Aktuelle Ausgabe neu

Newsletter

Abonnieren

Round Table Arbeitsrecht: Neue Handlungsfelder und ein Hauch von Hoffnung

25. Juni 2025 von Christiane Siemann

Die Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie, KI-Vereinbarungen in Unternehmen und die Flexibilisierung der Arbeitszeit: Über diese und andere arbeitsrechtliche Themen diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Round Table der Personalwirtschaft.

Wenn Unternehmen derzeit arbeitsrechtlichen Rat einholen, liegen zwei Themen im Trend: die EU-Entgelttransparenzrichtlinie und Rahmenvereinbarungen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Betrieb. Auch das Thema Arbeitszeit und deren korrekte Erfassung rückt erneut ins Bewusstsein der Arbeitgeber. Da das Vorhaben der Koalition zur Öffnung des Achtstundentages aber erst noch das Stadium des Referenten- und Gesetzentwurfs durchlaufen muss, bleibt Unsicherheit. Viele Beteiligte hoffen auf praktikable Lösungen. Ebenso begleiten die Spezialisten für Arbeitsrecht die Personalabbaumaßnahmen ihrer Mandantschaft.

Vor allem in der Chemie- und Autoindustrie kommt es seit vielen Monaten zu einem massiven Beschäftigtenabbau. Viele Arbeitgeber haben in den vergangenen Jahren noch von möglichen und manchmal erforderlichen Trennungen abgesehen, sagt Patrick Loeke, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Bluedex (Eigenschreibweise: BLUEDEX): „Doch im Zuge der negativen wirtschaftlichen Entwicklung schlagen Unternehmen den Weg zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses deutlich schneller ein – sowohl in Einzelfällen als auch bei größeren Abbaumaßnahmen.“ Als eine wirtschaftliche Spätfolge der Coronapandemie identifiziert Dr. Dirk Freihube, Partner bei Görg (Eigenschreibweise: GÖRG), die steigende Anzahl der Insolvenzen und Massenentlassungen. Ihre Ursachen lägen häufig darin, dass Anfang der 2020er Jahre das ein oder andere nicht mehr wettbewerbsfähige Unternehmen mit staatlicher Unterstützung gerettet wurde.

Die Kanzlei Görg begleitet aktuell große Insolvenzverfahren und Restrukturierungsmaßnahmen. Ihrer Beobachtung nach verliefen Personalabbaumaßnahmen in den vergangenen Jahren relativ „geräuschlos“, vor allem dank eines robusten Arbeitsmarkts, der einvernehmliche Lösungen erleichterte. Freihube stellt fest, dass „heute Auseinandersetzungen um die Weiterbeschäftigung beziehungsweise Abfindung härter geführt werden, weil die Anschlussbeschäftigung aufgrund des angespannten Arbeitsmarktes nicht mehr so schnell zu finden ist“.

Das Wichtigste in Kürze

  1. Die finanziellen Folgen der EU-Entgelttransparenzrichtlinie hat die Mehrheit der Unternehmen noch nicht erkannt.
  2. Ein diskriminierungsfreies Entgeltsystem allein schützt nicht vor individuellen Anpassungsklagen.
  3. Eine KI-Rahmenbetriebsvereinbarung wird häufig von Betriebsräten gefordert, wenn sie eine Beschäftigungssicherung erreichen wollen, weil sie vom Wegfall der Arbeitsplätze durch KI ausgehen.
  4. Unternehmen und Sozialpartner sollten gemeinsam prüfen, welche Wochenhöchstarbeitszeit je nach Tätigkeit sinnvoll ist. Auch innerhalb eines Betriebs sind unterschiedliche Lösungen möglich.
  5. Die bisher geltenden Ruhezeiten sollten nicht ignoriert werden, denn die Zahl der psychischen Erkrankungen aufgrund von Be- oder Überbelastung nimmt stetig zu.
  6. Die geplante Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung wird die weit verbreitete Umgehung der Aufzeichnungspflicht eindämmen.

„Wenn sich Stellen- und Tätigkeitsprofile durch KI verändern, obliegt es HR, diese Entwicklung zu erkennen und Profile anzupassen.“

Dr. Tobias Brors LL.M., Partner, Pusch Wahlig Workplace Law

Dominierendes Thema: die EU-Entgelttransparenzdirektive

Als absolutes Topthema ordnen die Arbeitsrechtler die EU-Entgelttransparenzrichtlinie ein. Viele Unternehmen wissen, dass die Umsetzung der Direktive nur der Anfang ist: In den kommenden Jahren bleibt die diskriminierungsfreie Vergütung ein Streitthema, denn wenn die Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht erfolgt ist, werden – wie auch sonst bei neuen Gesetzen üblich – Arbeitsgerichte weitere juristische Klärungen im Detail vornehmen müssen.

