Update vom 21. November 2025: Obwohl Adidas im August aus der Tarifbindung ausgetreten ist, will die Gewerkschaft IG BCE Gehaltserhöhungen durchsetzen. „Wir haben den Vorstand aufgefordert, mit uns in Haustarifverhandlungen einzutreten“, heißt es in einem Schreiben der Gewerkschaft an das Dax-Unternehmen, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Die Gewerkschaft fordert 7 Prozent mehr Gehalt und einen zusätzlichen freien Tag für Gewerkschaftsmitglieder.
Adidas bisherige Antwort: Man habe stets betont, sich zu einer fairen Bezahlung zu verpflichten und die Lohnerhöhungen für Tarifmitarbeitende und Azubis vollständig umzusetzen, wird ein Unternehmenssprecher von ntv zitiert. Der versprochene Anstieg der Gehälter sei bereits um 0,5 Prozentpunkte höher als im Tarifvertrag vorgesehen. Der Gewerkschaft ist dies aufgrund der wirtschaftlichen Lage von Adidas nicht genug. „Für einen Konzern, der zuletzt eine Brutto-Gewinnmarge von mehr als 50 Prozent erwirtschaftet hat, ist das eine reichlich kümmerliche Ausrede“, heißt es von Gewerkschaftsseite.
Gerade noch hat die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf für mehr Tariftreue beschlossen, verlässt mit Adidas ein Dax-Unternehmen die Tarifbindung. Der Sportartikelhersteller wird sich ab dem 1. September dieses Jahres nicht mehr an den Branchentarifvertrag binden, sondern dem Arbeitgeberverband nur noch als Mitglied ohne Tarifbindung angehören – so eine Unternehmenssprecherin.
Der Schritt kam überraschend, stehen die Vertragsparteien doch kurz vor Verhandlungen für einen neuen Branchentarifvertrag. Zum 31. Juli war der vorherige Tarifvertrag für die Beschäftigten in der Sportartikel- und Schuhindustrie ausgelaufen. Ein neuer sollte in den kommenden Monaten beschlossen werden. Auswirkungen hat dieser auf rund 13.000 Beschäftigte, laut der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) sind darunter 8.000 Adidas-Mitarbeitende. Adidas selbst spricht aber nur von 4.600 tariflich Beschäftigten bei sich.
Forderungen führten zum Austritt
Für den neuen Tarifvertrag hatte die Gewerkschaft Forderungen mitgebracht. Und diese schienen für Adidas so unhaltbar, dass ein Austritt aus der Tarifbindung gegenüber einem möglichen Kompromiss präferiert wird. Die IG BCE forderte 7 Prozent mehr Gehalt und einen „überproportionalen Anstieg“ der Ausbildungsvergütung. Doch das waren nicht die Aspekte, welche für Adidas das Fass zum Überlaufen brachten.
Vielmehr wollte der Sportartikelhersteller auf keinen Fall den Forderungen nachkommen, seine Entgeltgruppierungen auszuweiten – unter anderem auf Hochqualifizierte, die derzeit außertariflich bezahlt werden. Weiterhin wollte man den Gewerkschaftsmitgliedern in der Belegschaft keinen „spürbaren Vorteil“ in Zeit oder Geld gewähren. Die IG BCE wollte eine Prämie für Gewerkschaftsmitglieder.
„Unsere Mitarbeitenden sind die besten der Branche“, sagt eine Adidas-Sprecherin. „Damit das so bleibt, müssen wir in der Lage sein, Gehälter auch außerhalb der Tarifstruktur anzubieten, und für alle Beschäftigten, tariflich und außertariflich, attraktive Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen.“ Die Forderungen der IG BCE würden diese Flexibilität, welche nötig sei, um die Arbeitgeberattraktivität aufrechtzuerhalten, nehmen. Die Prämie für Gewerkschaftsmitglieder stünde zudem nicht zur Diskussion, da sie eine Ungleichbehandlung der Mitarbeitenden schaffe, welche Adidas nicht wollte.
„Für keinen Arbeitgeber war das bislang ein Grund zur Flucht aus dem Tarif“
Die IG BCE sieht die Reaktion als „Schlag ins Gesicht“ und nicht nachvollziehbar. In ihren Augen erhöht eine Tarifbindung die Arbeitgeberattraktivität. „Das Unternehmen wird durch die Belegschaft getragen, und die Beschäftigten verlangen Sicherheit, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit bei Entgelt, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen – und das gibt es nur mit Tarifvertrag“, sagt Birgit Biermann, stellvertretende Vorsitzende der IG BCE. Höhere Entgeltgruppen würden zudem niemanden benachteiligen, im Gegenteil: „Ihre Arbeitszeit wäre sauber geregelt, Überstunden müssten auch bezahlt werden, Entgeltstrukturen würden transparenter.“
Auch die Prämie für Gewerkschaftsmitglieder gehöre „in die tarifpolitische Realität unserer Branchen und passt in die Zeit“, sagt Oliver Heinrich, Tarifvorstand der IG BCE. „Wir haben in der IG BCE bereits für mehr als 300.000 unserer Mitglieder Vorteile vereinbart, und für keinen Arbeitgeber war das bislang ein Grund zur Flucht aus dem Tarif.“
Was passiert nach dem 1. September?
