Round Table Recruiting: Strategisch rekrutieren statt nur reagieren
24. Juli 2025 von Petra Walther
Krise, KI, Demografie: Recruiting steht unter Druck. Die Diskussion beim Recruiting-Round-Table zeigt, warum strategisches Denken wichtiger ist, denn je, und wo Unternehmen ansetzen können.
Die Frage, ob das Schlimmste im Recruiting überstanden ist oder ob die Krise anhält, lässt sich derzeit kaum mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Darüber waren sich die Teilnehmenden am Round Table einig. Sie zeichneten ein komplexes Spannungsfeld, das von widersprüchlichen Entwicklungen, strukturellen Problemen und einem tiefgreifenden Wandel im Recruiting geprägt ist. „Wir haben eine starke Disbalance im Arbeitsmarkt“, stellte Holger Resack, CEO und Gründer von HR-Recruiting Services, fest. In vielen Unternehmen gebe es sowohl vermehrt Entlassungen als auch unbesetzte Schlüsselpositionen. Die Ursachen sieht er nicht nur in konjunkturellen Schwächen und politischer Trägheit, sondern auch in unternehmensinternen Versäumnissen: „Recruiting und Personalentwicklung arbeiten noch nicht so zusammen, wie es notwendig wäre, um ein skillbasiertes Recruiting wirklich abzubilden.“
Für Michael Eger, Partner Mercer Strategic People Advisory bei Mercer, sind die aktuellen Turbulenzen nicht neu: „Diese Skalierung im Recruiting haben wir in den vergangenen 20 bis 25 Jahren schon gehabt“, sagte er. Zwar erkenne er, dass Unternehmen derzeit ihre Recruiting-Abteilungen zurückbauen und über Outsourcing und interne Mobilität nachdenken. Doch aus seiner Sicht sei das eher ein Zeichen mangelnder strategischer Widerstandsfähigkeit. Problematisch sei vor allem, dass das Auf und Ab am Arbeitsmarkt inzwischen alle Branchen gleichzeitig betreffe.
Jobware-Geschäftsführer Wolfgang Achilles lenkte den Blick auf die demografische Entwicklung: „Hunderttausende von Mitarbeitenden werden ausscheiden und Frühverrentung, fehlende Zuwanderung sowie eine geringe Arbeitslosenquote werden dazu führen, dass es keine „Reserve“ mehr gibt“, so seine Einschätzung. Zwar sei die Nachfrage im Moment gebremst, doch ein erneuter Engpass könne sehr schnell eintreten – mit massiven Konsequenzen für die verbliebenen Mitarbeitenden.
Das Wichtigste in Kürze
- Recruiting braucht mehr strategische Substanz.
- Skill-basierte Planung wird zur Kernaufgabe.
- Die Candidate Experience bleibt ein kritischer Erfolgsfaktor.
- Internationales Recruiting ist notwendig, aber komplex.
- KI im Recruiting braucht klare Rahmen und mutige Pilotprojekte.
„Der Mittelstand hat jetzt eine Riesenchance, sich gute Leute zu holen, die er in zwei Jahren vielleicht nicht mehr bekommt.“
Dr. Wolfgang Achilles, Geschäftsführer, Jobware
Skill-Mangel statt Fachkräftemangel
Die Diskussion zeigte auch eine inhaltliche Verschiebung: Als Lösungsansatz für den Fachkräftemangel wird verstärkt der „Skill-based Recruiting“-Ansatz diskutiert, wobei sich der Fokus in der Personalauswahl von klassischen Ausbildungsverläufen und Jobtiteln vergangener Jobs auf das Vorhandensein der für eine Stelle erforderlichen Kompetenzen verlagert. So ließe sich nicht nur das externe Recruiting verbessern, auch Unternehmen, die gezwungen sind, intern umzustrukturieren, kämen so schneller zum Ziel und könnten Mitarbeiter gezielter nachqualifizieren. Noch bleibt aber vieles Stückwerk.
„Für erfolgreiches skill-based Recruiting in der Breite fehlt meist die Datengrundlage, und existierende Software kämpft in der Praxis mit der Komplexität von Berufsklassifizierungen und Skill-Ausprägungen“, gab Jan Kirchner, Geschäftsführer des Recruitingsoftware-Unternehmens Wollmilchsau, zu bedenken. In Branchen mit gut strukturier- und messbaren Skill-Profilen wie der IT gäbe es aber Fortschritte.
