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Die Komplexitätstheorie bei Change-Prozessen

Komplexe Systeme folgen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. (Foto: Adobe Stock/Funny Studio)
Komplexe Systeme folgen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. (Foto: Adobe Stock/Funny Studio)

Teil VII: Komplexität verstehen, um Veränderungsvorhaben richtig anzugehen

Autorin: Marion Walz

Etwas Komplexes ist nicht einfach sehr kompliziert. Komplexe Systeme folgen grundsätzlich anderen Gesetzmäßigkeiten. Deren Kenntnis ist eine wichtige Grundlage für die wirksame Gestaltung von Veränderungsvorhaben in komplexen sozialen Systemen. Komplexe Systeme bestehen aus einigen oder vielen miteinander in Wechselwirkung stehenden Elementen. Die Beziehung zwischen diesen Einzelteilen, zwischen Ursache und Wirkung, ist nicht linear (kleine Ursachen können überproportional große Auswirkungen haben, auch als Schmetterlingseffekt bekannt). Deshalb ist das Verhalten des gesamten Systems nicht vorhersehbar und nicht direkt steuerbar. Das Ganze ist etwas anderes als die Summe der Einzelteile, so, wie eine Omelette nicht der Summe ihrer Zutaten entspricht. Ein komplexes Problem lässt sich also auch nicht in kleinere Pakete zerstückeln, die unabhängig voneinander gelöst und dann wieder zu einer Gesamtlösung zusammengesetzt werden können. 

Organisationen sind zwar komplexe Systeme, aber nicht alles im organisationalen Kontext ist komplex. Entscheidungsträger sollten unterscheiden können, mit welcher Art von Herausforderung sie es zu tun haben, um wirksam agieren zu können. Das sogenannte › Cynefin-Framework  von Prof. Dave Snowden ist dafür eine wertvolle Orientierungshilfe.

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Darstellungen von Dave Snowden, Cognitive Edge Ltd. (www.cognitive-edge.com)
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Darstellungen von Dave Snowden, Cognitive Edge Ltd. (www.cognitive-edge.com)

Change-Prozesse gestalten

Bei Change-Prozessen geht es in der Regel darum, dass sich eine Unternehmenskultur und damit menschliches Verhalten verändern soll. Menschen und soziale Systeme sind keine Maschinen, die sich auf Knopfdruck immer vorhersehbar nach dem Muster „wenn A, dann folgt B“ verhalten. Sie verhalten sich komplex. Also sind Change-Prozesse an sich komplexe Herausforderungen, und es stellt sich die Frage nach den Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache. Hier eine Auswahl:

Unternehmenskultur ist nicht direkt beeinflussbar: Sie kann nicht am Reißbrett entworfen und anschließend in der Organisation „ausgerollt“ werden, sondern ist eine Resultierende aus dem Zusammenspiel der Beteiligten im System. Man nennt dieses Phänomen der Musterentstehung „Emergenz“. Unternehmenskultur ist kein direkter Hebel, an dem ich ansetzen kann, sie „emergiert“.

Hauptaugenmerk ist das Schaffen der richtigen Rahmenbedingungen:
Sie entsprechen direkten Variablen. Dadurch soll eine effektive Selbstorganisation ermöglicht werden. Es geht nicht um das „Managen” und „Treiben” von Veränderungen. Zu oft fordert das Management von oben Veränderungen des Mindsets und Verhaltens, ohne dass die Strukturen, Prozesse und Anreize zu diesen Erwartungen passen. Werden zum Beispiel Leistungen von Einzelkämpfern incentiviert, laufen Appell und Arbeit am Thema Teamgeist ins Leere.

Fokus auf die Interaktionen zwischen den einzelnen Elementen: Persönlichkeitsentwicklung und Reflexion jedes Einzelnen haben selbstverständlich ihren Stellenwert. Um ein System als Ganzes innerhalb kurzer Zeit zu bewegen, sind sie jedoch unzureichend, vor allem, wenn die Rahmenbedingungen in die entgegengesetzte Richtung wirken. Die Gefahr liegt darin, zu glauben, dass alles in Ordnung wäre, hätte der Mitarbeiter nur eine andere Haltung.  Wenn das Ganze  etwas anderes ist, als die Summe der Einzelteile, dann ist die Leistung des Ganzen das Produkt der Interaktionen der Teile. „To manage a system effectively, you might focus on the interactions of the parts rather than their behaviour taken separately.” (Russell L. Ackoff)

Fokus auf das evolutionäre Potential der Gegenwart: In einer Welt der Unsicherheit, in der Überraschungen an der Tagesordnung und bestenfalls Vorhersagen kurzfristiger Natur möglich sind, macht die Definition eines fixen Ziels und der Versuch, von dort aus rückwärts zu planen, keinen Sinn. Einerseits kann man nicht direkt, zielgerichtet Einfluss nehmen. Andererseits birgt ein solches Vorgehen das Risiko eines Tunnelblicks. Dieser verhindert, dass wichtige, unvorhersehbare Informationen wahrgenommen werden und Berücksichtigung finden. Es gilt, immer wieder zu beantworten: Wo stehen wir gerade jetzt, und was ist als nächster Schritt in die aus heutiger Sicht angestrebte Richtung möglich? Prof. Dave Snowden spricht auf seinem Webblog „Cognitive Edge” vom ‚evolutionären Potential der Gegenwart‘.

