Die Diskussion um Krankschreibungen geht weiter. Erst kritisierten Wirtschaftsexpertinnen und -experten sowie CEOs die hohen Fehltage in Deutschland, dann schlug Allianz-Chef Oliver Bäte vor, einen Karenztag einzuführen, um Blaumachern einen Strich durch die Rechnung zu machen. Nun hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) angeregt, Beschäftigten im Krankheitsfall ein längeres Fehlen ohne ärztliche Bescheinigung zu ermöglichen.
KBV-Chef Andreas Gassen hatte im Redaktionsnetzwerk Deutschland vorgeschlagen, dass Arbeitnehmende künftig erst nach dem vierten oder fünften Krankheitstag eine ärztliche Bescheinigung vorlegen müssen. Derzeit gilt die Verpflichtung ab dem vierten Kalendertag der Arbeitsunfähigkeit. Zudem räumt das Gesetz Arbeitgebern das Recht ein, bereits früher ein Attest zu verlangen. Diesen Spielraum für Arbeitgeber kritisierte Gassen. Er argumentierte, die derzeitige Regelung führe zu einer großen Zahl unnötiger Arztbesuche, die Praxen zusätzlich belasteten.
Arbeitgeber kritisieren den Vorschlag
Der Vorschlag stößt wenig überraschend bei der Arbeitgeberseite auf Kritik. Fürchte man doch, dass damit die bereits hohen Fehltage noch mehr ansteigen. Laut der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) würde eine solche Änderung zusätzliche Belastungen verursachen, ohne die zugrundeliegenden Probleme im Gesundheitswesen zu lösen.
„Eine pauschale Verlängerung der Karenzzeit würde die Arbeitgeberseite zusätzlich belasten, ohne die strukturellen Probleme zu lösen“, sagt der Hauptgeschäftsführer der BDA, Steffen Kampeter, der dpa. Zunächst stellt Kampeter in Frage, ob der KBV-Vorschlag überhaupt einen positiven Effekt auf das Gesundheitssystem hat. Seiner Meinung nach ist es keine geeignete Maßnahme, um die Effizienz des Gesundheitssystems zu steigern.
Eine Auswertung der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) aus dem Jahr 2024 kann dies zu einem gewissen Grad untermauern. Demnach sind Angestellte im Durchschnitt am Stück 9,7 Tage krank, was über der aktuellen Attestpflicht ab dem vierten Krankheitstag liegt. Pro Jahr sind Angestellte im Jahr 2024 zudem im Schnitt 19,7 Tage krank gewesen. Eine Krankschreibung nach dem vierten oder fünften Tag würde damit wohl nicht bedeuten, dass weniger Menschen zum Arzt gehen, da sie dann zu einer hohen Wahrscheinlichkeit immer noch krank sind.
Krankschreibungen kosten mehrere Milliarden Euro
Für den Arbeitgeber habe die Regelung negative Auswirkungen – wie der BDA gegenüber unserer Redaktion vertieft. „Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall belastet die Arbeitgeber in Deutschland schon heute mit mehr als 82 Milliarden Euro jährlich – Wert für 2024“, sagte ein Sprecher des BDA. „Damit sind die Kosten der Arbeitgeber für Lohnfortzahlung höher als alle Ausgaben der Pflegeversicherung und auch höher als die Ausgaben Deutschlands für die Verteidigung.“ Diese Kosten müssten sich lohnen. Arbeitgeber müssten sich darauf verlassen können, dass die Zahlung zu Recht erfolgt und die Beschäftigten wirklich arbeitsunfähig sind.
„Wird die Regelung zu den Tagen, nach denen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werden muss, erweitert, droht die Gefahr, dass dies in unzulässiger Weise ausgenutzt wird – und damit die Belastung der Arbeitgeber weiter steigt. Das sogenannte ‚Blaumachen‘ ist zwar kein Massenphänomen, aber auch nicht zu negieren, wie aktuelle Umfragen zeigen“, so der BDA-Sprecher.
Darin, dass Arbeitgeber eine unternehmensinterne Regelung einführen können, mit der sie ein Attest ab dem ersten Krankheitstag fordern, sieht der BDA anders als Gassen kein Problem. Und zwar, weil dieser Spielraum ohnehin nicht häufig genutzt werde und somit nicht zu mehr Arztbesuchen führen könne. „Schon heute muss nach eigenen Angaben nur jeder vierte Beschäftigte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab dem ersten Tag bei seinem Arbeitgeber vorlegen – das zeigt der DAK Gesundheitsreport 2025“, heißt es vonseiten des BDA. „75 Prozent können sich für einige Tage selbst bei ihrem Arbeitgeber krankmelden. Der Vorschlag greift also nicht grundlegend und ist weitgehend längst gelebte Realität.“
Arbeitsrechtler sieht Entlastung
Michael Riedel, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Advant Beiten, zeigte sich offen für die Idee einer längeren Frist ohne Attest. „Der Vorschlag kann durchaus zur gewünschten Entlastung der Ärzte und des Gesundheitssystems beitragen. Im Idealfall bewirkt er sogar einen Rückgang der enormen Fehlzeiten“, erklärte er auf Linkedin. Er wies jedoch auch darauf hin, dass es für die Zeit ohne Attest keine Entgeltfortzahlung für Arbeitnehmende geben sollte, ähnlich, wie es schon Allianz-Chef Oliver Bäte forderte.
DGFP fordert individuelle Strategien
Auch die Deutsche Gesellschaft für Personalführung (DGFP) betrachtet das Thema Krankheitstage als eines der zentralen Themen der vergangenen Jahre. Laut dem HR-Verband können und sollten Fehlzeiten allerdings nicht alleine durch Regulatorik gesenkt werden. Vielmehr sei es eine Frage der Unternehmenskultur und eine Problematik, bei der Einzelfälle von Arbeitgebern angeschaut werden müssten.
Die DGFP betont, dass zur Reduktion von Krankheitstagen individuelle, datenbasierte Ansätze erforderlich sind. Führungskräfte sollten den Dialog mit Mitarbeitenden suchen und gezielte Maßnahmen ergreifen. Statt auf verstärkte Kontrolle zu setzen, spielten Dialoge und eine vertrauensvolle Unternehmenskultur eine wichtige Rolle. Zudem benötigen Führungskräfte sowohl rechtliche Sicherheit als auch emotionale Kompetenz. Pauschale Lösungen sind dabei nicht zielführend. Vielmehr benötigt es nachhaltige und maßgeschneiderte Strategien.
Justin Geschwill ist Volontär der Personalwirtschaft.

