Das Biotechnologieunternehmen
Curevac ist als Impfstoffhersteller denkbar nah am Puls dieser Zeit. Das bringt
maximale Chancen, aber auch maximalen Druck mit sich. HR-Chef Andreas Bieber
erklärt, was das für die interne Kultur und die Lernprozesse bedeutet.
Andreas Bieber ist Vice President Human Resources bei Curevac. Das Unternehmen wurde als Hersteller von
mRNA-Impfstoffen in der Pandemie bekannt, hat bis dato aber noch kein Präparat
zum Schutz vor Covid-19 am Markt. Das schnellstmöglich zu ändern, hat laut
Bieber intern Priorität: „Der absolute Fokus liegt für uns auf dem Vakzin,
dafür haben wir viele Ressourcen verschoben. Wir hoffen auf die Zulassung und
den Vertriebsbeginn noch in diesem Quartal.“ Wir haben den HR-Chef gefragt, welche weiteren
Auswirkungen der Hochdruck auf das Personalmanagement und speziell auf das
Thema Lernen und Entwicklung hat.
Personalwirtschaft: Herr Bieber, wie ist die Stimmung bei Curevac? Für Ihr Unternehmen
ist die Situation ja noch herausfordernder als für andere.
Andreas Bieber: Es ist absolut besonders, ja. Ich
habe eine relativ lange Historie als Personalleiter in teils viel größeren
Unternehmen. Aber die Kurzfristigkeit, in der wir zurzeit agieren müssen, ist
wirklich extrem. Es zählt jeder einzelne Tag. Ich sage es mal drastisch: Da
draußen sterben im Moment Menschen. Einige könnten vielleicht überleben,
wenn unser Vakzin auf den Markt kommt. Die Stimmung im Unternehmen ist
deshalb gleichzeitig erwartungsvoll und angespannt, weil wir dieses Vakzin zu
einem Erfolg machen wollen. Dafür kämpft jeder Einzelne hier, nicht nur gerade,
sondern seit geraumer Zeit. Angespannt ist es, weil wir zeitlich etwas
hinterher sind und logischerweise einen gewissen Druck spüren.
Wie macht sich das zum Beispiel bemerkbar?
Egal,
wo Sie privat oder beruflich hinkommen: Wenn jemand hört, Sie sind von Curevac,
fragt er als Erstes, wann das Vakzin auf den Markt kommt. Aber
Impfstoffentwicklung und -produktion ist
eben ein längerer und mit Sicherheitsfragen behafteter Prozess, und unser
Anspruch ist, ihn konsequent und strukturiert zu Ende zu bringen.
Andere Unternehmen waren schneller. Haben die einen anderen
Anspruch?
Ob er anders ist, liegt im Auge des Betrachters.
Unser Anspruch – nicht nur bei diesem >Impfstoff, sondern bei der Entwicklung
der mRNA-Technologie – besteht darin, dass wir die Möglichkeiten zur Behandlung
menschlicher Krankheiten um ein zukunftsträchtiges Spektrum erweitern. Die
Nutzbarmachung dieser Technologie wird neue Horizonte in der medizinischen
Behandlung eröffnen. Nun sind wir nicht die ersten, die mit einem Produkt auf
den Markt kommen, aber wir waren die ersten, die sich mit dem Thema intensiv
beschäftigt haben. Inzwischen haben wir fast 20 Jahre Erfahrung damit und
können mit voller Überzeugung sagen, dass mRNA neue Behandlungsoptionen auch
für andere Bereiche eröffnen wird, zum Beispiel in der Onkologie.
Was bedeutet die Rolle als mRNA-Pionier für die Unternehmenskultur
und das Selbstverständnis der Belegschaft?
Da
möchte ich kurz ausholen: Wir sind im letzten Jahr in den Fokus der
Öffentlichkeit gerückt, aber unsere Organisation hat sich unter ganz anderen
Umständen entwickelt. Anfangs mussten sich unsere Gründer und unsere
Mitarbeiter fragen lassen, warum sie sich für dieses Thema engagieren, an das
damals niemand geglaubt hat. Diese Erfahrung hat unsere Unternehmenskultur
geprägt: Wir sind ein sehr heterogenes Team aus jungen und erfahrenen Menschen,
die mit viel Kompetenz, Kreativität und vor allem Einsatz an ihre Aufgabe
herangehen. Unsere inzwischen über 650 Mitarbeiter stammen aus über 40 Ländern,
und der Hauptgrund, warum sie bei uns arbeiten wollten und wollen, ist der
Glaube, dadurch wirklich etwas bewegen zu können.