Theoretisch betrachtet ist skill-based Recruiting längst auf strategischer Ebene angekommen. „Die Fähigkeit, im Recruiting Lösungen zu schaffen, die die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens nachhaltig stärken, ist heute ein Top-Thema“, so Holger Resack. Diese Einsicht werde in vielen Organisationen noch nicht mit konkreten Maßnahmen untermauert. Stattdessen herrschten Zurückhaltung und Unsicherheit – auch wegen ausbleibender politischer Impulse und der Last externer Faktoren wie Preisdruck und geopolitischer Unsicherheiten.
Höherer Reifegrad beim Recruiting
Im Unterschied zu früheren Krisen – etwa der Finanzkrise 2008 – fällt auf, dass die Reaktion auf wirtschaftlichen Druck im Recruiting inzwischen differenzierter erfolgt. „Der Reflex, Recruiting herunterzufahren, ist noch da, aber nicht mehr so blind wie früher“, sagte Michael Eger. Heute werde eher geprüft, welche Zielgruppen besonders geschäftskritisch seien, und wo man sich eine gewisse Redundanz erhalten müsse, um beim nächsten Aufschwung wieder handlungsfähig zu sein. Ein stärkeres Segmentdenken und die Berücksichtigung von Business Cases seien Anzeichen eines gereifteren Umgangs mit dem Thema.
Nach Ansicht von Holger Resack hat sich in den Reifegraden der Recruiting-Abläufe gar ein Quantensprung im Vergleich zu vor einigen Jahren vollzogen. Viele Unternehmen hätten inzwischen definierte Prozesse und wüssten, wie schnell sie im Recruiting agieren wollen – auch wenn nicht immer klar sei, ob sie dabei die richtigen Prioritäten setzen und über geeignete Strukturen verfügen.
Jan Kirchner hingegen warnte vor allzu großer Zuversicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob die Strukturen vieler Unternehmen wirklich durch eine längere Down-Phase tragen“, sagte er. Gerade in spezialisierten Bereichen wie Personalmarketing oder Analytics seien viele Organisationen stark von Einzelpersonen abhängig. „Fällt eine Schlüsselperson aus, fehlt oft die Substanz, um weiterzumachen. Unternehmen fangen dann oft wieder bei Null an“, so Kirchner.
Hinzu kommt: Recruiting bleibt im Vergleich zu anderen HR-Disziplinen besonders anfällig für kurzfristige Sparmaßnahmen. „Wenn ein Unternehmen unter Druck gerät, spart es da, wo es am einfachsten geht – und das ist oft im Recruiting der Fall“, so Michael Eger. Vergessen werde dabei, dass Recruiting längst eine erfolgskritische Funktion sei – ähnlich wie der Vertrieb.
So bewegt sich Recruiting zwischen reflexhaften Sparmaßnahmen und dem langsam wachsenden Bewusstsein für seine strategische Bedeutung. Strukturen sind gewachsen, Prozesse definiert, und an vielen Stellen wird gezielter vorgegangen als noch vor 15 oder 20 Jahren. Doch das Risiko bleibt, dass bei jedem Abschwung wieder zentrale Kompetenzen verloren gehen – nicht nur in den Recruiting-Teams selbst, sondern auch in flankierenden Bereichen wie Employer Branding oder HR-Analytics.
Info zum Round Table
Für ausgewählte aktuelle Themen lädt die Personalwirtschaft Expertinnen und Experten zu einem Round Table ein, um mit ihnen über Trends und aktuelle Entwicklungen zu diskutieren. Die Expertenrunden wurde von Matthias Schmidt-Stein, Leiter Personalwirtschaft Online, moderiert.
Berichte zu unseren Round Tables finden Sie auf unserer Übersichtsseite.
„Mangelnder Wohnraum ist eine Barriere fürs internationale Recruiting, das wird von Unternehmen – selbst bei gut gemeinten Onboarding-Maßnahmen – oft nicht mitgedacht.“
Nils Berg, Spezialist Onboarding, Techniker Krankenkasse
Krise als Chance
Trotz aller Unsicherheit kann die anhaltende Krise auch als Gelegenheit verstanden werden, innezuhalten und gezielt in die Recruiting-Strukturen zu investieren, waren sich die Teilnehmenden des Round Table einig. „Themen wie Employer Branding, Karrierewebseite, Bewerbermanagementsysteme, Recruiting Analytics oder Active Sourcing werden oft stiefmütterlich behandelt, weil im Alltag keine Kapazitäten dafür vorhanden sind. Jetzt, wo der Druck vielerorts nachlässt, wäre eigentlich die perfekte Zeit, um das eigene Setup zu hinterfragen und Prozesse zu professionalisieren, bevor der nächste Aufschwung kommt“, betonte Jan Kirchner.