Doch diese Einsicht reicht nicht, die kurz- und langfristigen Implikationen der neuen Regelung sind noch lange nicht allen Arbeitgebern bewusst. „Welche finanziellen Folgen sich aus der EU-Direktive ergeben können, hat die Mehrheit der Unternehmen noch nicht erkannt“, konstatiert Freihube. Da die Auskunftsansprüche von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zur generellen Vergütung bestimmter Funktionen im Unternehmen eine erhebliche Stärkung erfahren, sei damit zu rechnen, dass „Klagen zur Entgeltdiskriminierung künftig häufiger Gegenstand arbeitsgerichtlicher Auseinandersetzungen sind“. Zwei weitere Auswirkungen der EU-Richtlinie sollten Unternehmen beachten. Zum einen „schützt ein diskriminierungsfreies geschlechtsneutrales Entgeltsystem allein nicht vor individuellen Anpassungsklagen“, betont Freihube. Der Grund: Nach der neueren restriktiven Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist eine unterschiedliche Vergütung vergleichbarer Funktionen nur in wenigen Ausnahmefällen gerechtfertigt, etwa aufgrund einer deutlich unterschiedlichen Ausbildung oder Berufserfahrung.

Zum anderen verweist er darauf, dass eine Gehaltsanpassung wegen Entgeltdiskriminierung nicht nur für die Zukunft, sondern – innerhalb der Verjährungsfristen – auch rückwirkend geltend gemacht werden kann. In diesen Fällen handelt es sich in der Regel um sehr hohe Beträge. „Daher spielen die verschärften Gender-Pay-Gap-Regeln im Transaktionsarbeitsrecht eine zunehmend bedeutendere Rolle. Das hohe Haftungsrisiko bei Entgeltdiskriminierungen kann relevant für den Unternehmenskaufpreis sein und sogar zum Scheitern des Deals führen.“ Die Vergütungsvergangenheit stellt zudem ein weiteres Problem für Arbeitgeber dar, wie Loeke ergänzt: Sie müssen Gehaltsentscheidungen, die in der Vergangenheit liegen, transparent machen – auch wenn sie nicht (sauber) dokumentiert wurden.

Er nennt ein Beispiel: Wenn vor fünf Jahren ein männlicher Kandidat mit einem außergewöhnlich hohen Gehalt eingestellt wurde, da er aufgrund des Fachkräftemangels nur zu dem Preis zu gewinnen war, muss der Arbeitgeber die Begründung heute nachweisen können. Schwierigkeiten bei der sicheren Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie sieht Loeke, der auch als Richter und Staatsanwalt tätig war, ebenfalls bei Neueinstellungen: Eine Person, die ihren Arbeitgeber wechseln will und bei ihrem früheren ein höheres Gehalt bezogen hat, als ihr jetzt geboten wird, kann mit finanziellen Besitzstandsgründen argumentieren und wird nicht von der Entgelthöhe abweichen wollen. „Der Umgang mit Altverträgen und Übernahmen, bei denen keine Entgeltkürzung möglich ist, könnte Vergütungsstrukturen durcheinanderwerfen.“

Transparenz nicht ohne einen Marktvergleich

Viele Unternehmen denken bei Entgelttransparenz lediglich an das Gehaltsgefüge innerhalb ihres Betriebs und seiner Belegschaftsstruktur. Das sei zu kurz gesprungen, sagt Dr. Tobias Brors, Partner bei Pusch Wahlig Workplace Law. Um auch den Marktvergleich im Blick zu haben, rät Brors, beim Aufsetzen einer Vergütungsstruktur die Stellenbewertungssysteme und Gehaltsstudien geeigneter Vergütungsberatungen heranzuziehen. Arbeitgeber müssten klären, wie sie im Marktvergleich entlohnen und welche Öffnungsklauseln im betrieblichen System notwendig sind, um stark nachgefragte Spezialistinnen und Spezialisten zu gewinnen. „Eine Entgeltstruktur ist immer mehrdimensional, sie muss Beförderungsregeln mit Gehaltssteigerung einplanen sowie weitere Dimensionen, die das Gehalt beeinflussen, wie Seniorität, Qualifikation und die Erwartungen der Beschäftigten.“ Die in der Praxis etablierte Gehaltsentwicklung aufgrund „guter Leistung“ stehe potenziell in Kollision mit der EU-Direktive, denn „Performance ist nicht immer vollständig anhand objektiver Kriterien messbar“.