Die organisationale Resilienz stärken:
In einem komplexen Gefüge gewinnt die Fähigkeit eines Systems an Bedeutung, durch rasche Anpassung und Lernen sinnvoll und zügig auf Überraschungen aller Art reagieren zu können. Resilienz benötigt als eine wichtige Grundvoraussetzung Diversität, also möglichst unterschiedliche Erfahrungen, Perspektiven und Fähigkeiten. Ein häufig verwendetes Schlagwort zur gemeinsamen Ausrichtung in Organisationen lautet „Alignment”. Eine gemeinsame Ausrichtung ist wichtig. Die Gefahr liegt jedoch in der Übertreibung, der Gleichmacherei, und somit in der Reduktion der wichtigen Heterogenität von Perspektiven und Lösungskompetenzen. Konformität und Konsens sind unter unsicheren Bedingungen Gift. Im Gegenteil: Das aktive Fördern unterschiedlicher Auffassungen ist sinnvoll.

Zunehmende Wichtigkeit kollektiver Intelligenz:
Es sind kollaborative und partizipative Ansätze gefragt. Die Steuerung durch Hierarchie weicht immer mehr der Autonomie und Eigendynamik des Systems. Die Rolle von Führungskräften verändert sich, auch im Zusammenhang mit Change-Prozessen: weg vom Vordenker, der alles allein entscheidet, plant, umsetzt und kontrolliert, Planer erfolgreicher Umsetzungsprozesse und Kontrolleur hin zum Impulsgeber und Mitgestalter partizipativer Prozesse – und hin zur Kooperation in intelligenten Netzwerken. Damit zusammenhängend sollten Verantwortliche über die Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen im Sinne einer schnellen, adäquaten Reaktionsfähigkeit nachdenken.

Aus Fehlern lernen: Nachdem es bei Komplexität in der Natur der Sache liegt, dass viele Unwägbarkeiten vorkommen, sind Fehler unvermeidlich. Scheitern gehört dazu. Statt Fehlervermeidungsstrategien zu verfolgen, geht es darum, Vielversprechendes auszuprobieren, das Risiko für fatale Folgen auszuschließen und ansonsten Fehler in Kauf zu nehmen, um daraus zu lernen.

Frühes Erkennen schwacher Signale:
In komplexen Systemen können Entwicklungen sehr schnell ablaufen. Dynamiken können sich regelrecht aufschaukeln. Somit ist das frühe Erkennen schwacher Signale, zum Beispiel in Bezug auf Marktentwicklungen, ein weiterer außerordentlich wichtiger Aspekt zur Erhöhung der Resilienz. Jeder Zeitvorsprung kann einen grossen Unterschied machen.

Strategischer Vorteil durch Daten-Monitoring und Daten-Analyse:
Wie können Verantwortliche schwachen Signale wahrnehmen und diese Informationen zeitnah allen relevanten Entscheidungsträgern zugänglich machen? Und wie ist eine fortlaufende Standort-Bestimmung quasi in Echtzeit möglich? Alljährliche oder einmalige Mitarbeiterbefragungen, deren Auswertung mehrere Wochen in Anspruch nehmen, sind angesichts der Dynamik der Umwelt nicht mehr ausreichend. Gerade im Zusammenhang mit Veränderungsprozessen und angesichts der Beantwortung der Frage „Wo stehen wir heute?” sind ein fortlaufendes Monitoring, Change Analytics und Feedback in Echtzeit notwendig – und angesichts technologischer Fortschritte auch machbar. Die Mitarbeiter einer Organisation dienen dabei als eine Art menschliches Sensoren-Netzwerk.

Prädispositionen des Systems berücksichtigen: Komplexe Systeme sind nicht vorhersehbar, aber sie verfügen über mehr oder weniger starke Neigungen sich in die eine oder andere Richtung zu entwickeln. Diese können über Datenanalysen dargestellt werden, welche ermöglichen, Interventionen zielgerichteter und mit optimalerem Timing, kurz ressourcensparender einzusetzen.

