Obwohl die Konjunktur hierzulande stagniert, suchen Unternehmen in vielen Branchen dringend Personal. Laut einer neuen Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) fehlen derzeit bundesweit über 530.000 qualifizierte Arbeitskräfte. Bis 2027 werde mit einem Anstieg auf rund 728.000 Fachkräfte gerechnet.
Zwar sei, so die Kölner Forschenden, „die Fachkräftelücke zuletzt aufgrund der Wirtschaftskrise um fast 13 Prozent zurückgegangen“. Dennoch falle es vielen Unternehmen nach wie vor schwer, qualifizierte Mitarbeitende zu gewinnen. Konkret blieben zwischen Juli 2023 und Juni 2024 rein rechnerisch „vier von zehn offenen Stellen unbesetzt“, so das IW in seinem am Donnerstag erschienenen Kurzbericht.
Besonders betroffen sind demnach der soziale Bereich, das Gesundheitswesen, Handwerk sowie bestimmte technische Berufe (Elektro-, Maschinenbau- und Betriebstechnik).
In diesen Bereichen ist der Fachkräftemangel am größten:
| Rechnerisch nicht besetzbare offene Stellen im Jahresdurchschnitt 2023/2024 (absolute Zahlen) | |
| Branche / Berufsbild | Anzahl |
| Kinderbetreuung und -erziehung – Spezialist* | 21.013 |
| Sozialarbeit und Sozialpädagogik – Experte* | 18.325 |
| Bauelektrik – Fachkraft* | 18.287 |
| Gesundheits- und Krankenpflege – Fachkraft | 16.698 |
| Kraftfahrzeugtechnik – Fachkraft | 16.281 |
| Altenpflege – Fachkraft | 14.574 |
| Elektrische Betriebstechnik – Fachkraft | 13.834 |
| Verkauf (ohne Produktionsspezialisierung) – Fachkraft | 12.847 |
| Maschinenbau- und Betriebstechnik – Fachkraft | 12.651 |
| Physiotherapie – Spezialist | 12.539 |
Quelle: IW-Fachkräftedatenbank auf Basis von Sonderauswertungen der BA und der IAB-Stellenerhebung, 2024
Folgen für Gesellschaft, Arbeitsmarkt und Familien
Zwar sei das Phänomen als solches nicht neu. Laut dem Autorenteam um Jurek Tiedemann, Gero Kunath und Dirk Werner hat die Situation aber „nicht nur weitreichende Folgen für Eltern, sondern auch für den Arbeitsmarkt“. So müssten Eltern vielerorts „ihre Arbeitszeit reduzieren, um die Kinderbetreuung privat zu organisieren“. Das gelte besonders in den sogenannten alten Bundesländern, da in Ostdeutschland die Kinderbetreuung oft besser ausgebaut sei und dort bei Doppelverdienerfamilien mit minderjährigen Kindern „deutlich häufiger“ beide Elternteile in Vollzeit tätig seien.
Hinlänglich bekannt ist zudem, dass Personalknappheit zu mehr Arbeitsverdichtung und damit gesundheitlichen Folgen für Beschäftigte in betroffenen Betrieben führt. So konstatierte die Bertelsmann Stiftung in einer Analyse jüngst „dramatisch hohe Krankheitsausfälle beim Kita-Personal“.
Zudem führe die Knappheit in den genannten Bereichen dazu, dass etwa Angebote in der Berufseinstiegsbegleitung, in Kinder- und Jugendheimen sowie in der Schulsozialarbeit nicht ausreichend personell besetzt werden können. Weitere Folgen: Verzögerte Bauvorhaben oder lange Wartezeiten für Termine in Kfz-Werkstätten.
Gesundheitswesen und Pflege unter besonderem (demographischen) Druck
Im Gesundheitswesen und der Pflege ergibt sich laut IW darüber hinaus eine spezielle Herausforderung: Denn hier gestalte sich die Stellenbesetzung „besonders schwierig“ – insbesondere bei spezialisierten Fachleuten in der Physiotherapie. Dort konnten den Angaben zufolge zuletzt fast neun von zehn (85,7 Prozent) Vakanzen nicht besetzt werden. Wegen der demografischen Entwicklung sei in diesen Berufen zudem mit einer weiteren Verschärfung der Lage zu rechnen.
Diese Einschätzung deckt sich mit Befunden, die das Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) am Dienstag in einer Studie zum Thema Zukunft der Pflege veröffentlicht hat. Demnach sind in nahezu allen Pflegefachberufen „stark überdurchschnittliche Besetzungsdauern“ zu beobachten: Die Vakanzzeit für Fachkräfte in der Altenpflege lag etwa im Schnitt bei 252 Tagen, in der Krankenpflege waren es 196 Tage. Dem IAB zufolge liegen die Werte damit „53 bzw. 20 Prozent über dem Schnitt aller Stellen im jeweiligen Anforderungsniveau“.
