Auf den ersten Blick wirkt der Trend positiv: Die Zahl der offenen Stellen in MINT-Berufen ist im ersten Quartal zurückgegangen: um ganze 15,6 Prozent auf 148.200. Das zumindest zeigt eine jüngste Untersuchung des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI). Zu große Hoffnung, dass damit die Branche zukünftig dem Fachkräftemangel ganz entkommen könnte, sollten sich HR-Expertinnen und Experten allerdings nicht machen. Denn warum die Zahl zurückgegangen ist, könnte unterschiedliche Gründe haben: Zuwanderung ausländischer Fachkräfte, eine gestiegene Zahl von Frauen in den Ingenieurberufen oder auch nur die schwache konjunkturelle Lage in Deutschland.
„Der Rückgang ist sicherlich auch auf die wirtschaftliche Situation zurückzuführen, in der Unternehmen mit Neueinstellungen zurückhaltend sind“, sagt VDI-Direktor Adrian Willig bei einer Pressekonferenz. Außerdem ist der jährliche Wertschöpfungsverlust, der durch die unbesetzten Stellen entsteht, trotz des Rückgangs mit 9 bis 13 Milliarden Euro sehr hoch, so Willig.
Um dem Fachkräftemangel also entgegenwirken zu können, braucht es sowohl mehr ausländische Fachkräfte als auch Frauen in den MINT-Berufen. Aber, das findet Willig, Deutschland muss auch mehr tun, um junge Menschen für technische Berufe zu begeistern.
Sprachbarriere und Bürokratie schrecken ab
Seit 2012 ist der Anteil ausländischer Ingenieure und Ingenieurinnen, die in Deutschland arbeiten, um 11 Prozent gestiegen. Die meisten von ihnen kommen, so der VDI, aus Indien, der Türkei, Italien, China, Frankreich und Spanien.
Um sie in den hiesigen MINT-Arbeitsmarkt zu integrieren, ist es laut Willig essenziell, Integrationshürden abzubauen, vor denen ausländische Ingenieurinnen und Ingenieure in Deutschland stehen. Große Herausforderungen seien kulturelle Unterschiede, sprachliche Barrieren, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums und die vielen bürokratischen Hürden. Die Anerkennung von Berufsabschlüssen dauere beispielsweise zu lange und auch der Visaprozess sei oft nicht einfach. Willig glaubt, hier sei in erster Linie die Politik gefragt, die für schnellere Anerkennungsprozesse sorgen müsse.
Über diese Probleme berichtet Italo Costa Martins (32), ein Softwareingenieur aus Brasilien, der in Deutschland als Frontend-Engineer arbeitet. Er hat in Deutschland studiert und damit bereits einen Vorteil gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, die ihren Abschluss außerhalb der EU erlangt haben. Denn wie auch der VDI feststellt, kann der Anerkennungsprozess die Jobsuche verzögern.
„Deutsch ist auf jeden Fall das größte Problem, wenn man hier arbeiten will“, berichtet Costa Martins. Zwar würden viele Firmen online Deutschkurse für Mitarbeitende anbieten, allerdings seien an dieser Stelle auch HR-Abteilungen gefragt, um Angebote zu finden, die besser zu den Mitarbeitenden passen. Denn nicht jeder lernt in Sprachkursen am besten. Möglichkeiten wären unter anderem Sprach-Lernabende unter Kollegen und Kolleginnen oder kulturelle Events, schlägt Costa Martins vor.
Ein Kollege von Costa Martins, der ebenfalls zum Studium der Ingenieurwissenschaft nach Deutschland gekommen ist und anonym bleiben möchte, berichtet dasselbe. „Deutsch zu können, sollte keine Voraussetzung sein, um mit Behörden reden zu können“, sagt er. Er glaubt, Arbeitgeber könnten nach der Einstellung besser dafür sorgen, dass Deutsch gelernt wird als vorher in Sprachkursen. Die praktische Spracherfahrung würde es erleichtern, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden.