Für Unternehmen, die individuellen Einsatz und Leistung fördern und bonifizieren wollen, gestalte sich die Umsetzung schwieriger, wenn sie nicht im Vorhinein in allen Bereichen Ziele vereinbaren würden. Wer High Performance belohnen will, muss sich sicher sein, diese auch belegen zu können. Die EU-Entgelttransparenzrichtlinie muss erst bis zum 7. Juni 2026 in nationales Recht umgesetzt werden und die Bundesregierung wird voraussichtlich erst gegen Ende 2025 ihren Vorschlag vorlegen. Daher befassen sich viele Unternehmen noch nicht intensiv mit ihrem Vergütungssystem. Dr. Sebastian Schulte, Senior Associate bei Justem (Eigenschreibweise: JUSTEM), mahnt: „Zum einen unterschätzen Unternehmen, wie komplex eine diskriminierungsfreie und strukturierte Vergütung ist; zum anderen haben sie nicht die kollektivrechtliche und mitbestimmungsrechtliche Ebene im Blick.“ Wenn kein einschlägiger Tarifvertrag gilt, müssen Arbeitgeber gemeinsam mit dem Betriebsrat eine diskriminierungsfreie Vergütungsstruktur verhandeln, „was eine sehr herausfordernde Aufgabe vor dem Hintergrund der häufig historisch gewachsenen Vergütungsstruktur ist“. Schulte befürchtet, dass die EU-Entgelttransparenz am Ende des Tages „zu einer großen Gleichmacherei beim Gehalt führt, denn sobald ein Arbeitgeber vom Mittelwert einer Vergleichsgruppe abweicht, entsteht für ihn ein enormer Rechtfertigungsaufwand“.

Info zum Round Table

Für ausgewählte aktuelle Themen lädt die Personalwirtschaft Expertinnen und Experten zu einem Round Table ein, um mit ihnen über Trends und aktuelle Entwicklungen zu diskutieren. Die Expertenrunde wurde von Gesine Wagner, Redakteurin der
Personalwirtschaft, moderiert.

Berichte zu unseren Round Tables finden Sie auf unserer Übersichtsseite.

„Eine Entgeltanpassung wegen Diskriminierung kann nicht nur für die Zukunft, sondern innerhalb der Fristen auch rückwirkend geltend gemacht werden.“

Dr. Dirk Freihube, Partner, Görg

KI-Anwendung im Betrieb

Um es vorwegzunehmen: Ob eine betriebsinterne KI-Rahmenvereinbarung unbedingt notwendig ist, darüber herrscht keine Einigkeit. Einige verbindliche Regelungen liegen schon vor: Mit der KI-Verordnung (EU AI Act) hat die EU 2024 einen rechtlichen Rahmen für den Einsatz von KI im Unternehmen gelegt. Arbeitgeber müssen seit Februar dieses Jahres sicherstellen, dass die Beschäftigten technisches Know-how, rechtliche und anwendungsspezifische Kenntnisse erlangen. Auch die Rolle der Arbeitnehmervertretungen ist definiert: Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz sieht vor, dass der Betriebsrat bei Planung und Einsatz von KI beteiligt werden muss. Und das Betriebsverfassungsrecht sichert ein Mitbestimmungsrecht bei KI-gestützten Personalauswahlverfahren zu. Darüber hinaus läuft in der Mehrheit der Unternehmen bei der KI-Nutzung noch vieles ungeregelt. Nicht so bei Fraport. Im Unternehmen gibt es bereits seit zwei Jahren eine Konzernrahmenrichtlinie zum Thema IT-Systeme, die auch eine Anlage zum Einsatz von KI umfasst.