Was hat das vergangene Jahr diesbezüglich verändert?
Die
Veränderung macht sich daran fest, dass wir nicht mehr nur mittel- und
langfristig unterwegs sind. Bisher lag unser Fokus auf Forschung und
Entwicklung, die Kommerzialisierung und die großvolumige Produktion waren eher
perspektivische Ziele. Das hat sich durch >Covid schlagartig verändert: Jetzt
können und müssen wir produzieren, müssen die Zulassung und unsere
Lieferfähigkeit sicherstellen – die Time to market, um es neudeutsch zu sagen,
hat sich drastisch verringert. Das bedingt auch kulturell einen Wandel: hin zum
konkreten Umsetzungsgedanken, hin zu Das-muss-jetzt-passieren, und zwar in
kurzer Zeit. Das ist ein großes Lernfeld.
Wir brauchten und brauchen viel mehr Menschen als bisher, um unsere Aufgabe zu
bewältigen.
Zumal wenn gleichzeitig die Belegschaft wächst.
Ja.
Wir brauchten und brauchen viel mehr Menschen als bisher, um unsere Aufgabe zu
bewältigen. Letztes Jahr hatten wir 450 Mitarbeitende, jetzt sind es über
650 – und wir haben aktuell über 300
Stellen zu besetzen, je schneller, desto besser. Das macht das Sourcing und
>Recruiting sehr herausfordernd. Zurzeit versuchen wir verstärkt, Menschen aus
dem Pharma-Umfeld ins Unternehmen zu holen, die mitbringen, was uns früher
fehlte: Expertise am hinteren Ende des Wertschöpfungsprozesses, beim Thema
Kommerzialisierung. Diese Menschen bringen natürlich ihre eigenen Erfahrungen
mit, sodass wir im Moment sozusagen zwei Kulturen im Unternehmen haben: eine
von Forschung und Technologie geprägte und eine umsetzungs- und
produktorientierte. Diese beiden Kulturen versuchen wir derzeit so zu
orchestrieren, dass sich daraus eine modifizierte Curevac-Kultur ergibt.
Liegt der Kulturunterschied auch darin begründet, dass die Leute
früher aus eigenem Antrieb und aus der ganzen Welt kamen, und Sie jetzt
branchengeprägtes Personal auf dem Pharmamarkt suchen müssen?
Die
meisten Leute kommen immer noch aus der ganzen Welt und aus intrinsischer
Motivation heraus zu uns. Sie sehen, dass es bei unserem Thema um etwas Großes
geht und dass wir in der Medizin an einer Schwelle stehen. Sie wollen einen
Beitrag leisten, diese Schwelle zu überschreiten, das ist ihr Hauptantrieb. Wir
haben im vergangenen Jahr knapp 15.000 Initiativbewerbungen erhalten, das ist
die dreifache Menge der Jahre zuvor und für ein Unternehmen unserer Größe
extrem viel.
Trotzdem bedarf es der Orchestrierung durch HR, wie Sie sagen.
Welche Methoden nutzen Sie dafür?
Das
übergeordnete Thema an dieser Stelle ist Kommunikation. Wir haben schon in der
Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass es sehr hilft, die Leute möglichst
früh eng einzubinden. Das fängt bei einem strukturierten >Onboarding-Prozess an,
über den wir die Neuankömmlinge damit vertraut machen, wer wir sind, was wir
tun und was unsere Werte bisher ausmacht. Der nächste Schritt ist, ihnen die
Möglichkeit zu geben, ihr Wissen und ihre Erfahrung einzubringen.
Wie sieht dieser nächste Schritt konkret aus?
Ich
habe es schon beschrieben: Wir sind eine sehr junge, diverse, lernfähige und
-willige Organisation. Das geht mit großer Offenheit der hier arbeitenden
Menschen einher. Sie sprechen die Neuen an: „Lass uns mal verstehen, wie Du
bisher gearbeitet hast und sag uns, was wir aus Deiner Sicht besser machen
können.“ Solchem Austausch versuchen wir möglichst viel Raum zu geben. Was im
Moment eine echte Herausforderung ist angesichts des Drucks, unter dem wir
stehen, und der Tatsache, dass circa ein Drittel der Mitarbeiter – die
allermeisten außerhalb der Produktion – im >Homeoffice arbeiten. Da gilt es,
eine Balance zu finden zwischen der operativen Performance und der
langfristigen Entwicklung der Menschen und der Organisation.