Auch Holger Resack sieht eine Gestaltungschance, um etwa Rollenprofile zu schärfen, Interviewprozesse zu standardisieren oder die eigene Kompetenzbasis neu zu definieren. Wer beispielsweise langfristig auf Active Sourcing oder kompetenzbasierte Auswahlgespräche setzen wolle, sollte seiner Meinung nach die Zeit nutzen, um das Fundament dafür zu legen – inklusive Trainings für Führungskräfte und der strukturellen Verzahnung mit angrenzenden HR-Funktionen. „Jetzt ist der Moment, um die Schnittstellen zwischen Recruiting, Onboarding, Skill-Programmen und Retention-Maßnahmen sauber zu bauen“, appelliert Resack.
Candidate Experience nicht vernachlässigen
Wolfgang Achilles ergänzte diese Perspektive: „Wenn wir von Krise sprechen, dann betrifft das eben nur einen Teil des Marktes“, merkte er an. Gerade im öffentlichen Sektor, in der Verteidigungs- oder Energiewirtschaft und bei wachstumsstarken Mittelständlern herrsche weiterhin akuter Personalbedarf. Diese Unternehmen könnten die Situation nutzen, um sich mit qualifizierten Kräften einzudecken – nicht selten auch auf Kosten der größeren Arbeitgeber, die aktuell Zurückhaltung üben.
Gleichzeitig warnte Achilles davor, das Thema Candidate Experience zu unterschätzen. „70 Prozent der Hochschulabsolventen wurden schon einmal geghostet“, nannte er das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Hochschul-App UniNow unter 2712 Studierenden und Absolventen an deutschen Hochschulen. Auch in einer ruhigeren Phase könne ein schlechtes Bewerbererlebnis langfristig das Employer Branding beschädigen – insbesondere bei jungen Zielgruppen, die sich erst in wenigen Jahren ernsthaft am Arbeitsmarkt orientieren. „Wenn man in zwölf Monaten wieder einstellt, erinnern sich viele noch daran, wie man sie heute behandelt hat.“
Umgekehrt könnten Unternehmen, die jetzt klug agieren, ihre Hausaufgaben machen und den Kontakt zu Talenten halten, langfristig profitieren – nicht zuletzt, weil sie Zugang zu Bewerbergruppen erhalten, die in Hochphasen kaum zu erreichen sind. „Der Mittelstand hat jetzt eine Riesenchance, sich gute Leute zu holen, die er in zwei Jahren vielleicht nicht mehr bekommt“, so Achilles.
Internationale Rekrutierung mit vielen Hindernissen
Wer heute strategisch rekrutieren will, darf jedoch den Blick nicht auf die eigenen Bewerbungsprozesse beschränken. Auch internationales Recruiting ist zu betrachten. Und tatsächlich lässt sich laut Nils Berg, Spezialist für Onboarding bei der Techniker Krankenkasse, hier ein leichter Anstieg erkennen: „Wir sehen einen Zuwachs bei den Arbeitsvisa – etwa drei bis vier Prozent jährlich“, berichtete er. Die Analyse, was hinter dem Anstieg steckt und welche Berufsgruppen er betrifft, ist Berg zufolge noch nicht abgeschlossen.
Fest steht: Die Zuwanderung bewegt sich auf niedrigem Niveau und reicht bei weitem nicht aus, um den wachsenden Bedarf zu decken. Doch die Anforderungen, um nach Deutschland kommen und bleiben zu dürfen, sind sehr hoch“, bemerkte Holger Resack. Neben einem komplexen Antragsprozess würden auch politische Signale abschrecken. „Ein starker Rechtsruck macht Deutschland nicht unbedingt zum Magneten für internationale Fachkräfte“, so Resack.
Auch mangelnder Wohnraum ist eine Barriere. Laut Berg wird das in vielen Unternehmen oft nicht mitgedacht. Selbst bei gut gemeinten Onboarding-Maßnahmen werde die Wohnraumsuche häufig ausgeblendet. Nur wenn ein echter Handlungsdruck entsteht, werde man kreativ.