Da außerdem „innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre eine sehr hohe Anzahl an Pflegebeschäftigten das Renteneintrittsalter erreichen wird“, könne sich die Lage weiter zuspitzen. Diesen „demografisch bedingten Rückgang“ federten bislang vor allem zugewanderte ausländische Beschäftigte ab, die so dazu beitrugen, „dass der Arbeitskräftemangel nicht noch größer ausfällt“.
Mehr Qualifizierung und Fachkräfteakquise aus dem Ausland gefordert
Um Abhilfe zu schaffen, verweisen IW und IAB auf verschiedene Ansatzpunkte, in denen Politik und Unternehmen aktiv werden sollten, um die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen günstiger zu gestalten. Neben verbesserter Aus- und Weiterbildung zuvor gering qualifizierter Personen nennen die Institute hier vor allem Hemmnisse bei der Fachkräfteakquise aus dem Ausland:
Deutschland müsse „dringend die bürokratischen Hürden bei der Visavergabe und der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen reduzieren“, so das IW. Um für mehr qualifizierte Erwerbsmigration zu sorgen, ist aus IAB-Sicht überdies „eine bessere Integration“ und generell „verbesserte Willkommenskultur“ vonnöten.
Das sehen auch andere Fachleute so. So hatte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Prof. Marcel Fratzscher, in einem Blog-Beitrag im Frühjahr darauf verwiesen, dass viele hochqualifizierte Menschen aus dem Ausland derzeit nicht nach Deutschland wollten. Fratzscher weiter. „Kommen sie doch, gehen viele schnell wieder. Und das, obwohl sie die soziale Sicherheit hier schätzen“ (wir berichteten).
Personalengpässe als Gehaltstreiber?
Unterdessen bringt die Engpässe auch für Personalabteilungen handfeste monetäre Effekte mit sich. Wie das Beratungsunternehmen Kienbaum in seiner ebenfalls heute veröffentlichten „Gehaltsentwicklungsprognose 2025“ berichtet, ist der Fachkräftemangel „größter Treiber der Gehaltssteigerungen“ hierzulande.
Die dortigen Experten prognostizieren für das kommende Jahr einen Anstieg der Vergütung von durchschnittlich 3,8 Prozent. Datenbasis ist eine Befragung von über 1.000 Unternehmen, die vom 26. August bis 23. September 2024 durchgeführt wurde.
Zwar habe sich der Arbeitsmarkt in der Momentaufnahme „leicht entspannt, da der Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeitende etwas schwächer wird“, so Dr. Michael Kind, Director Compensation & Performance Management bei Kienbaum. „Jedoch führt dies noch zu keinem Rückgang der Ansprüche an attraktive Gehälter“. Entsprechend berichten nur neun Prozent der befragten Organisationen „von sinkenden Gehaltserwartungen, was den anhaltenden Druck auf die Gehälter unterstreicht“.
Erwarteter Anstieg der Durchschnittsvergütung für 2025:
| Top Manage-ment | Senior Manage-ment | Middle Manage-ment | Lower Manage-ment | Spezialist:innen / Fachkräfte | Alle Level* | Inflations-Prognose für 2025 |
| 3,4% | 3,6% | 3,6% | 3,7% | 3,9% | 3,8% | 2,2% |
Vielmehr zeige die Befragung, dass Unternehmen in Branchen mit starkem Fachkräftemangel „auch weiterhin attraktive Gehaltspakete bieten müssen, um im Wettbewerb um die besten Talente bestehen zu können“.
Einen gewichtigen Einfluss auf Höhe der Vergütung haben zudem Tarif- und Kollektivverträge. Kienbaum zufolge zeigen die Daten, „dass die Gehaltsanpassungen in tarifgebundenen Unternehmen ca. einen halben Prozentpunkt höher sind als in Unternehmen, welche keine Tarifbindung haben“.
Für Experten ist das indes nicht überraschend. Denn nach einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vom August 2024 verdienen Vollzeitbeschäftigte in nicht tarifgebundenen Betrieben „gut 10 Prozent weniger“ als Beschäftigte „in tarifgebundenen Betrieben, die sich hinsichtlich Betriebsgröße, Wirtschaftszweig, Qualifikationsstruktur der Beschäftigten und technischer Ausstattung nicht unterscheiden“. Zugleich arbeiten sie durchschnittlich 53 Minuten pro Woche länger.
Frank Strankmann ist Redakteur und schreibt off- und online. Seine Schwerpunkte sind die Themen Arbeitsrecht, Mitbestimmung sowie Regulatorik. Er betreut zudem verantwortlich weitere Projekte von Medienmarken der F.A.Z. Business Media GmbH.