Welche Rolle spielen im Zuge dieser Integration gezielte
Qualifizierung respektive Upskilling?
In
erster Linie geht es für uns wie gesagt darum, frei gestaltbaren Raum zu
schaffen, in dem sich die Menschen austauschen, sodass Kultur wachsen kann. Zum
Beispiel arbeiten wir im Onboarding mit Mentoren. Auf >Upskilling im Sinne
gezielter Weiterbildung verwenden wir, um ehrlich zu sein, gerade nur sehr
selektiv Zeit. Vor Corona hatten wir eine Mittel- und Langfristplanung für
unsere internen Schulungsmaßnahmen: Wir haben für unsere Curevac Academy ein
Netzwerk aus externen Experten aufgebaut, setzen teils aber auch internes Personal
ein, das sein Wissen weitergibt. Jetzt, unter akutem Marktdruck und mit einem
Großteil der Mitarbeiter im Homeoffice, konzentrieren wir uns in der
Weiterbildung auf die größten Needs und vernachlässigen viele Themen bewusst.
Was sind die größten Needs?
Das
ist zum Beispiel das Thema Projektmanagement. Das große Projekt COVID-19-Vakzin gliedert sich in mehrere Teilprojekte, in denen viele
Menschen zusammenarbeiten und in denen wir Projektmanager mit unterschiedlichen
Qualifizierungs- und Zertifizierungslevels brauchen. Das lösen wir zurzeit über
virtuelle Seminare. Dann ist da noch die zweite Lernebene: Wie läuft das bei
uns im Unternehmen? Welches Projektmanagementsystem haben wir, wie organisieren
wir die ganze Sache? Das betrifft dann neue Mitarbeiter, und da arbeiten wir
mit dem erwähnten Mentoring- oder Patensystem: Wir stellen den Menschen einen
erfahrenen Kollegen an die Seite, der sie ins Team integriert und ihnen
erklärt, wie unsere Arbeit in der Praxis funktioniert.
Mittel- und langfristig wollen wir wieder ein Gleichgewicht zwischen formellem und informellem Lernen schaffen.
Ist das ungezielte, nicht formalisierte Lernen wichtiger als das
formalisierte?
Momentan
eindeutig ja. Weil wir einfach agil sein müssen und als Organisation eine
Entwicklung im Schnelldurchgang vollziehen. Da bringt uns das alltägliche
Lernen, das voneinander und in der gemeinsamen Praxis Lernen sehr weiter.
Weiterbildung begleitet das Ganze. Mittel- und langfristig wollen wir aber
wieder ein Gleichgewicht zwischen formellem und informellem Lernen schaffen.
Inwiefern hat die Pandemie mit ihren Begleiterscheinungen Ihren
persönlichen Blick und den der Mitarbeitenden auf Lernen verändert? Gab es da
irgendwelche Aha-Effekte?
Der
deutlichste Effekt betrifft das Thema virtuelles Zusammensein, speziell eben im
Kontext Lernen. Wir konnten ja nicht sagen, weil wir wegen Covid nicht
zusammenkommen können, bilden wir die Menschen nicht weiter; Qualifizierung und
Upskilling müssen permanent präsent sein, um ihren Wert zu behalten. Dass
Lernen auch virtuell funktioniert, war zwar nicht für mich persönlich
überraschend, aber in der Organisation hat sich da schon sehr vieles verändert,
es gibt eine andere Offenheit.
Worin zeigt sich das?
Als wir 2019 über mehrere Monate Web-based
Trainings mit 50 Mitarbeitenden testeten, stieß das auf wenig Resonanz; im
Review wurden Präsenzveranstaltungen klar bevorzugt. Jetzt, als es
pandemiebedingt nicht anders ging, wurden digitale Angebote sehr gut
angenommen. Unser New Normal im Learning dürfte eine Mischung aus neuen
Elementen und dem sein, was es schon vor Corona gab.
Wie namhafte Unternehmen wie Bosch, Daimler, DB Schenker, Kühne & Nagel
oder Rewe auf die Veränderungen im
Bereich Weiterbildung reagieren und was Personalerinnen und Personaler davon lernen können, lesen Sie in unserer aktuellen Titelgeschichte – jetzt auch
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Ist freier Mitarbeiter der Personalwirtschaft.