Demographie, Digitalisierung, Dekarbonisierung, De-Globalisierung: Die Multikausalität der aktuellen Transformation kennt keine Beschränkungen. Die Dynamik der Veränderung ist allgegenwärtig. Für die Veränderungsgeschwindigkeit gibt es kein Tempolimit.
Doch wie sollte eine zukunftsfähige Organisation gestaltet werden, um in dieser Dynamik die erforderlichen Innovationen anbieten zu können? Welche Gestaltungsoptionen gibt es für Organisationsgestalter? Viele, wenn man nicht nur an einer Schraube dreht, sondern die Organisation als System diagnostiziert und entwickelt.
Sechs Zielfelder, die auf Dynamik und Innovation einzahlen
Organisationsgestaltung für Veränderungsfähigkeit bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Starrheit und Dynamik, zwischen Renditeorientierung und Innovationsorientierung. Ziel ist, Strategie, Aufbauorganisation, Geschäftsprozesse, Führung, Personalmanagement und Unternehmenskultur so zu gestalten, dass alle sechs Felder synergetisch im Hinblick auf die Anforderungen des Umfelds zusammenwirken.

Leitziel 1: Vision und Leitziele partizipativ gestalten
Aufwendige Planungssysteme gehören der Vergangenheit an. Mehrdeutige Ereignisse im wirtschaftlichen Umfeld machen es schwer, betriebliche Planungen eindeutig abzuleiten. Ein gestern festgelegter strategischer Plan ist heute schon obsolet. Während früher die Einflussgrößen für betriebliche Planungen längerfristig bekannt waren, sind sie heute unbekannt.
Heute führt jeder längerfristige Plan sowie die daran ausgerichteten Ziele und festgelegten Prozesse am Kundenbedürfnis vorbei. Die Abteilung Strategische Planung ist out. Führung muss auf Sicht fahren lernen und Entscheidungsprozesse praktizieren, die situativ von der erforderlichen Qualität und dem nötigen Kommittent in der Organisation abhängig sind.
Daher braucht es heute eine verantwortliche Rolle für strategische Führung mit Unternehmergeist und Kundenfokus, dezentral und in agilen Entwicklungsprozessen, die kurzzyklisch mit crossfunktionalen und multidisziplinären Strategieteams arbeitet. Mit agilen Arbeitsweisen werden situativ Leitziele und Strategien für Innovationen im Sinne von Minimum Viable Products (MVPs) in Sprints entwickelt. In kurzzyklischen Reviews werden die Ergebnisse geprüft und angepasst.
Die strategische Führung arbeitet dabei partizipativ, so dass die erzielten Leitziele und Strategien für Mitarbeitende transparent, sinnhaft und umsetzbar sind. Ergebnis ist eine inspirierende, im Wettbewerb differenzierende und motivierend wirkende unternehmerische Vision. Diese soll der Belegschaft eine klare Orientierung hin zu Innovation mit Kundennutzen geben.
„Heute führt jeder längerfristige Plan, die daran ausgerichteten Ziele und festgelegten Prozesse am Kundenbedürfnis vorbei. Führung muss auf Sicht fahren lernen und Entscheidungsprozesse praktizieren, die situativ von der erforderlichen Qualität und dem nötigen Commitment in der Organisation abhängig sind.“
Dr. Ulrich G. Schnabel
Leitziel 2: Dynamisches Netzwerk überschaubar gestalten
Die Annahme vieler Manager lässt sich mit dem Bild einer Maschine vergleichen: Eine komplizierte Organisation soll sicherstellen, dass mit definiertem Input planbarer Output so effizient wie möglich produziert wird. Dabei resultieren aus vielstufigen Hierarchien und vertikaler Arbeitsteilung träge Informations- und Kommunikationswege. Horizontale Arbeitsteilung und abgeschottete Fachabteilungen verursachen lange Koordinations- und Durchlaufzeiten mit langen Liegezeiten.
In der Dynamik sollten Führungskräfte als Organisationsgestalter Speed, Effektivität und Innovation mit Kundennutzen ermöglichen. Das setzt ein grundsätzliches Umdenken und eine neue Haltung der Führungskräfte voraus. Aufbauorganisation muss flach werden, so dass Partizipation in Echtzeit, transparent und koordiniert möglich wird. Die Organisationsgestalter sollten kundenorientierte formelle und informelle Netzwerke auf die Roadmap bringen und miteinander vernetzen. Das Ziel sind organisatorische Rahmenbedingungen, die die Leistungsmotive der Mitarbeitenden ansprechen, so dass diese ihre Kreativitätspotentiale in der passenden Rolle im Team entfalten. Die Steuerung übernimmt das Team selbst.
Leitziel 3: Kreative und iterative Prozesse kultivieren
Komplexe und neuartige Herausforderungen von Kunden lassen sich nicht mehr mit traditionellen Arbeitsweisen, Routinen oder Standards von gestern bearbeiten. Kreative Problemlösungen werden mit agilen und digital unterstützten Arbeitsweisen geschaffen. Resultat kurzer Planungszyklen ist, schnell und passgenau Kundenbedürfnisse erfüllen zu können. Unterstützt wird dies durch regelmäßige Reflexion, um unter anderem Kommunikation und Zusammenarbeit im Team zu verbessern. Agile Projektteams organisieren sich selbst und stimmen sich mit anderen Rollen und Zirkeln ab. Ziel ist Wertschöpfung mit Speed und ohne Verschwendung.
