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Grading 4.0

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Die Frage im Untertitel lässt sich klar mit „jein“ beantworten. Kurzum, Grades, Levels und Bänder spielen nach wie vor eine bedeutende Rolle. Einmal geschaffene Strukturen bilden eine Ordnungssystematik, wenn es darum geht, Gehaltsbandbreiten zu steuern, Bonuspotenziale oder Benefits zu differenzieren oder Entwicklungswege zu veranschaulichen. Es kommt vor allem auf das Wie der Ausgestaltung an.

 

Die analytische Bewertung von Einzelfunktionen auf der Basis aufwendig gefertigter, detaillierter und in einer sich ständig verändernden Arbeitswelt niemals aktueller Stellenbeschreibungen gehört in die Mottenkiste veralteter HR-Prozesse. So hat sich selbst in ingenieursgetriebenen Unternehmen herumgesprochen, dass es nicht mehr zweckmäßig ist, Wertigkeiten für einzelne Funktionen akribisch genau zu ermitteln und zur Abstimmung zu bringen und sie anschließend in breiten Bändern zusammenzufassen. Spätestens bei der nächsten Umorganisation müssen neue Stellenbeschreibungen erstellt und Neubewertungen durchgeführt werden.

 

Vieles läuft in Unternehmen im Zusammenhang mit Grading nicht rund. Das Management im Geschäft erkennt oft die Notwendigkeit nicht oder trägt einzelne Ergebnisse nicht mit. Das kann verschiedene Gründe haben:

  • Das Grading reagiert zu träge auf organisatorisch notwendige Anpassungen von Unternehmenseinheiten wie die Zusammenlegung oder Aufspaltung bestimmter Geschäftsfelder oder die Integration neuer Einheiten nach Übernahmen. Die Trägheit ist häufig in unklaren Prozessabläufen, spätem Involvement der HR-Verantwortlichen oder Gradingmethoden begründet, die sich nicht pragmatisch anwenden lassen.
  • Die Prozesse im Zusammenhang mit dem Grading, die HR aufgesetzt hat, werden als zu bürokratisch angesehen, und es besteht wenig Verständnis für den Zeitaufwand im Verhältnis zum Ergebnis. Das Business nimmt ohnehin häufig das Ergebnis vorweg, indem es mit Nachdruck erwartete Gradingvorstellungen auf der Basis einer pauschalen Einschätzung verteidigt oder gar vorab kommuniziert und HR bestenfalls die Aufgabe übernimmt, diese zu substantiieren.
  • Strukturen, die im Laufe der Zeit etwa aufgrund vereinzelter funktionsunabhängiger Mitarbeiterzuordnungen verzerrt oder aufgeweicht wurden, unterminieren die Glaubwürdigkeit von Systemen dauerhaft.
  • Grading nimmt eine überbordend hohe Bedeutung ein und überlagert sogar das Leistungsprinzip. Im Bestreben, im Unternehmen voranzukommen, eine höhere Vergütung zu erzielen oder den Sprung zu einem attraktiveren Benefitpaket zu nehmen, ist dann der vertikale Aufstieg wichtiger als nachhaltig gute Performance in der Funktion oder eine Herausforderung in einer neuen Funktion auf gleichem Level.
  • Mit der Überzeichnung vertikaler Karrierewege wird der Anreiz für die so wichtigen Rotationen deutlich geschwächt, bei denen Mitarbeiter Erfahrungen in unterschiedlichen Jobs – durchaus auch auf gleicher Ebene – sammeln und sich weiter qualifizieren.
  • Expertenrollen und die immer wichtiger werdende Arbeit in Projekten werden in den Systemen nicht adäquat abgebildet. Zwar sind Expertenlaufbahnen oftmals grundsätzlich angelegt, aber eine echte Expertenkarriere und die Motivation, in die Projektarbeit unter Aufgabe einer Linienfunktion als Heimathafen einzusteigen, sind im Businessalltag selten. Vor dem Hintergrund zunehmenden Fachkräftemangels ist das kein Plus für ein Unternehmen in punkto Rekrutierung und Bindung entsprechender Mitarbeiter.
  • In jungen Unternehmen oder den Einheiten der „jungen Wilden“ in den Großunternehmen, die eher den Charakter eines Start-ups haben, wird Funktionsbewertung wie ein Dinosaurier angesehen, altmodisch, behäbig, hierarchisches Denken stärkend und viel zu unflexibel, um sich schnell auf verändernde Marktbedingungen und Organisationen einzustellen.
  • Grading ist weder inhaltlich noch prozessual mit anderen Führungsinstrumenten verzahnt und wird als zeitaufwendige Stand-alone-Lösung wahrgenommen.
  • Es werden Bewertungsverfahren mit üblichen Standardkriterien angewendet, die nicht oder nur ungenügend zum Geschäft des Unternehmens und seiner Kultur passen. Somit entgeht der Unternehmensleitung die Chance, gewünschte Werte zu transportieren.