„HR-Abteilungen müssen auch bessere Wege finden, um die Erfahrung, die ausländische Mitarbeiter haben, bewerten zu können. Gerade für die, die nicht in Deutschland studiert haben“, glaubt Costa Martins. Bereits vor seinem Studium hatte er einige Jahre in Brasilien Erfahrung als Softwareingenieur gesammelt. „Meine Erfahrung ist, dass Unternehmen Arbeitserfahrung aus dem Ausland nicht gut einschätzen können und deswegen nicht bereit sind, sie voll anzuerkennen.“
Insgesamt ist Deutschland ein attraktives Arbeitsland, finden die beiden. Die Hürden für Arbeitserlaubnis und die Kommunikation mit den Behörden sowie die manchmal fehlende Wertschätzung der eigenen Erfahrung durch Unternehmen würden kompetente Menschen aber abschrecken.
Weiterhin wenig Frauen in Ingenieurwissenschaften
Um die Lücke der unbesetzten Stellen in den Ingenieurwissenschaften zu schließen, könnten Unternehmen auch mehr für die Frauenförderung in diesen Berufsgruppen tun. Es gibt weiterhin nur wenige Ingenieurinnen in Deutschland. In den vergangenen Jahren ist der Anteil der Frauen in den Ingenieursberufen zwar gestiegen, sei aber mit rund 20 Prozent noch immer zu gering, findet VDI-Direktor Willig. Um hier besonders auf Frauen einzugehen, versucht der VDI auf Social Media weibliche Vorbilder in MINT-Berufen zu zeigen, die junge Frauen und Mädchen motivieren sollen, sich für einen technischen Beruf zu entscheiden. Auch Mentorenprogramme, um junge Ingenieurinnen auf dem Stellenmarkt zu helfen, bietet der VDI an.
Junge Menschen für Wissenschaft begeistern
Potenzial für zukünftige Ingenieure und Ingenieurinnen gebe es darüber hinaus nicht nur im Ausland oder bei Frauen, sondern generell in der Gesellschaft. „Wir benötigen eine breite Palette an Maßnahmen, um junge Menschen in Deutschland für Technik und Wissenschaft zu begeistern“, so Willig. Denn die akademischen Herausforderungen sind auch für junge Deutsche groß.
Im internationalen Leistungsvergleich PISA schnitten deutsche Schüler und Schülerinnen 2022 mit dem bisher schlechtesten Ergebnis ab. Im Bereich Mathematik erbrachten sie dabei eine deutlich schlechtere Leistung als vier Jahre vorher bei der vorangegangenen Erhebung. Die Anteile besonders leistungsschwacher Jugendlicher sind seit 2018 größer geworden. In Mathematik waren es rund 30 Prozent, in den Naturwissenschaften etwa 23 Prozent. Allgemein zeichnet sich bei der Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen seit 2000 ein Abwärtstrend ab. Das beunruhigt auch Axel Plünnecke vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IDW). Er erwartet wegen der schlechten Ergebnisse in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen zukünftig noch größeren Fachkräftemangel bei den Ingenieurinnen und Ingenieuren. Gerade der sinkende Anteil von sehr leistungsstarken Schülern und Schülerinnen im Fach Mathematik ist für Plünnecke ein Warnsignal.
„Die Herausforderungen beginnen schon in der Schule“, ist auch VDI-Direktor Adrian Willig überzeugt. Daher müsse das Niveau bereits bei jüngeren Menschen gehoben werden. „Man muss jungen Menschen erklären, wie attraktiv diese Zukunftsberufe sind.“ Insgesamt müsse mehr Sachverstand für technisches Wissen geschaffen werden, denn große Probleme wie Klimawandel, angepasste Stadtentwicklung und nachhaltige Mobilität bräuchten zur Lösung technische Bildung und technische Expertinnen und Experten.
Mit sogenannten „Technotheken“ versucht der VDI auch außerschulisch junge Leute zu erreichen. In diesen Kooperationen mit städtischen Büchereien stellt der VDI Modelle und Experimentierkästen für die Büchereien bereit oder bietet Workshops an, um junge Menschen dort mit Technik und Wissenschaft in Berührung zu bringen. Positiv dabei ist: „Das Projekt stößt auf große Resonanz“, berichtet Willig.
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