Stichtage lösen bei vielen Menschen teils unterbewusst Prozesse aus, die nicht immer rational verlaufen. Das galt besonders im Jahr 1999, als das bevorstehende neue Jahrtausend (christlicher Zeitrechnung) allerlei psychologische, aber auch realwirtschaftliche Sorgen mit sich brachte. Positive Energie versprach hingegen ein Phänomen, dass seinerzeit – honi soit qui mal y pense – voll im Trend lag und von HR-Professionals eifrig diskutiert wurde: Die Frage, ob Power-Kongresse mit Motivations-Gurus auf den Unternehmenserfolg einzahlen können.
Während die Personalwirtschaft Anfang des Jahres 1999 ihren 25. Geburtstag feiert, versetzen in den Folgemonaten drei Buchstaben die Welt und auch viele Personalabteilungen in Aufruhr: Y2K (= Jahr 2000). Die Angst vor dem sogenannten Millenium-Bug rührte daher, dass ein großer Teil der Computer seinerzeit mit zweistelligen Jahreszahlen rechnete (1999 = 99) und die Befürchtung umging, viele IT-Systeme könnten zum neuen Jahrtausend fälschlich ins Jahr 1900 umspringen und so flächendeckend Bugs produzieren oder ganz ausfallen. Seriösen Schätzungen zufolge wurde daher weltweit knapp eine halbe Billiarde Dollar für System-Updates ausgegeben.
Auch in unserem Magazin wurde das Thema verschiedentlich aufgegriffen – und zum Teil kontrovers diskutiert: Während der damalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, forderte, die Umstellung „zur Chefsache zu erklären“ und großflächig Ressourcen einzusetzen, kam eine Umfrage von Debis Systemhaus – einer späteren Telekom-Tochter – unter hundert deutschen Großunternehmen zu dem Ergebnis, der Umstellungsaufwand liege bei rund der Hälfte der Fälle bei „unter fünf Prozent eines IT-Jahresbudgets“.
Nach Sylvester kam es in Deutschland dann tatsächlich zu verschiedenen Systemausfällen und mitunter absurden Abrechnungen (etwa Säumniszinsen für 100 Jahre!) – das große Chaos blieb jedoch aus.
Hype des Jahres
Doch auch „weiche“ Themen spielten in unserem Magazin eine wichtige Rolle – unter anderem die Frage, ob Großveranstaltungen oder Seminare mit Motivations- Gurus – besucht wurden etwa Events der später nicht unumstrittenen Vera F. Birkenbihl oder eines “Money Coaches” namens Bodo Schäfer – ein adäquates Instrument zur Personalentwicklung sind. Das Expertenfazit fiel zurückhaltend aus: „Teamarbeit wird nicht gefördert; hier sind alle Einzelkämpfer und in einer konsumierenden Rolle“. Zudem bleibe das Arbeits- und Organisationsumfeld unverändert. Wirksamer seien Ansätze wie Führungskräftecoaching. Und: „Entwicklungschancen kann ich nicht mit einer Tüte voller Bücher, Videos und Checklisten nach Hause tragen.“
Change des Jahres
Im Bereich Sozialpartnerschaft bahnten sich 1999 zunehmend zwei Entwicklungen an, welche die zuvor etablierten Mechanismen im Bereich Tarifpolitik nachhaltig verändern würden: Die Rede ist von den sogenannten OT-Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden sowie der avisierten Gründung einer sektorenübergreifenden neuen Großgewerkschaft.
Bei ersteren handelt es sich um die Möglichkeit, dass Unternehmen per Sondermitgliedschaft einem Arbeitgeberverband angehören können, ohne dabei (direkt) der jeweiligen Tarifbindung zu unterliegen. Während kritische Stimmen vor derlei „Tarifflucht“ warnten, wurde anderenorts drauf verwiesen, dass die Sozialpartnerschaft klassischen Zuschnitts „auf Zukunftsbranchen wie Software, Multimedia oder Dienstleistung nur eine geringe Attraktivität ausstrahlt“.