Karin Knappe war zehn Jahre lang Konzernbetriebsratsvorsitzende des Fraport-Konzerns und hat die Vereinbarungen mitverhandelt. Ihr Resümee: „Wir haben eine gute Richtlinie vereinbart, die Klarheit für die Arbeitgeberseite und die Mitbestimmungsorgane schafft.“ Um das Arbeitsvolumen sowie die Komplexität für beide Seiten zu reduzieren, wurde das IT-System in vier Gruppen kategorisiert. Je nach Kategorie unterscheiden sich die eigenständigen Entscheidungsmöglichkeiten des Arbeitgebers bei der Einführung eines IT-Systems. In der höchsten Stufe gilt die umfassendste Form der Mitbestimmung, da hierbei personenbezogene Daten beispielsweise gespeichert und verarbeitet werden. Diese unterliegen dem Datenschutz und der 100-prozentigen Mitbestimmung. In der KI-Konzernrahmenrichtlinie ist auch festgehalten, dass „am Ende der KI-Kette letztlich immer der Mensch die Entscheidung tragen kann und muss, auch wenn KI die Prozesse übernimmt“. Die Erfahrung von Knappe, die inzwischen als nicht freigestelltes Betriebsratsmitglied bei Fraport den Bereich Diversity und Inclusion leitet: Das Interesse anderer Unternehmen und Betriebsräte an der Fraport-Richtlinie ist sehr groß. Sie beobachtet, dass sich viele Betriebe noch im Stadium erster Planungen zu einer Vereinbarung befinden.

Was Betriebsräte fordern

Eine KI-Betriebsvereinbarung mag für große Unternehmen wichtig sein, „aber ein Mittelständler mit 5.000 Beschäftigten muss nicht alles regeln, beziehungsweise kann dies entlang der konkreten IT-Systeme vornehmen“, befindet Brors. Auch im Arbeitsrecht bedürfe es nicht zwingend einer individuellen betrieblichen Regelung im Umgang mit KI, denn nach wie vor gelte: „Beschäftigte tragen die Verantwortung für die Qualität ihrer Arbeitsergebnisse auch bei der Nutzung von KI-Tools. Wenn sich Stellen- und Tätigkeitsprofile durch KI verändern, obliegt es HR, diese Entwicklung zu erkennen und die Profile anzupassen.“ Seine Erfahrung: Eine KI-Rahmenbetriebsvereinbarung werde häufig dann gefordert, wenn Betriebsräte eine Beschäftigungssicherung erreichen wollen, weil sie vom Wegfall der Arbeitsplätze durch KI ausgehen.

Diese Beobachtung macht auch Schulte: Von Betriebsratsseite kommen im Zusammenhang mit KI häufig Forderungen nach Rahmenbetriebsvereinbarungen, die sich dann auf Regelungen zur Beschäftigungssicherung beschränken. „Dies ist derzeit der falsche Fokus, vielmehr wäre es angezeigt, sich an die Regelungen der bekannten und bewährten IT-Rahmenbetriebsvereinbarungen anzulehnen.“ In diesem Zusammenhang sei es jedoch auch wichtig zu unterscheiden, ob es sich um Arbeitsinstrumente wie ChatGPT, Copilot und andere handelt, die Arbeitsprozesse kaum verändern. Oder aber um KI-getriebene Lösungen, die in komplexe Arbeitsprozesse eingreifen wie zum Beispiel in der Produktion und Fertigung.

„Die Öffnung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit ist kurzsichtig. Für Menschen, die körperlich arbeiten, ist ein 13-Stunden-Tag gesundheitlich nicht förderlich.“

Karin Knappe, Betriebsratsmitglied und VP Diversity and Inclusion, Fraport

Warten auf die KI-Schulung

Nach dem EU AI Act müssen Unternehmen, die KI-Tools nutzen, dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die notwendigen Kompetenzen verfügen. Zwar gibt es die Verpflichtung, „aber in der Praxis wird sich die Schulung erst durchsetzen, wenn die Beteiligten merken, dass sie notwendig ist, und nicht, weil sie vorgeschrieben ist“, sagt Brors. Beschäftigte müssten kompetent mit KI-Tools umgehen können, ein Verständnis für Datenschutz, Haftung und regelkonformes Verhalten entwickeln und dabei auch die Qualität sichern. Generelle Schulungskonzepte sieht Brors in der Breite noch nicht. Stattdessen werde viel improvisiert, und Arbeitgeber setzten auf Eigeninitiative, obwohl eigentlich erst ein strukturierter Lernprozess zum Unternehmenserfolg beitrage.

