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Probezeit von Schwerbehinderten: Präventionsverfahren erforderlich?

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Update, 31. Juli 2025: Wird ein Beschäftigter mit Schwerbehinderung in den ersten sechs Monaten gekündigt, muss laut BAG vorher kein Präventionsverfahren durchgeführt werden:


Ursprünglicher Beitrag:

Während der Probezeit haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Möglichkeit, einander kennenzulernen und zu schauen, ob sie ein ‚Match‘ bilden und die gegenseitigen Erwartungen erfüllt werden. Passt es nicht, kann das Arbeitsverhältnis – in der Regel ohne nähere Begründung – binnen Zwei-Wochen-Frist gekündigt werden.

Das gilt für Unternehmen und Dienststellen nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch, wenn sie sich von einem Beschäftigten mit Schwerbehinderung trennen wollen. Mehrere Arbeitsgerichte haben diese Rechtsauffassung aber kürzlich, unter Berufung auf europäisches Recht, in Frage gestellt. Personalabteilungen sollten die aktuelle Entwicklung daher im Auge behalten.

Besonderer Schutz erst nach Wartezeit?

Im jüngsten Fall (Urteil des Arbeitsgerichts Freiburg, 04.06.2024 – 2 Ca 51/24) ging es um einen schwerbehinderten Sachbearbeiter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50, der bei der Stadt Freiburg (im Breisgau) Mitte Oktober 2023 seine Stelle angetreten hatte. Nachdem es in seinem Team dem Arbeitgeber zufolge vor allem aufgrund des menschlichen Umgangs „erhebliche Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit gegeben“ hatte, fanden Ende 2023 und Anfang 2024 mehrere Personalgespräche statt.

Da diese keine Verhaltensänderung bewirkten und er zudem eigenmächtig „Dinge in Arbeitsabläufen geändert“ und „seine Führungskraft in Frage gestellt“ hätte, sprach die Kommune nach Anhörung von Personalrat und Schwerbehindertenvertretung Anfang Februar 2024 zu Ende des Monats die Kündigung aus. Das Integrationsamt wurde darüber informiert.

Dagegen klagte der Mitarbeiter: Er sei weder ordnungsgemäß eingearbeitet noch eingeführt worden. Das habe aufgrund seines Krankheitsbilds, so das Gericht, dazu geführt, dass er sich orientierungslos, „als Last für das gestresste Team empfunden“ und mit Rückzug reagiert habe. Seine Kündigung sei insofern unwirksam, da es die Stadt pflichtwidrig versäumt habe, ein Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SBG IX durchzuführen, um ihn entweder auf einem anderen Arbeitsplatz einzusetzen, seinen Arbeitsplatz anzupassen oder ihn zumindest angemessen zu begleiten und zu unterstützen. Das gebiete auch die europäische Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG).

Dem widersprach die Behörde: Denn die Behinderung des Mannes sei nicht ursächlich für die Kündigung, sondern dessen Sozialverhalten. Zudem seien die Vorgaben für ein Präventionsverfahren „erst nach Ablauf der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG anwendbar“, also nach Ende der Probezeit.

Das Arbeitsgericht sah das anders: „Bei Auftreten von Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen“, so die Kammer, „sind Arbeitgeber auch in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen“. Werde dagegen verstoßen, könne das „eine verbotene Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung indizieren und zur Unwirksamkeit einer Wartezeitkündigung führen“.

Europarecht sieht weitgehenden Schutz vor

Die Richter verwiesen zur Begründung auch auf europarechtliche Vorgaben: So gelte Art. 5 (Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung) der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie „ebenfalls bereits in der Probezeit“. Das habe der Europäische Gerichtshof klargestellt (EuGH 10.02.2022 – C-485/20). Entsprechend müssten Arbeitgeber, sofern ihnen dabei keine unverhältnismäßigen Belastungen entstehen, „die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreifen“, um einem „Menschen mit Behinderung die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen“.

Das Arbeitsgericht wörtlich:

„Erst wenn die zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile denkbaren Maßnahmen identifiziert und erprobt worden sind, kann sich der Arbeitgeber diskriminierungsfrei ein Bild davon machen, ob die dauerhafte Beschäftigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers möglich und gewünscht ist.“

ArbG Freiburg (Breisgau) 2. Kammer

„Und schließlich liefere auch die Gesetzesbegründung hierzulande „keine Anhaltspunkte dafür, dass § 167 Abs. 1 SGB IX nur zugunsten von Arbeitnehmern, die Kündigungsschutz nach § 1 Abs. 2 KSchG und auch § 23 Abs. 1 KSchG genießen, anwendbar sein soll“. Der bisherigen Rechtsprechung des Bundearbeitsgerichts zum Thema (Urteil vom 21.04.2016 – 8 AZR 402/14), wonach Arbeitgeber während der Wartezeit eben nicht verpflichtet seien, ein Präventionsverfahren durchzuführen, sei daher „nicht zu folgen“.