Zugleich waren seinerzeit – ein Trend, der bis vor kurzem anhielt – sowohl im Arbeitgeber-, als auch im Arbeitnehmerlager ein deutlich sinkender Organisationsgrad und Mitgliedszahlen zu verzeichnen. Zudem lahmte die Konjunktur. Diesen Aspekt griff im Sommer 1999 auch unser Gastautor Wolfgang Scheremet vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung auf. Seine Prognose: „Viele Unternehmen, die heute dem Flächentarifvertrag den Rücken gekehrt haben“, würden bei einer etwaigen wirtschaftlichen Belebung „dann wieder Schutz bei kollektiven Abschlüssen suchen, um die eigenen Lohnzuwächse begrenzen zu können“.
Bei zweiterem ging es um eine 1997 begonnene Entwicklung, die 2001 in der Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) münden sollte: Fünf Arbeitnehmerorganisationen aus dem privaten und öffentlichen Dienstleistungssektor, die über 1.000 Berufsprofile vertraten, planten die Bildung einer neuen gemeinsamen Organisation. Beteiligt waren Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), Deutsche Postgewerkschaft, Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen, Industriegewerkschaft Medien sowie die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr.
Ihr Ziel, so der damalige DAG-Chef Roland Issen bei uns im Interview: „Wir wollen unseren Einfluss auf die Politik verstärken, und wir wollen unsere politische Schlagkraft in Richtung der Arbeitgeberorganisationen erhöhen. Einzelgewerkschaften werden sich nicht mehr gegeneinander ausspielen lassen.“ Ob und inwieweit das seitdem gelungen ist, kann hier nicht erörtert werden, sondern bleibt einer Eischätzung der sozial- und gewerkschaftsgeschichtlichen Forschung vorbehalten.
Zitat des Jahres
Das Bundesarbeitsgericht hatte unterdessen eine ganz praktische Frage aus dem Personalwesen zu klären. Zum Leidweisen vieler Anhänger klassischer Sekundärtugenden entschieden die Richter:
„Der Arbeitgeber erfüllt den Anspruch des Arbeitnehmers auf Erteilung eines Arbeitszeugnisses auch mit einem Zeugnis, das er zweimal faltet, um den Zeugnisbogen in einen Geschäftsumschlag üblicher Größe unterzubringen, wenn das Originalzeugnis kopierfähig ist und die Knicke im Zeugnisbogen sich nicht auf den Kopien abzeichnen, zum Beispiel durch Schwärzungen.“
Die Portokasse wusste es zu danken.
Orthographie-Beschluß des Jahres
Im letzten Jahr des alten Jahrtausends waren in der Personalwirtschaft nicht nur das Jahr-2000-Problem und die bevorstehende Euro-Umstellung Thema, sondern auch eine Änderung, die zuvor republikweit über lange Zeit die Gemüter erregt hatte: Die Reform der deutschen Rechtschreibung.
Anno 1996 auf den Weg gebracht, starteten zum August 1999 die meisten Nachrichtenagenturen, Tageszeitungen und auch unsere Redaktion damit, das veränderte Regelwerk anzuwenden. Das sorgte anfangs für etwas Stress (zuvor: Streß), galt es doch, mit alten Gewohnheiten zu brechen und Texte besonders gründlich zu redigieren – ein Los, das später auch Unternehmen und Personalabteilungen teilten.
Info
Im Jubiläumsjahr der Personalwirtschaft blicken wir jede Woche auf einen Jahrgang des Magazins zurück. Jeden Mittwoch erscheint dazu ein Text auf personalwirtschaft.de.
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Frank Strankmann ist Redakteur und schreibt off- und online. Seine Schwerpunkte sind die Themen Arbeitsrecht, Mitbestimmung sowie Regulatorik. Er betreut zudem BetriebsratsPraxis24.de, unser Portal für Mitbestimmung.