Generative Künstliche Intelligenz und KI-Agenten haben auch erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit von Rechtsanwälten und Juristen. Sie erleben einen Wandel in der Beratung. Für das Aufsetzen eines standardisierten Arbeitsvertrages werde nur noch selten der Arbeitsrechtler hinzugezogen. Auch könnten bei Due-Diligence-Prüfungen beispielsweise mit Unterstützung von KI-Tools Risiken vermehrt standardisiert abgefragt werden, sagt Freihube: „Doch immer, wenn Menschen miteinander verhandeln, sei es mit Betriebsräten, Gewerkschaften oder beim Arbeitsgerichtsprozess, wird KI den Menschen nicht so schnell verdrängen. Diese Kernaufgaben der anwaltlichen Tätigkeit sind durch Algorithmen noch nicht zu ersetzen.“ Mandanten brauchen keine Basisinformationen mehr, die sie schneller bei ChatGPT erhalten, ergänzt Brors: „Unsere Aufgabe wandelt sich von der Wissensvermittlung zur strategischen Beratung und in bestimmten Bereichen zu einer Art der Versicherung, die über die Rechtssicherheit befindet.“

Das Ende der elfstündigen Ruhezeit?

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sieht eine Flexibilisierung der Arbeitszeitregelung vor. Erzielt werden soll das unter anderem durch die Einführung einer maximalen Wochenarbeitszeit statt, wie bisher, einer täglichen Höchstarbeitszeit von acht Stunden und in Ausnahmefällen von zehn Stunden. Nicht erst seit der Coronapandemie mit der vermehrten Nutzung des Homeoffice rufen Arbeitgeber und viele Beschäftigte nach einem Aus für den Achtstundentag beziehungsweise der elfstündigen Ruhezeit. Gewerkschaften wiederum warnen. Wie es im Einzelnen geregelt wird, bleibt noch abzuwarten, aber sicher ist: Es bewegt sich etwas. Loeke würde eine Einführung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit begrüßen. Für viele Arbeitnehmer gerade im Homeoffice passe sie besser zum Leben. Er verfolgt gespannt, ob der Gesetzgeber die in Ausnahmefällen mögliche zehnstündige tägliche Höchstarbeitszeit verlängert oder ob er eine Flexibilisierung der derzeit elfstündigen Ruhezeit in Angriff nimmt. Die Ausgleichszeit ist schon lange Streitpunkt zwischen den Sozialpartnern. Kann eine kurze Tätigkeit wie ein Telefonat oder die E-Mail-Bearbeitung als Unterbrechung der Ruhezeit gewertet werden? Gerade in dieser Hinsicht wünscht sich Freihube „innovativere Lösungen für einen Kompromiss zwischen dem gebotenen Gesundheitsschutz und den Erfordernissen einer Flexibilisierung in einer modernen Arbeitswelt“. Nach seiner Auffassung wäre es an der Zeit, den Arbeitszeitbegriff neu zu definieren.

Als „unambitioniert“ ordnet Arbeitsrechtler Schulte die Vorschläge zur Wochenarbeitszeit ein. „In Europa beobachten wir deutliche Lockerungen bei der Arbeitszeit. Mit der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden und den bestehenden Ruhezeiten stoßen wir in Deutschland aber an Grenzen.“ In Frankreich existierten je nach Tarifvertrag Öffnungsklauseln mit deutlich mehr Spielraum, insbesondere auch für höhere Einkommensgruppen. Ebenso würden auch in Italien die Arbeitszeiten liberaler gehandhabt. „Ich hätte mir ein bisschen mehr Offenheit gewünscht, anstatt der sehr engen Ausnahmen hierzulande nur für die kleine Gruppe leitender Angestellter.“

„Eine besondere Schwierigkeit für ungleiche Bezahlungen liegt in der Dokumentation der Gründe, die in der Vergangenheit liegen.“

Patrick Loeke, Associate Partner, Bluedex

Höchstarbeitszeit je nach Job differenzieren

Nicht ganz so euphorisch kommentiert Knappe das Flexibilisierungsvorhaben: „Aus meiner Sicht ist die Öffnung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit kurzsichtig.“ Für bestimmte Personengruppen sei sie sicherlich attraktiv, je nach familiärer Situation und Job. „Aber ein Großteil unserer Beschäftigten ist operativ tätig. Für Menschen, die körperlich arbeiten, ist ein 13-Stunden-Tag gesundheitlich nicht förderlich.“ Wenn es für einen bestimmten Zeitabschnitt ins Lebenskonzept passe, könne die geplante Wochenhöchstarbeitszeit positiv sein, aber die Regelung sollte nicht unbedenklich eingesetzt werden. „Die Ruhezeiten dürfen nicht ignoriert werden, denn die Zahl der psychischen Erkrankungen aufgrund von Be- oder Überbelastung nimmt stetig zu. Es wird Beschäftigte geben, die unter den geplanten Höchstzeiten gesundheitlich leiden werden.“