Kontextabhängigkeit berücksichtigen: Das Übertragen von Rezepten und „Best Practices“ funktioniert in komplexen Systemen, wenn, dann eher zufällig. Jeder Fall gestaltet sich anders und ist stark abhängig vom jeweiligen Kontext. Ein einfaches Beispiel ist Business-Etikette: Gepflogenheiten, die in einem kulturellen Kontext als „Best Practice” gelten, können in anderen Kulturkreisen für große Irritation sorgen. Und nicht jeder, der eines der vielen „Die zehn Punkte zum Erfolg”-Rezepte beherzigt, ist auch tatsächlich erfolgreich. Technologie-Standorte können nicht einfach durch Imitation des Silicon Valley erfolgreich aus dem Boden gestampft werden, denn es gibt unzählige, erfolgsrelevante Standort-Unterschiede.

Beachtung unbeabsichtigter Konsequenzen: Vorsicht ist geboten, wenn wir wissen, dass aufgrund unbekannter Wirkungszusammenhänge ungewollte Konsequenzen unvermeidbar sind. Ein Beispiel: In einem Produktionsbetrieb ist die Hilfsbereitschaft unter den Kollegen stark zurückgegangen, als das Unternehmen begonnen hat, Arbeitseinheiten von wenigen Minuten zu takten und zu messen. Es war schlicht keine Zeit mehr für gegenseitige Unterstützung. Es ist davon auszugehen, dass größere Eingriffe in der Tendenz auch größere ungewollte Konsequenzen mit sich bringen. Deshalb sind viele kleine und parallele „safe-to-fail”-Versuche zielführender als einzelne, große Change-Interventionen. „Safe-to-fail” heißt: Das Risiko des schlimmsten möglichen Verlaufs ist begrenzbar.

Schlussfolgerungen für die Personalabteilung

HR ist bei Change interner Dienstleister, Sparring-Partner und manchmal auch in der Leitung von Projekten. Zudem hat HR eine zentrale Rolle bei der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften. Es lohnt sich also, sich ein fundiertes Verständnis von Komplexität und dessen Implikationen für Change anzueignen. Des Weiteren sehe ich für HR folgenden Handlungsbedarf:

  1. Experimentieren mit ausgewählten Gestaltungsmöglichkeiten, um Erfahrungswissen zu sammeln und Handlungssicherheit zu gewinnen,
  2. Hinterfragen und ggf. Überarbeiten des bisherigen Vorgehens in Zusammenarbeit mit anderen Organisationseinheiten und
  3. Überdenken der Inhalte und Schwerpunkte der eigenen Führungskräfteentwicklung.

Quellen
Die Beschreibungen zum Thema Komplexität beruhen unter anderem auf Beiträgen von › Prof. Dave Snowden, des › Santa Fe Institute und folgender Literatur (Auswahl):
„Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten”, Prof. Dr. Dr. Hermann Haken und Univ. Prof. Dr. phil. Günter Schiepek, Hogrefe Verlag, 2010.
„Therapeutisches Chaos – Eine Einführung in die Welt der Chaostheorie und der Komplexitätswissenschaften”, Prof. Dr. Günter Schiepek und Dr. Dr. Guido Strunk, Hogrefe Verlag, 2014.
„Leben wir in einer immer komplexer werdenden Welt? Methoden der Komplexitätsmessung für die Wirtschaftswissenschaft”, Dr. Dr. Guido Strunk, Complexity-Research e.U., 2019.
„Complexity and the Nexus of Leadership”, Jeffrey Goldstein, James K. Hazy und Benyamin B. Lichtenstein, Palgrave Macmillan, 2010.
„Embracing Complexity: Strategic Perspectives for an Age of Turbulence”, Jean G. Boulton, Peter M. Allen und Cliff Bowman, Oxford University Press, 2015.
„The evolutionary potential of the present”, Cognitive Edge [Weblog], Prof. Dave Snowden, 2015.

+++ Weiterführende Links zum Thema Komplexitätstheorien +++
– Übersicht über die › verschiedenen Komplexitätstheorien
– Ein Beispiel zur Erkennung von › neuen Mustern in sozialen Systemen ist der Sensemaker® von Cognitive Edge


Die Artikel dieser Serie erscheinen im Abstand von zwei bis drei Wochen. Die Serie richtet sich an alle, die in irgendeiner Form mit Veränderung zu tun haben und sich mit den relevanten Aspekten von wirksamem Wandel auseinandersetzen wollen. Außer den Namen der Themen verzichten wir weitestgehend auf Modewörter. Wir wollen ja schließlich nicht den ersten Preis im Bullshit-Bingo gewinnen, sondern eine Bewegung vorantreiben.

+++ Weiterlesen zum Thema #New Change +++

› Teil VI der Serie: Mit Conscious Leadership Change-Prozesse positiv beeinflussen

› Teil V der Serie: Design als Erfolgsfaktor im Change

› Teil IV der Serie: Agilität im Change

› Teil III der Serie: Change aus verhaltensökonomischer Perspektive erklärt

› Teil II der Serie: Mit Gamification spielend verändern