Dies sind Beispiele von Fehlentwicklungen. Nicht selten treffen sogar mehrere Aspekte auf ein Unternehmen zu.

 

Welche Relevanz hat Grading im HR-Instrumentenkasten?

 

Grades bilden Strukturen ab und schaffen einen Ordnungsrahmen. Ab einer bestimmten Unternehmensgröße sind geordnete Strukturen nach wie vor zeitgemäß. Sie sind kaum verzichtbar als Basis, um Rahmenbedingungen wie Gehaltsstrukturen, Bonuspotenziale, Karriereschritte und Benefitleistungen auch über Grenzen von Einheiten hinweg transparent zu regeln. Mit der Etablierung und Pflege dieses Ordnungsrahmens wird möglicherweise auch personenbezogenen Einzelfallentscheidungen entgegengewirkt. So spielt im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Entgeltgleichheit in Deutschland eine Struktur auf der Basis einer nachvollziehbaren Systematik eine wichtige Rolle. Performance-Management als Grundlage individueller Vergütungsentscheidungen sollte jedoch im Rahmen der HR-Angebote mindestens einen gleich hohen Stellenwert einnehmen. Gelegentlich entsteht der Eindruck, Unternehmen beschäftigten sich aufgrund häufiger Umstrukturierungen dauerhaft mit der Einwertung von Funktionen und der Kommunikation veränderter Vergütungs- und Benefitstrukturen. Dem Umgang mit Engagement und Performance der Mitarbeiter wird dabei oft eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Im Strauß der HR-Beiträge zum Erfolg eines Unternehmens erzielen diese Themen sowie die Sicherstellung der nachhaltigen Verfügbarkeit von talentiertem Personal einen höheren Beitrag zum Unternehmensergebnis.

 

Wie kann Grading vor diesem Hintergrund erfolgreich und mit einem spürbaren Mehrwert durchgeführt werden?

