: Am Ende geht es um das Tun. Nur wenn Maßnahmen initiiert und wirksam umgesetzt werden, sind Strategien lebendig und nachvollziehbar. Dabei gilt es eines immer wieder zu bedenken: Auch wenn Maßnahmen schnell umgesetzt werden, wird ihre bezweckte kulturelle Wirkung erst deutlich zeitverzögert eintreten. Daher ist mir das Arbeiten mit dem Dreieck „Strategie, Kultur und Struktur“ so wichtig. Es ist immer wieder notwendig, durch strukturelle Maßnahmen zu intervenieren, die in der Regel schneller zu Verhaltensänderungen führen. Unser Arbeitsprogramm lässt sich in drei Phasen aufteilen, die aufeinander aufbauen: Waking up, Modernizing, Looking ahead.
Stärken mit Kehrseite
Lufthansa ist mir von Anfang an als ein weltoffenes Unternehmen begegnet. Die Mitarbeiter haben zudem eine sehr hohe Verbundenheit zu unserem Unternehmen und gehen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Diese starke Verbundenheit gab es auch im Bereich des Managements. Einmal Lufthansa, immer Lufthansa – oder anders formuliert: „Lieber unglücklich bei Lufthansa, als glücklich woanders.“ Es war lange Zeit nicht erwünscht, Lufthansa zu verlassen. Die starke Verbundenheit und das branchenimmanente Sicherheitsbewusstsein sind einerseits ausgeprägte Stärken, sie haben aber auch ihre Kehrseiten, die eine 2011 durchgeführte Studie mit folgenden Attributen beschrieben hat: unbeweglich, risikoaversiv, ängstlich. Hinzu kam ein ausgeprägtes Silo- und Hierarchiedenken.
Neue Führungskultur
Womit haben wir begonnen? Der erste Auftrag an die Organisation war es, aufzuschreiben, warum wir bei Lufthansa eine neue Führungskultur brauchen. Im Mittelpunkt unserer HR-Strategie stand die bereits erwähnte Überzeugung, dass jeder gesehen werden möchte. Das bedeutet nicht, dass jeder im Scheinwerferlicht stehen möchte. Aber jeder Mensch möchte etwas Sinnvolles tun, dafür respektiert und wertgeschätzt werden. Hierauf muss Führung eingehen. Auf dieser Grundlage, unserer sogenannten Leadership- Story, sind alle Maßnahmen aufgebaut. Das Erste, was wir umgesetzt haben, war ein neuer Besetzungsprozess. Schon seine Konzeptionsphase von Oktober bis Dezember 2012 war eine erste kulturelle Intervention: War es bis dahin bei Lufthansa üblich, dass Treffen nur mit den jeweiligen Peers auf gleicher Hierarchiestufe stattfanden, habe ich hierarchieübergreifende Workshops über alle Geschäftsfelder hinweg durchgeführt. Innerhalb von zwei Monaten hatten wir ein Ergebnis vorliegen und konnten Anfang April 2013 – allen Widerständlern zum Trotz – mit der Umsetzung beginnen. Die Veränderungen betrafen zuerst unsere Führungskräfte der zweiten Ebene (circa 250) und wurden dann auf die Führungskräfte der dritten Ebene (circa 800) ausgerollt. Damals sprach man noch nicht von „agil“, aber unsere Vorgehensweise war genau das: anfangen, aus Fehlern lernen, den Prozess anpassen.
Eine wichtige Grundlage für unsere Besetzungen bilden unsere Leadership-Principles, die wir aus der Leadership- Story abgeleitet haben. Wir wollten weg von den 21 Kompetenzbeschreibungen, die sich keine Führungskraft merken konnte, und zudem die transformationalen Aspekte von Führung verstärken. Nach mehreren Interviewphasen mit Führungskräften haben wir uns auf fünf Prinzipien verständigt.
Hierarchien abbauen und beweglich bleiben
Zur Einführung der Leadership-Principles in die Organisation haben wir zum einen umfangreiche Trainings angeboten, was ich allerdings auf die Art und Weise nicht wiederholen würde. Zum anderen wurden im Rahmen der Einführung der Leadership-Principles alle Führungs- und Vergütungsinstrumente auf den Prüfstand gestellt und neu ausgerichtet.