Bei Belonio ist das Thema „Wohnraum“ für das Recruiting ausländischer Mitarbeitenden von Anfang an die Herausforderung schlechthin. Jana Kaß, Head of HR, beschäftigt das vor rund elf Jahren gegründete Softwareunternehmen bislang keine Migranten oder Migrantinnen. „Kolleginnen und Kollegen aus dem Inland unterstützen wir bei einem Umzug aktiv bei der Wohnungssuche oder bei Behördengängen. Wir waren und sind grundsätzlich bereit, diesen Support auch bei einem Zuzug aus dem Ausland zu leisten. Allerdings ist die Hürde Wohnraumbeschaffung so groß geworden, dass wir den Ansatz nun neu denken“, berichtete Kaß. Eine Überlegung sei dabei, internationale Mitarbeitende einzustellen, ohne sie nach Deutschland zu holen, und für die Umsetzung samt rechtlicher und administrativer Belange einen spezialisierten Dienstleister einzubinden.
Im Pflegebereich, wo Remote Work nicht möglich ist, rekrutieren hingegen viele Firmen mittlerweile selbst im Ausland. Gezielte Partnerschaften mit Universitäten, eine direkte Ansprache und langfristige Programme mit spezialisierten Vermittlungsagenturen zeigen laut Jan Kirchner hier deutlich mehr Wirkung als zentral gesteuerte Maßnahmen auf Regierungsebene.
Empfehlungen der Round-Table-Teilnehmenden
Dr. Wolfgang Achilles:
„The Prof G Pod“ – Podcast mit Scott Galloway
„Ein unterhaltsamer und zugleich kluger Blick eines US-amerikanischen Professors und Unternehmers auf globale wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Besonders spannend: seine Einordnungen zu Karrierefragen seiner Community, die er mit scharfem Witz und viel Erfahrung beantwortet.
Nils Berg:
„Global gesprochen – Der TK-Podcast für internationale Beschäftigung“
„Bei dem Podcast der Techniker Krankenkasse rund um Global Mobility werden regelmäßig Themen besprochen, die das Recruiting ausländischer Fachkräfte betreffen – vom Fachkräfteeinwanderungsgesetz bis hin zur Integration ausländischer Mitarbeitenden.“
Michael Eger:
„The Skills Powered Organisation“ von Ravin Jesuthasan
Der US-amerikanische HR-Vordenker beschreibt, wie die Ausrichtung auf Skills es Unternehmen ermöglicht, auch in hochdynamischen Märkten eine Unternehmens- und HR-Strategie aufzusetzen. Er zielt darauf, Silos wie Workforce Planung, Recruiting und Talent Management zu überwinden – und damit den Ansatz „Right People, Right Place, Right Time“ neu zu denken. Diese ganzheitliche Sicht wird fürs Recruiting zukünftig entscheidend sein!
Jana Kaß:
„Das Buch gibt wertvolle Einblicke in moderne People-Strategien und eine innovative Recruiting-Kultur. Besonders spannend finde ich die Themen Diversity, datenbasierte Entscheidungen und sinnstiftende Arbeit, die heute wichtiger denn je sind.“
Jan Kirchner:
„HRM-Hacks“ – Podcast von Alexander Petsch
Der Podcast bietet inspirierende Interviews mit wechselnden Fachexperten und taucht tief in die Themenwelt rund um HR und Recruiting ein.
Holger Resack:
„HR ungeschminkt – der ehrliche Personal-Podcast“
Spannende Themen rund um HR und Recruiting, die ehrlich und praxisnah von Experten beleuchtet werden. Ein besonderer Verweis gilt der Folge zum Thema „Talent Acquisition im Handwerk“ mit unserem Experten für Blue Collar Recruiting, Maximilian Anderle.
„In der Recruiting-Praxis ist von durchdachter KI-Nutzung bislang wenig zu sehen. Es gibt viel Awareness, aber auch viel heiße Luft.“
Michael Eger, Partner Mercer Strategic People Advisory, Mercer
Fridge Hiring – sinnvoll oder nicht?