Auch ArbG Köln widerspricht BAG

Eine Entscheidung mit ähnlichem Tenor hatte Ende vergangenen Jahres auch das Arbeitsgericht Köln gefällt. Seinerzeit ging es um einen schwerbehinderten Beschäftigten im Bauhof der Stadt (GdB von 80), dem nach Schwierigkeiten bei der Arbeit und einem späteren Kreuzbandriss noch während der kündigungsschutzrechtlichen Wartezeit gekündigt werden sollte.

Als er dagegen Kündigungsschutzklage einlegte, teilte das Gericht seine Rechtsauffassung und entschied, die Kündigung sei „rechtsunwirksam“, da „gegen gesetzliche Diskriminierungsverbote verstoßen“ worden sei. So habe es die Kommune unter anderem versäumt, den schwerbehinderten Mitarbeiter in der Probezeit besser zu unterstützen (Urteil des Arbeitsgerichts Köln, 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23).

Denn „Arbeitgeber sind auch während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG verpflichtet, ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen“, so auch hier die Argumentation der Kammer mit Verweis auf das oben genannte EuGH-Urteil und die Richtlinie.

Konkret bedeute das, die Personalverantwortlichen hätten bei auftretenden (Leistungs-)Problemen während der Probezeit frühzeitig „Präventionsmaßnahmen ergreifen und – soweit niederschwelligere Maßnahmen nicht fruchteten – die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt präventiv einschalten müssen, was nicht geschehen ist“.

Reaktionen und mögliche Folgen für die Praxis

Die Vereinigung Bergischer Unternehmerverbände e.V. meint in einem Beitrag auf LinkedIn, das Kölner Urteil müsse Arbeitgeber „veranlassen, ihre Strategie bei der Einstellung und der Kündigung von Schwerbehinderten in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses zu überdenken“.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Schwerbehindertenvertretungen in Deutschland e. V. (BSD) bezeichnete die Kölner Entscheidung auf der Plattform hingegen „als einen Schritt in die richtige Richtung für einen inklusiveren Arbeitsmarkt“. Zudem werde die Rolle von Schwerbehindertenvertretungen in Unternehmen dadurch „indirekt gestärkt“, da das Gericht „die Bedeutung ihrer proaktiven Beteiligung“ im Rahmen einer Einbindung in Präventionsverfahren unterstreiche.

Einen anderen Aspekt beleuchten demgegenüber Dr. Laura Krings und Martin Seitz von der Rechtsanwaltsgesellschaft Grant Thornton. „Die Entscheidung“, so die (Fach-)Anwälte in einem Blogbeitrag, „stellt Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber vor erhebliche Schwierigkeiten“, bringe doch die Durchführung eines Präventionsverfahrens vor Ausspruch einer Kündigung „während der Wartezeit einen möglicherweise unangemessenen hohen Aufwand“ mit sich. 

Was das aktuelle Urteil aus Freiburg angeht, sieht die Gewerkschaft Verdi den Richterspruch als positiv und „wegweisend und großen Erfolg für den Schutz schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben“ an. Das Urteil aus dem Breisgau schließe „eine wesentliche Lücke im Schwerbehindertenschutz gerade zu Beginn des Arbeitsverhältnisses“ und sei eine „notwendige und zeitgemäße Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts“.

Offen bleibt indes bis auf Weiteres, ob die an sich inklusionsfreundlichen Entscheidungen nicht im Nachgang unter Umständen einen gegenteiligen Effekt haben könnten: Denn schon jetzt tun sich viele Arbeitgeber schwer, die gesetzlich vorgesehene Anzahl an Stellen mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen (wir berichteten).

(Der Beitrag wurde ursprünglich am 14. August 2024 veröffentlicht und zuletzt am 31. Juli 2025 aktualisiert.)

Info

Frank Strankmann ist Redakteur und schreibt off- und online. Seine Schwerpunkte sind die Themen Arbeitsrecht, Mitbestimmung sowie Regulatorik. Er betreut zudem verantwortlich weitere Projekte von Medienmarken der F.A.Z. Business Media GmbH.

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