Auch ohne das Arbeitszeitgesetz aufzurufen, so Knappe, gäbe es Instrumente, das Volumen der Arbeit für Beschäftigte zu steuern – wie zum Beispiel mit der Gefährdungsbeurteilung. „Unternehmen müssen gemeinsam mit den Sozialpartnern schauen, welche Wochenarbeitszeit je nach Job sinnvoll ist. Auch innerhalb eines Betriebs können unterschiedliche Lösungen gefunden werden.“ Dass die Tarifpartner sich über Ausnahmeregelungen für Ruhezeiten und die Höchstwochenarbeitszeit einigen, geschieht auch derzeit schon. Für einzelne Gruppen gibt es spezielle tarifliche Regelungen, wie Schulte ergänzt. So können zum Beispiel im Metallbereich für mobile Arbeit teilweise kürzere Ruhezeiten festgelegt werden. Mit der angekündigten Flexibilisierung der Arbeitszeit soll auch die elektronische Zeiterfassungspflicht für Unternehmen im Arbeitszeitgesetz festgehalten werden.

Für kleine und mittlere Unternehmen sind Übergangsregelungen vorgesehen, um die Einführung praxistauglich umzusetzen. Obwohl schon laut BAG seit 2022 die Arbeitszeit systematisch – digital oder auf Papier – erfasst werden soll, nahmen Betriebe es nicht immer genau mit der Stundenerfassung. „Eine Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung würde eine weit verbreitete Umgehungspraxis der Höchstarbeitszeiten eindämmen. Bisher mogelten sich die Beteiligten bei der Erfassung irgendwie drumherum. Das wird sich ändern“, sagt Brors, und ergänzt: „Wenn es so kommt, wie geplant, wird das Arbeitszeitgesetz wieder ernster genommen.“

„Wenn kein einschlägiger Tarifvertrag gilt, müssen Arbeitgeber gemeinsam mit dem Betriebsrat eine diskriminierungsfreie Vergütungsstruktur verhandeln.“

Dr. Sebastian Schulte, Senior Associate, Justem

Vertrauensarbeitszeit – mit Erfassung?

Bislang ist Vertrauensarbeitszeit dadurch charakterisiert, dass sie ohne Zeiterfassung auskommt. Nun soll laut Koalitionsvertrag die Pflicht zur systematischen elektronischen Erfassung von Arbeitszeiten kommen mit der ausdrücklichen Ausnahme: „Die Vertrauensarbeitszeit bleibt ohne Zeiterfassung im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie möglich.“ Dieser Satz bereitet Arbeitgebern und Arbeitsrechtlern Kopfzerbrechen. Denn 2024 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass einzelne Berufsgruppen nicht aus der Arbeitszeiterfassung herausgenommen werden dürfen, um die Einhaltung der Mindestruhezeiten und der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu gewährleisten.

Freihube begrüßt den Plan im Koalitionsvertrag, dass für die Vertrauensarbeit die Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeiten keine Pflicht werden soll. Aber: „Wie Letzteres umgesetzt werden soll, ist fraglich, da der Europäische Gerichtshof verlangt, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen, ohne dass er hierbei bestimmte Formen der Arbeit ausnimmt.“ Auch das BAG hat in einem Urteil von 2022 klargestellt, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Zwar sei Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich, aber nur in Verbindung mit der Zeiterfassungspflicht. Der gänzliche Verzicht auf die Dokumentation sei nicht möglich. So äußerte sich die Präsidentin des BAG, Inken Gallner, mehreren Medien gegenüber, dass Vertrauensarbeit auch trotz der Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung im gesetzlich zulässigen Rahmen des Arbeitsschutzgesetzes möglich ist, wenn die genaue Dokumentation der geleisteten Arbeitszeit erfolgt.

Arbeitsrechtler Loeke kommentiert die Ankündigungen als einen Widerspruch in sich: „Vertrauensarbeitszeit ist dadurch gekennzeichnet, dass eben nicht die gesamte Arbeitszeit erfasst wird. Nun soll einerseits weiterhin Vertrauensarbeitszeit zulässig sein, bei der andererseits die gesamte Arbeitszeit erfasst werden soll.“ Wie Vertrauensarbeit „im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie“ ohne Zeiterfassung umgesetzt und durch welchen Weg es dem Gesetzgeber gelingen wird, die Widersprüche im Arbeitszeitrecht in Übereinstimmung zu bringen, bleibt mit Spannung abzuwarten.

Fotos: Bernd Roselieb