Eine weitere Maßnahme nach der Einführung der Leadership-Principles war die Rotation-Policy, wonach Führungskräfte spätestens nach fünf Jahren eine andere Position übernehmen sollten, um neue Perspektiven kennenzulernen. Beweglichkeit sollte aber nicht nur das Motto für die Führungsmannschaft sein. Es war und ist uns wichtig, dass sich all unsere Mitarbeiter beschäftigungsfähig halten. Begleitend zu unseren Abbauprogrammen haben wir frühzeitig mit „Compass“ ein Programm eingeführt, das die Mitarbeiter unterstützen soll, sich beruflich zu orientieren und über Perspektiven gegebenenfalls auch außerhalb der Lufthansa nachzudenken. Von Anfang an hat uns neben der Beweglichkeit die Frage umgetrieben, die sich sicherlich jedes traditionsreiche Unternehmen stellt: Wie lösen wir die ausgeprägte Hierarchiedenkweise auf? Einen großen Schritt voran gebracht hat uns die Einführung eines New Workspace. Die Führungskräfte sitzen nun nicht mehr abgeschirmt in eigenen Büros, sondern mittendrin – sie haben kein eigenes Büro mehr. Dies hat zu viel mehr Nähe und intensiverem Kommunikationsverhalten geführt.
Jeder hat Talent
Nachdem der Start des Veränderungsprozesses geschafft war, lag der Schwerpunkt der nächsten Phase auf unseren Vergütungs- und Führungssystemen. Nach wie vor kontrovers diskutiert wird unsere Talentphilosophie, die in den Jahren 2014 und 2015 entstand. Wir haben uns für einen weiten Talentbegriff entschieden: „Jeder hat Talent“. Wenn wir heute den Talentbegriff verwenden, so wird bei uns oftmals wieder nur auf eine kleine Gruppe geschaut: Talente für Führung. Damit fühlen sich aber diejenigen ausgegrenzt, die nicht darunter fallen. Doch das können wir uns nicht leisten. Alle müssen wissen, was von ihnen erwartet wird, und brauchen ein regelmäßiges und differenziertes Feedback.
Mit der Einführung unseres neuen digitalen Tools „Profile“ für administrative Mitarbeiter im Jahr 2015 haben wir den Prozess der Zielvereinbarung mit dem Prozess der Performance- und Potenzialbeurteilung verbunden. Gleichzeitig haben wir von der Papiervariante hin zur digitalen Variante gewechselt, was eine Herausforderung war. Jedes Jahr entwickeln wir das Tool weiter. Allerdings werden seine Funktionalitäten nach wie vor nur von wenigen Führungskräften und Mitarbeitern umfassend genutzt. Wir sind also noch nicht bei einer benutzerfreundlichen Lösung angekommen.
Neues Bonussystem
Für ebenfalls viel Unruhe hat die Umstellung unseres Bonussystems gesorgt, was für mich das Musterbeispiel einer strukturellen Intervention ist. Bereits 2012 habe ich versucht, den individuellen Bonus abzuschaffen und nur noch das Unternehmensergebnis als Berechnungsgrundlage heranzuziehen. Warum? Erstens: Es gibt in der Regel keine messbare Einzelleistung. Zweitens: Die durchschnittliche Zielerreichung lag konstant bei 120 Prozent. Eine Differenzierung fand quasi nicht statt. Dafür aber war der Prozess sehr aufwendig – insbesondere für den Personalbereich. Erst nach zwei Jahren intensiver Auseinandersetzung ist es mir gelungen, meine Vorstandskollegen von der Umstellung zu überzeugen. Da wir zu diesem Zeitpunkt auch das Handeln als Lufthansa Group stärken wollten und die Einführung einer Matrixorganisation beschlossen hatten, haben wir bei der Berechnung den Konzernanteil auf 70 Prozent und damit den Geschäftsfeldanteil nur auf 30 Prozent festgelegt. Diese Entscheidung ist damals bei der Mehrzahl unserer Führungskräfte auf großen Widerstand gestoßen. Aufgrund der sehr guten Konzernergebnisse gibt es hierzu gegenwärtig allerdings keine Diskussion.
Einführung einer Matrixstruktur
Nach der jahrelang dezentralen Ausrichtung der Lufthansa Group war bei der Einführung der Prozessorientierung und der Matrixstruktur ein großes Umdenken notwendig. Im Personalbereich sind wir auf einem guten Weg. Die Abstimmungsprozesse sind in der Matrix tatsächlich komplexer. Wenn aber eine Entscheidung getroffen ist, dann wird sie auch einheitlich umgesetzt. Gleichzeitig mit der Matrixorganisation haben wir eine neue Führungsstruktur eingeführt mit dem Ziel, eine Hierarchieebene und 15 Prozent der Positionen abzubauen. Die Gleichzeitigkeit des Vorgehens hat einerseits zu einer großen Unruhe und Unsicherheit geführt. Auf der anderen Seite hat die Neuorganisation ohnehin dazu geführt, dass wir die Mehrzahl der Stellen neu ausschreiben mussten. Meine Mannschaft hat hier gemeinsam mit der Konzernorganisation hervorragende Arbeit geleistet. Über 800 Stellen wurden neu bewertet, 350 Stellen ausgeschrieben und diese nach 1200 Interviews neu besetzt, am Ende waren über 200 Positionen abgebaut. Ausgehend von der vorher quasi nicht vorhandenen Fluktuation lagen wir 2017 bei nahezu zehn Prozent.