Gehört zu einer vorausschauenden Recruiting-Strategie auch das sogenannte Fridge Hiring – das gezielte „Bevorraten“ von Talenten, die erst zu einem späteren Zeitpunkt gebraucht werden? Einzelne Unternehmen praktizieren diesen Ansatz bereits punktuell. Doch es braucht ein erhebliches Maß an Reife, wie Holger Resack zu bedenken gab. Die meisten Organisationen seien nicht in der Lage, Talente wirklich auf Vorrat zu halten – weder strukturell noch kulturell. „Wer ernsthaft externe Kandidaten und Kandidatinnen in einen aktiven Talentpool aufnimmt, sollte wissen, welche Kompetenzen zukünftig entscheidend sind, und diesen Bedarf mit der Personalplanung verknüpfen“, sagte er.
Vielerorts wird lieber abgewartet – auch dann, wenn es eigentlich kluge Zeitpunkte gäbe, Talente zu sichern. Jan Kirchner sieht ein Paradox: „Die Vakanzzeiten steigen, obwohl das Angebot größer ist. Unternehmen könnten auswählen, doch sie warten auf die perfekte Wollmilchsau.“ Ein Übermaß an Vorsicht verhindere oft gute Besetzungen.
Dazu gesellen sich hausgemachte Hürden. So berichtete Michael Eger von unnötig komplexen Genehmigungsprozessen, die selbst für kritische Stellen zusätzliche Freigaben erfordern, aus Sorge, dass interne Einstellungsstopps umgangen werden. „Es werden Schleifen eingezogen, die das ganze System verlangsamen – auch in Bereichen, wo eigentlich akuter Bedarf herrscht“, führte Jan Kirchner aus. Statt gezielt Recruiting-Freiraum zu nutzen, dominiere in vielen Konzernen die Verwaltungslogik.
Strategische Personalplanung unbefriedigend
Jan Kirchner bezeichnet die strategische Personalplanung in vielen Unternehmen als Großbaustelle. Lediglich 14 Prozent der Unternehmen hätten laut einer Studie der Wollmilchsau GmbH in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) und der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig ein Konzept, das strategische Prioritäten in der Personalplanung berücksichtigt. Und dies noch ohne langfristigen Zeithorizont. „Ein Blick über drei bis fünf Jahre, mit klarem Fokus auf Skills und Business-Relevanz“, wie er eine strategische Planung definiert, sei kaum anzutreffen. Für die Studie wurden 1121 Personen in HR-Funktion befragt.
Immerhin erste Bewegungen – jedoch weniger durch HR-Initiativen als durch die AI-Diskussion ausgelöst – beobachtet Michael Eger: „Unternehmen beginnen zu hinterfragen, was Automatisierung für ihr Geschäftsmodell bedeutet.“ Dabei verschiebt sich der Fokus: weg von der klassischen Headcount-Planung hin zu einer qualitativen Betrachtung von Skills, Bedarfen und Rollen. Statt zu fragen, ob 53 oder 55 neue Mitarbeitende gebraucht werden, rücke die Frage in den Mittelpunkt, welche Fähigkeiten benötigt werden – und in welchem Szenario.
Interessanterweise ist es laut Eger aber nicht das Recruiting, das diesen Prozess anstößt, sondern der Spardruck. „Wenn Unternehmen zehn Prozent ihres Personals abbauen müssen, stellt sich plötzlich die Frage: Wen eigentlich? Und wen brauchen wir künftig noch?“ So wirkt die Krise – zumindest punktuell – also doch als Treiber einer vorausschauenden Planung.
„Die Quality of Hire ist eher ein langfristiges Outcome – beeinflusst von Onboarding, Führung und Weiterentwicklung.“
Jana Kaß, Head of HR, Belonio
Mittelstand oft näher dran als gedacht
Laut Nils Berg ist der Stand strategischer Planung stark von der Unternehmensgröße und HR-Struktur abhängig: „Je kleiner das Unternehmen, desto häufiger wird auf Sicht gefahren“, so seine Beobachtung. Michael Eger hat indes die Erfahrung gemacht, dass gerade im Mittelstand oft eine engere Verzahnung zwischen Geschäftsführung und HR besteht – und damit mehr Verständnis dafür, was personell notwendig ist. Der Austausch finde zudem direkt statt – auch wenn formalisierte Prozesse oft fehlten.