Leitziel 4: Führen mit klarem Fokus
Traditionell wurde oft der beste Experte aus der Fachabteilung zum „Vor-Gesetzten“ benannt. Macht und Verantwortung kumulierte auf wenigen Personen. Führung wurde mit Privilegien und Status verknüpft. Doch was bedeutet Führung heutzutage? Organisationsgestaltung in der Dynamik muss personelle Führung in ihren Kernfunktionen neu ausrichten. Aufgrund der komplexen Umfeld- und Kundenanforderungen kristallisieren sich mehrere Führungsrollen heraus:
- Projektauftraggeber haben Führungsaufgaben, indem sie Anforderungen benennen und für die Entwicklung in Sprints priorisieren. In kurzzyklischen Reviews gleichen sie nach Sprints die Ergebnisse (MVPs) mit den dynamischen Anforderungen ab und aktualisieren diese.
- Auch die Teams selbst haben eine Führungsrolle: Sie setzen sich ihre Ziele selbst, überwachen diese und sorgen durch Selbstführung für die Umsetzung in Sprints.
- Eine weitere Führungsrolle kommt dem methodischen Prozessbegleiter zu, der die Teamentwicklung, den Prozess der Zusammenarbeit bei Bedarf und in Retrospektiven unterstützt.
- Fachliche Begleiter gehen mit Fachkompetenz in Führung, wenn sie inhaltsbezogen hinzugezogen werden und bei Ergebnisreviews unterstützen.
Führungsverantwortung wird so neu aufgeteilt und Selbstführung gestärkt. Die vier Führungsrollen arbeiten aus vier Perspektiven daran, schnell und großflächig zu koordinieren und Commitment herzustellen.
Diese Kompetenz ist ertragskritisch. Die neue Gewaltenteilung entschärft den „Flaschenhals Führung“ und macht Schluss mit der kontraproduktiven Positionsmacht. Führung auf Augenhöhe – laterale Führung – aktiviert bei hochqualifizierten Mitarbeitenden das Potential, sich selbst zu organisieren, Verantwortung zu übernehmen und nach Qualität zu streben. Dadurch wird eine Speak-up-Kultur initiiert. Mitarbeitende auf allen Ebenen fühlen sich ermächtigt zu sagen, was sie denken und welche Bedürfnisse sie haben. Je mehr das gelingt, umso mehr werden sie zur Verantwortungsübernahme und Eigeninitiative aktiviert.
Leitziel 5: HR in die Entscheidungen im Business integrieren
In traditionellen Organisationen ist das Personalmanagement aus einem Shared-Service-Center heraus für die Personaladministration zuständig. Doch was müssen Organisationsgestalter tun, damit Unternehmen von den psychosozialen, pädagogischen und menschzentrierten Kompetenzen des HR Managements mehr profitieren können?
Es braucht eine HR-Rolle, die direkt im Business wertschaffende Beiträge leisten kann, damit die Teams in den Geschäftseinheiten Kundennutzen stiften können. HR wird zum Katalysator der Transformation sowie zum methodischen Transformationsbegleiter. HR muss künftig in strategische und operative Entscheidungen der Geschäftseinheiten gleichberechtigt integriert sein. Daraus folgt für die Gremien der Leitungsebenen eine neue Gewaltenteilung: HR kann so menschzentrierte Themen einbringen und integriert in Geschäfts- und Technologiethemen mitgestalten, mitentscheiden und mitverantworten.
Leitziel 6: Lernkultur etablieren
Nicht selten nehmen wir in Unternehmen eine Kultur wahr, die durch Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen auffällt. Oder es gibt eine Konsens- oder eine starke Wettbewerbskultur. Doch welches kulturelle Profil unterstützt Organisation in der Dynamik und für Innovation am ehesten?
In der Dynamik bezeichnet eine agile lernende Organisationskultur den erfolgskritischen Fortschritt. Dafür muss Führung einiges tun: Sie muss Rahmenbedingungen abschaffen, die Absicherungsmechanismen und Statusdenken provozieren.
Sichtbare Merkmale einer Lernkultur sind unter anderem Transparenz auch mittels digitaler Instrumente und eine konstruktive Feedbackkultur basierend auf Vertrauen. Agiles Lernen wird im Arbeitsprozess oder als Teilprojekt integriert und mit Ressourcen ausgestattet. Mit technologieunterstütztem Lernen wird Kompetenzentwicklung von Zeit und Raum entkoppelt.
Die agile Lernkultur ist darüber hinaus das Ergebnis der gesamten Organisationsgestaltung in allen sechs Gestaltungsfeldern und hat großen Einfluss auf das Innovations- und Dynamikpotential der Mitarbeitenden. Erst wenn Veränderungen von vielen als Chance verstanden werden und jeder Nutzen darin sieht, entsteht eine Bereitschaft zu Veränderung und damit Wettbewerbsvorteile.