  • Grading muss pragmatisch erfolgen. Die gewählte Methodik muss eine schnelle Bewertung oder Zuordnung erlauben und nicht den mit Umorganisationen bedeutsamen Changeprozess unnötig verlängern. Das setzt ein pragmatisches Verfahren, klare Prozesse, ein modernes, unterstützendes IT-Tool sowie das konstruktive Mitwirken der Beteiligten voraus. Zudem reicht zumeist eine summarische Zuordnung aus, zumindest dann, wenn erst einmal eine Grundstruktur besteht.
  • Die Anzahl der Grades und damit die Granularität der Ergebnisse sollten nicht von der eingesetzten Methodik abhängen, sondern von den verbundenen Führungs- und HR-Instrumenten. Sie sollten bereits im Vorfeld vom Grading – sei es über ein analytisches oder ein Zuordnungsverfahren – festgelegt werden.
  • Oft begründet HR die Notwendigkeit eines Gradings mit dem Bedürfnis, eine vergleichbare Basis für externe Vergütungsbenchmarks zu schaffen. Das geht so weit, traditionelle Standardbewertungssysteme zu bevorzugen, die auch in vergleichbaren Unternehmen angewendet werden. Dabei wird verkannt, dass es sich um eine Scheingenauigkeit handelt, denn Funktionen und Grades lassen sich über Unternehmensgrenzen hinweg schwer vergleichen.
  • Grading steht mit dem Wunsch einer modernen Organisation, agil aufgestellt sein zu wollen, vor ganz neuen Herausforderungen. So muss es schnell auf sich verändernde Organisationseinheiten reagieren können. D. h., die angewandte Methodik muss vereinfacht, gegebenfalls müssen Funktionen durch Rollen ersetzt werden. Sie können generisch und allgemeinverständlich beschrieben werden und erlauben so einen einfachen Quervergleich im Unternehmen. Darüber hinaus sollten nur Systeme mit benutzerfreundlichen Tools eingesetzt werden, die mit dem Gradingprozess verbundene Workflows unterstützen. In agilen Organisationen sollen Teams unabhängig von bestehenden Strukturen und Hierarchien übergreifend zusammenarbeiten. Im Zusammenhang mit Projekten ist das keine völlig neue Angelegenheit. Wenn jedoch nach Erledigung einer Projektarbeit gleich die Anschlusstätigkeit in einem weiteren Projekt winkt oder in unterschiedlicher Konstellation verschiedene Aktivitäten parallel laufen und dies auch in vielen Unternehmensbereichen geschieht, wird die klassische Linienorganisation zunehmend aufgeweicht. Die erforderlichen Kompetenzen spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, die in traditionellen Wertigkeitssystemen nicht adäquat abgebildet werden.
  • Auch die Ableitung klassischer hierarchischer Karrierepläne, die nur Entwicklungswege nach oben aufzeigen und aufgrund immer weniger Stellen auf höheren Karrierestufen eher Illusionen suggerieren bzw. Frustration erzeugen, hat ausgedient. In vielen Unternehmen werden heute horizontale Bewegungen gefördert. Gefragt sind nach einer bestimmten Zeit in einer Funktion Rotationen, auch mit dem Ziel, neue Erfahrungen zu sammeln. Darüber hinaus ist weitergehendes Wissen aufgrund zusätzlicher Qualifikationen gefragt. Durch die starke Betonung von Bewertungsergebnissen wird das Augenmerk auf den vertikalen Aufstieg im Unternehmen gelenkt. Das geht teilweise so weit, dass dem Begehren, im Gradingsystem aufzusteigen, höheres Gewicht beigemessen wird als nachhaltiger Performance. Performance sollte stärker im Vordergrund stehen als die Frage, wie erreicht werden kann, eine höherwertige Position zu erzielen, oder gar, dass bestimmte Funktionen höher bewertet werden.
  • Die Einbettung in den Strauß der Führungs- und HR-Instrumente sollte im Vorfeld des Gradingprozesses diskutiert und festgelegt werden. Die Instrumente sollten nicht nur einfach nebeneinander eingesetzt werden, sondern inhaltlich so konzertiert sein, als wären sie aus einem Guss. Das erhöht nicht nur das Verständnis von Führungskräften und Mitarbeitern, sondern birgt eine weitere Chance:
  • Mit dem Einsatz eines Gradingsystems im Unternehmen lassen sich Botschaften über bestimmte Werte transportieren und bei den Mitarbeitern verankern. Es ist von großer Bedeutung, welche Anforderungen ein Unternehmen an Funktionen stellt und welche Kompetenzen es von Führungskräften und Mitarbeitern erwartet. Das setzt voraus, dass bestimmte Anforderungen, wie etwa Leadership Competencies, die ein Unternehmen an Führungskräfte formuliert, auch in der Bewertung von Führungsfunktionen reflektiert werden. Da bietet es sich an, mit Hilfe eines maßgeschneiderten, aber pragmatischen Ansatzes diese Werte zu transportieren und bei der Bewertung die Relevanz für das Unternehmen zu berücksichtigen.

Fazit

 

Grading und Grades sind nach wie vor nützlich. Es sollte ein moderner und pragmatischer Ansatz, der die speziellen Anforderungen einer agilen Organisation berücksichtigt, mit angemessener Granularität der Ergebnisse gewählt werden. Das Streben nach höherwertigen Grades mit entsprechendem Vergütungsanstieg und besseren Benefits sowie aufgezeigte Entwicklungswege dürfen nicht den Anreiz zu nachhaltiger Performance überlagern. Auf die Integration in das HR- und Führungsinstrumentarium ist viel Wert zu legen. Auch ist die Chance zu nutzen, mit einem maßgeschneiderten Ansatz die wichtigen unternehmensspezifischen Werte zu transportieren.

 

Frank E. Hoyck,

Geschäftsführender Gesellschafter/Managing Partner

Hoyck Management Consultants GmbH

f.hoyck@hoyck.com

www.hoyck.com

 

Annette Rudolph,

Manager

Hoyck Management Consultants GmbH

a.rudolph@hoyck.com