Jana Kaß schilderte in diesem Zusammenhang, wie ihr Unternehmen mit dem Thema umgeht: Eine strategische Planung im klassischen Sinne gebe es nicht. „Als klassisches Startup gestartet, planen wir immer noch von Jahr zu Jahr“, erläuterte sie. Die Planung sei eng mit den Fachabteilungen verzahnt und richte sich nach dynamisch wechselnden Fokusthemen – etwa Wachstum oder spezifische Expansionen. „Dass wir jetzt stark in den Bereich Produkt rekrutieren, war zum Beispiel vor eineinhalb Jahren noch nicht absehbar“, so Kaß. Bei ihren früheren Tätigkeiten habe sie hingegen erlebt, wie strategischer Personalbedarf systematisch berechnet und abgestimmt wurde. Doch jedes Umfeld bringe andere Anforderungen mit sich: „Es ist etwas ganz anderes, ob man stabile Strukturen verwaltet oder in einer skalierten Wachstumsphase steckt.“
Quality of Hire – kein Wert für sich
Auch die Bewertung der Recruiting-Performance, der „Quality of Hire“ ist vielschichtig. Bei der Diskussion zum Thema standen die Fragen im Vordergrund, was die Kennzahl ausmacht und ob sich Qualität bei Einstellungen überhaupt objektiv messen lässt. Kirchner setzte dem voran, dass HR in vielen Unternehmen nicht bei allen Gesprächen und somit der Auswahl der Bewerbenden involviert sei: „In den meisten Fällen trifft die Fachabteilung die Entscheidung, wer eingestellt wird. Eine faire Bewertung der Recruiting-Performance ist also kaum möglich.“
Michael Eger lehnt zudem eine isolierte Betrachtung ab: „Es gibt nicht die eine Quality-Kennzahl. Qualität ist immer auch eine Frage der Organisation”, gab er zu bedenken. Man könne beispielsweise den falschen Menschen für eine strategisch falsche Stelle einstellen – das liege dann nicht allein am Recruiting. Jana Kaß stellte darüber hinaus in Fragen, ob die „Quality of Hire“ per se mit dem Recruiting des passenden Mitarbeitenden erfüllt sei. „Man kann ja auch eine vermeintlich passende Person für einen Job einstellen, aber als Arbeitgeber nicht richtig aufgestellt sein, um deren Erwartungshaltung an diesen Job zu erfüllen“, sagte sie.
Qualität ist letztlich also das Ergebnis verschiedener Faktoren – von Retention und Zielerreichung bis hin zu subjektivem Feedback oder kulturellem Fit. Kaß formulierte es so: „Quality of Hire ist eher ein langfristiges Outcome – beeinflusst von Onboarding, Führung und Weiterentwicklung.“ In ihrem Unternehmen sei daher ein strukturierter Skill-Kompass eingeführt worden, der Karrierepfade, Rollenprofile und erforderliche Kompetenzen abbilde. „Das hilft nicht nur im Recruiting, sondern auch in der Personalentwicklung – etwa in Jahresgesprächen oder bei der Teamzusammenstellung. Gerade in einer wachsenden Organisation bringt das allen Beteiligten Orientierung“, so Kaß.
„Jetzt, wo der Recruiting-Druck vielerorts nachlässt, ist die perfekte Zeit, um das eigene Setup zu hinterfragen und Prozesse zu professionalisieren.“
Jan Kirchner, Geschäftsführer, Wollmilchsau
KI im Recruiting
Doch wer bestimmt eigentlich, was Qualität im Recruiting bedeutet? Und kann das künftig auch eine Maschine leisten? Der Blick auf den Einsatz von KI wirft neue Fragen auf. Dass die Technologie enormes Potenzial birgt, steht außer Frage. Doch es fehlt oft an Klarheit darüber, wo KI sinnvoll eingesetzt werden kann, wo sie schon heute funktioniert und wo sie an Grenzen stößt. Zudem steckt viel Brisanz in dem Thema, wie Wolfgang Achilles anhand eines aktuellen Beispiels deutlich machte: Er verwies auf die Sammelklage gegen das Personalsoftwareunternehmen Workday, über deren KI-gestütztes Tool sich Bewerbende vielfach erfolglos beworben hatten – automatisiert abgelehnt, mutmaßlich diskriminierend. „Beim Matching wird’s gefährlich“, warnte Achilles und verwies zugleich auf die kommenden Regulierungen durch den EU AI Act. „Anwendungen wie eine KI-unterstützte Formulierung von Stellenanzeigen sind unkritisch. Doch sobald KI Entscheidungen treffen soll, sind transparente Kriterien und Kontrollen nötig.“ Holger Resack betonte in diesem Kontext auch die ethische Verantwortung: „Wenn man Dinge Maschinen überlässt, braucht man einen moralischen Kompass – und der muss sich an Gesetzen und gesellschaftlichen Werten orientieren.“
In der Praxis ist von durchdachter KI-Nutzung jedoch bislang wenig zu sehen. „Es gibt viel Awareness, aber auch viel heiße Luft“, so Michael Eger. Die meisten Organisationen würden bereits an einfachen Automatisierungen scheitern; schon ein Buchungstool für Vorstellungsgespräche sei oft ein Problem. „Von echter KI-Anwendung kann kaum die Rede sein. Was genutzt wird, sind vor allem Tools wie ChatGPT für Textbausteine oder Stellenanzeigen – aber auch dies wenig systematisch“, sagt er.