An die neue Führungsstruktur musste die Vergütungsstruktur angepasst werden. Und damit nicht genug: Zudem haben wir die Altersversorgung, zunächst für Führungskräfte, umgestellt und über 700 Vertragsanpassungen vorgenommen. Mit den Führungskräften zu beginnen, war ein wichtiges Signal für die parallel stattfindenden Tarifverhandlungen mit allen drei Gewerkschaften. Bei diesen vielen Veränderungen für unsere Führungskräfte war die aktive Begleitung sowohl in Hinblick auf das neue Führungsverständnis als auch auf die Matrix der entscheidende Erfolgsfaktor. Zudem waren wir fortwährend mit Tarifkonflikten konfrontiert. Letzten Endes ist es mit allen drei Gewerkschaften gelungen, unsere Altersversorgungssysteme umzustellen.
Talentinitiativen und Diversity
Während der Phase der Tarifauseinandersetzung sind externe Nachwuchsprogramme und interne Talententwicklungsprogramme vernachlässigt worden. Da es bei Lufthansa seit über 15 Jahren immer wieder Einstellungsstopps gab, ist keine gezielte Nachwuchsplanung auf der Grundlage von Zahlen, Daten und Fakten erfolgt. Deshalb haben wir diese Problematik in den Jahren 2017 und 2018 als eines der strategischen Topthemen für den Konzern definiert. Es ist in kurzer Zeit gelungen, unsere Talentinitiativen zu erweitern und sie auch prominent zu vermarkten. So haben wir unser neues Programm „Makers of Tomorrow“ mit einer groß angelegten Kampagne auf der ganzen Welt mit Erfolg veröffentlicht. Ein negativer Effekt dabei ist, dass einige unserer Führungskräfte ab 40 Jahren den Eindruck haben, sie hätten keine Chance mehr und würden nicht mehr gebraucht. Hier müssen wir gezielt kommunikativ gegensteuern.
Interessant sind in dieser Hinsicht auch Kollegen, die die Lufthansa verlassen haben und später wiederkommen.
Mir kam schon zu Beginn meiner Tätigkeit die Idee des Alumni-Clubs, um klarzumachen: Man ist kein „Verräter“, wenn man geht, und man kann wiederkommen.
Das hat zu Beginn zu großer Irritation und Unverständnis geführt. Mittlerweile ist es zur Normalität geworden. Deshalb konnten wir nicht nur im Jahr 2017 mit unserem Alumni-Netzwerk starten, sondern bis heute bereits zwei Konferenzen speziell für unsere Ehemaligen durchführen.
Das, was wir bei Lufthansa brauchen, ist Vielfalt. Wir benötigen einen guten Mix aus Menschen aller Altersstufen, Nationalitäten, Geschlechter und Erfahrungen. Deshalb haben wir bei der Einführung der Matrix auch einen Verantwortlichen benannt, der sich um den Prozess der Internationalisierung kümmert. Natürlich haben wir auch das Thema Frauenförderung im Fokus. Wir greifen dabei auf klassische Ansätze wie Mentoring, Frauenentwicklungsprogramme und Shared Leadership zurück.
Digitalisierung betrifft alle
Über 15 Jahre wurde in den Bereich HR-IT-Landschaften nicht investiert, mit dem Argument, dass das Kerngeschäft Vorrang habe. Es ist uns aber dennoch gelungen, das Geld für eine Erneuerung zu erhalten. Für uns war und ist das eine hervorragende Chance, ein ganzheitliches Arbeitsmodell für unsere Personalarbeit zu schaffen. Mit der Erneuerung unserer HR-IT können wir den Erwartungen unserer Kunden besser begegnen. Deshalb müssen wir uns als Personalbereich mit unserer neuen Rolle im digitalen Umfeld auseinandersetzen und verändern. Hier sind wir noch am Anfang des Weges. Neben der Transformation des eigenen Bereichs haben wir die Aufgabe, die Belegschaft insgesamt auf die schnellen Veränderungen vorzubereiten. Gute Impulse hierfür habe ich bei meinem Besuch im Silicon Valley Anfang 2017 erhalten. Dieser hat mich darin bestärkt, nicht nur neue Arbeitswelten und -methoden zu predigen, sondern sie in meinem unmittelbaren Umfeld erlebbar zu machen.
Im Jahr 2017 habe ich daher die Entscheidung getroffen, mein Büro aufzugeben und den kompletten Vorstandsflügel umbauen zu lassen. Alles sollte beweglich sein – ein Flur der Begegnung und des agilen Arbeitens war das Ziel. Diese kleine strukturelle Intervention hatte einen erheblichen Einfluss auf die Organisation: Agilität, Nahbarkeit und Kollaboration sind keine leeren Worthülsen mehr.