Was der Austritt für die Vergütung der Adidas-Mitarbeitenden bedeutet und welche Anpassungen HR nun treffen wird, dazu wollte sich der Sportartikelhersteller gegenüber unserer Redaktion nicht äußern. Nur so viel sagte die Unternehmenssprecherin: „Etwaige Lohnerhöhungen, die in der anstehenden Tarifrunde vereinbart werden, würden dann für die rund 4.600 bei Adidas tariflichen Beschäftigten natürlich trotzdem gelten.“ Die Aussage von Adidas impliziert: Man will weiter Teil der Tarifverhandlungen sein.
Thomas Ubber, Arbeitsrechtler und Partner bei Ubber Labour & Law, ordnet die Aussage folgendermaßen ein: „Adidas wird voraussichtlich künftig eigene Tarifverträge mit der IG BCE verhandeln müssen.“ Das Adidas-HR-Team brauche dafür Kompetenz und Erfahrung in der Gestaltung von Arbeitsbedingungen und im Umgang mit Gewerkschaften. Zudem müsse die Belegschaft auf dem weiteren Weg mitgenommen werden.
Bestehende Tarifkonditionen bleiben vorerst erhalten
Doch welche arbeitsrechtlichen Schritte muss das Dax-Unternehmen aufgrund seiner Entscheidung in den kommenden Monaten durchlaufen? Laut Ubber können Unternehmen zunächst einmal durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband die Tarifbindung verlassen. Oder sie wählen einen Mittelweg, wie es Adidas tut. Sie gehen in eine sogenannte OT-Mitgliedschaft beim Verband. Damit nehmen sie weiterhin Serviceleistungen des Arbeitgeberverbands wahr, sind aber nicht an dessen Tarifverträge gebunden.
Komplett frei in der Gestaltung der Mitarbeitervergütung ist Adidas ab September allerdings noch nicht. „Allein durch den Verbandsaustritt kann sich ein Unternehmen nicht so einfach aus der Tarifgeltung entziehen“, sagt Ubber. Denn: Bestehende Tarifverträge gelten über das Austrittsdatum so lange weiter, bis sie aufgehoben oder geändert werden, dies bezeichnet man als „Nachbindung“. Im Falle von Adidas wird diese Nachbindung bis zum Abschluss der erst begonnenen Tarifverhandlungen in der Sportartikel- und Schuhindustrie gelten.
Wurde ein neuer Tarifvertrag in der Branche beschlossen, beginnt laut Ubber die Phase der „Nachwirkung“. „Von diesem Zeitpunkt an können die Tarifverträge durch andere Abmachungen ersetzt werden, sie gelten auch nicht mehr für neu eingetretene Mitarbeitende“, sagt der Arbeitsrechtler, der zuletzt auch die Deutsche Bahn bei den aufreibenden Tarifverhandlungen beraten hat.
Es wird folglich noch einiges an Arbeit auf das HR-Team zukommen. Ist die anstehende Aufgabe Adidas‘ Schritt, aus der Tarifbindung auszutreten, wert? Das liegt wahrscheinlich im Auge des Betrachters oder der Betrachterin. Anwalt Ubber jedenfalls kann Adidas‘ Entscheidung nachvollziehen. Nur durch eine Nicht-Eingruppierung der hochqualifizierten Mitarbeitenden könnte man ihnen flexible Boni-Modelle anbieten. Prämien für Gewerkschaftsmitglieder wiederum würden zwar immer beliebter bei Gewerkschaften werden, um neue Mitglieder anzuwerben und die eigene Macht zu stärken. Sie stünden aber nicht immer im Unternehmensinteresse.
Tarifbindung in Deutschland sinkt seit Jahren
Adidas ist nicht das einzige Unternehmen, das in jüngster Zeit eine Tarifbindung verlassen hat. So hatte Volkswagen im September letzten Jahres eine Reihe von Tarifverträgen mit der IG Metall gekündigt, um eigenen Aussagen nach eine „umfassende Restrukturierung“ durchführen zu können. Der Wagenhersteller Bizerba verließ im November 2024 den Arbeitgeberverband Südwestmetall – ebenfalls, um mehr Flexibilität in der aktuell herausfordernden wirtschaftlichen Lage zu haben.
Die Unternehmen stehen stellvertretend für eine sinkende Tarifbindung, die sich in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland gezeigt hat. Laut dem Statistischen Bundesamt (Destatis) haben 2024 49 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in tarifgebundenen Unternehmen gearbeitet. 1998 sind es im Westen Deutschlands noch 76 Prozent und im Osten 63 Prozent gewesen. Diesen Trend möchte die Bundesregierung mit dem neuen Tariftreuegesetz eigentlich umkehren. Davon scheinen sich Unternehmen wie Adidas allerdings nur wenig beeindrucken zu lassen.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich am 11. August und wurde am 21. November upgedatet.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.