Ein zentrales Hindernis für KI-Anwendungen ist laut Jan Kirchner, dass viele Unternehmen intern keine klare Datenstrategie haben. Datenverfügbarkeit und -qualität seien die Grundvoraussetzung für KI, und daran mangele es in den Firmen. „Zudem ist der Unterschied zwischen einzelnen Anwendungstypen oft unklar“, betonte er. Machine Learning sei längst in vielen HR-Tools im Einsatz, während generative KI wie ChatGPT nur einen Teilbereich abdecke.
„Recruiting und Personalentwicklung arbeiten noch nicht so zusammen, wie es notwendig wäre, um ein skillbasiertes Recruiting wirklich abzubilden.“
Holger Resack, CEO und Gründer, HR-Recruiting Services
Kleine Schritte mit KI-Anwendungen
Und doch tut sich etwas. Erste Organisationen arbeiten mit internen, datenschutzkonformen KI-Anwendungen, etwa um Interviewfragen zu generieren oder Anforderungen zu strukturieren. Einige setzen auf Avatare, die Bewerbenden wiederkehrende Fragen im Prozess beantworten – ohne Halluzination, aber mit hilfreicher Orientierung. Nils Berg schilderte, wie mit einem simulierten Gesprächspartner Transparenz über den Recruiting-Prozess geschaffen wird. „Das ersetzt kein persönliches Gespräch, aber beantwortet häufige Fragen auf effiziente Weise.“ Auch administrative KI-Unterstützung wie E-Mail-Vorlagen oder die Analyse von Skill-Profilen werde zunehmend genutzt – allerdings meist außerhalb des sensiblen Auswahlprozesses. So auch die Belonio GmbH. „Wir nutzen KI derzeit vorwiegend für den administrativen Support, zur Formulierung von Stellenanzeigen und Ähnlichem“, schilderte Jana Kaß. Die Grenzen der Anwendung lägen für ihr Unternehmen bislang da, wo es in den persönlichen Kontakt gehe.
„Die Frage ist nicht nur, was KI kann, sondern was Unternehmen davon wirklich übernehmen wollen“, so die Einordnung von Michael Eger. In US-amerikanischen Retail-Recruiting-Prozessen sei bereits heute eine vollständige Automatisierung im Einsatz – inklusive Auswahl, Ansprache und Einstellung. In Deutschland sei das ethisch und kulturell – noch – kaum vorstellbar.
Neugierige Teams als KI-Treiber
Treiber von KI ist laut Holger Resack neben einer nötigen Technologieaffinität vor allem die Finanzabteilung. Denn: „Wenn KI Einsparpotenzial verspricht, bekommt sie Rückendeckung.“ Ohne informierte, neugierige Teams wird es seiner Einschätzung nach jedoch keine sinnvollen Piloten geben. „Es braucht Menschen mit Fantasie – und die Bereitschaft, Neues auszuprobieren“, brachte Nils Berg es auf den Punkt. Gerade im Recruiting sei der Mut zum Experimentieren aktuell größer als in anderen HR-Bereichen.
Bei alldem ist es wichtig, KI nicht isoliert zu betrachten. Darauf machte Jan Kirchner aufmerksam. „Entscheidend ist die Frage, was KI im Kerngeschäft verändert und dass HR weiß, wohin sich das Business entwickelt“, sagt er. Sonst laufe das Recruiting schnell in die falsche Richtung. So zeigt sich wieder mal: Wer strategisch denkt – ob bei KI, Prozessen oder Personalbedarf –, wird im Recruiting langfristig erfolgreicher sein.
Fotos: fizkes – stock.adobe.com, Henrik Bergmann/Jobware GmbH, Nils Berg, Mercer, Sven Janßen, Wollmilchsau, HR-Recruiting Services GmbH