Die gute Nachricht vorweg: Der ganz überwiegende Teil der Studierenden kann sich nach dem Abschluss vorstellen, in Deutschland zu bleiben und hier zu arbeiten. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung hervor, die der Personaldienstleister Jobvalley gemeinsam mit dem Department of Labour Economics der Maastricht University im Frühjahr durchgeführt hat. Datengrundlage sind die Angaben von über 10.000 Studierenden, die im April und Mai 2024 erhoben wurden.
Pain points: Standort, Bürokratie und politische Stimmung
Demnach planen 88,5 Prozent aller Befragten ihre Zukunft hierzulande. Unter denjenigen, die ihren höchsten angestrebten akademischen Grad während der nächsten 12 Monate anstreben, sinkt der Wert allerdings auf 80 Prozent. Angesichts von derzeit gut 2,9 Millionen Studierenden in der Bundesrepublik gibt es somit rund 333.500 angehende Akademikerinnen und Akademikern, die laut der Analyse zumindest potenziell eine „Abwanderung“ ins Auge fassen. Damit drohe „ein empfindlicher Verlust von Fachkräftepotenzial, das in Deutschland akademisch ausgebildet wurde“, so die Studienverfasserinnen und -verfasser.
Die Gründe für eine mögliche Abwanderung sind dabei nach Angaben der Autoren und Autorinnen „vielfältig“ und reichen von einer als gering wahrgenommenen Standortattraktivität über „belastende Bürokratie“ bis hin zu nach Auffassung der Studierenden mutmaßlich besseren Jobchancen und Gehalt im Ausland. Eine wesentliche Rolle spielt zudem offenbar die „Wahrnehmung gesellschaftlich-atmosphärischer Gesichtspunkte“.
Konkret sehen über die Hälfte der Studierenden Deutschland „generell“ als wenig attraktiven Standort an und wähnen im Ausland bessere Jobperspektiven und Vergütung. Fast ebenso viele bemängeln, dass Verwaltungsprozesse zu „kompliziert und belastend“ seien. Was das gesellschaftliche Klima angeht, so finden über die Hälfte der Teilnehmenden mit und über ein Drittel ohne Migrationshintergrund „die politische Stimmung als abschreckend“.
Die Werte für das gesamte Bundesgebiet im Einzelnen
| Aussage | Mit Migrationshintergrund (%) | Ohne Migrationshintergrund (%) |
| Ich empfinde Deutschland generell als unattraktiven Standort. | 58,3 % | 53,1 % |
| Ich halte die Bürokratie in Deutschland für zu kompliziert und belastend. | 54,8 % | 49,7 % |
| Ich glaube, andere Länder bieten bessere Jobangebote / besseres Gehalt. | 54,8 % | 53,1 % |
| Ich empfinde die politische Stimmung als abschreckend. | 53,9 % | 36,2 % |
| Ich finde es schwierig, in Deutschland (sozialen) Anschluss zu finden. | 23,5 % | 10,2 % |
| Ich befürchte Diskriminierung am Arbeitsplatz. | 26,1 % | 6,2 % |
| Ich befürchte öffentliche Anfeindungen. | 14,8 % | 3,9 % |
| Anderer Grund. | 34,8 % | 37,3 % |
Viele wollen offenbar nicht im Osten arbeiten
Wie es in der Analyse weiter heißt, haben die angehenden Graduierten dabei „sehr genaue Vorstellungen davon, in welchen Bundesländern sie bereit sind zu leben und zu arbeiten“. Das gelte insbesondere bei der Frage danach, in welchen Regionen die angehenden Berufstätigen „auf keinen Fall arbeiten“ möchten. Während nur ein gutes Zehntel für sich eine Perspektive in Hamburg (11 Prozent), Nordrhein-Westfalen (12 Prozent), Rheinland-Pfalz (13 Prozent), Baden-Württemberg (13 Prozent) oder Hessen (14 Prozent) ausschließt, liegen die Werte für das Saarland (23 Prozent), Thüringen (29 Prozent), Sachsen-Anhalt (29 Prozent) und Sachsen (31 Prozent) deutlich höher.
Diese Zahlen sind insofern aufschlussreich, als dass sich bei der allgemeinen Attraktivität der einzelnen Bundesländer laut dem Team um Studienleiter Dr. Philipp Karl Seegers ein etwas anderes Bild abzeichnet: Denn bei den „generell als unattraktiven Standort“ wahrgenommenen Regionen liegt das Saarland am Ende, Sachsen-Anhalt auf Platz 14, Sachsen auf Platz 10 und Thüringen auf Platz 7 der Beliebtheitsskala.
Politisch-gesellschaftliches Klima hat Einfluss
Ein Grund dafür ist offenbar das von den Befragten wahrgenommene sozio-politische Klima. Hier zeigt sich – unabhängig von persönlichem Hintergrund, Bildungshistorie und Herkunft – folgendes Bild:
| „Ich empfinde die politische Stimmung dort als abschreckend.“ (gesamt) | |
| Bundesland | Gesamt (%) |
| 1. Rheinland-Pfalz | 3,0 % |
| 2. Nordrhein-Westfalen | 4,5 % |
| 3. Saarland | 6,7 % |
| 4. Bremen | 7,6 % |
| 5. Baden-Württemberg | 10,7 % |
| 6. Hamburg | 11,2 % |
| 7. Hessen | 11,8 % |
| 8. Schleswig-Holstein | 13,9 % |
| 9. Berlin | 14,5 % |
| 10. Niedersachsen | 14,8 % |
| 11. Mecklenburg-Vorpommern | 17,3 % |
| 12. Brandenburg | 20,9 % |
| 13. Bayern | 29,9 % |
| 14. Thüringen | 31,2 % |
| 15. Sachsen-Anhalt | 40,3 % |
| 16. Sachsen | 44,4 % |
Die Tatsache, dass Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt mit zum Teil deutlichen Abstand auf den letzten Plätzen in der Beliebtheit der Studierenden liegen, kommentiert Clemens Weitz, Geschäftsführer von Jobvalley, mit den Worten:
„Zusammen mit den Höchstwerten zu einer gefühlt abschreckenden politischen Stimmung und Angst vor Diskriminierung am Arbeitsplatz, ergibt sich das Bild: Es gibt ein politisch gesellschaftliches Bild dieser Länder, das Studierende verprellt.“
Zugleich betont er, dass es in allen Bundesländern „Unternehmen mit offener Kultur und offenen Armen“ gebe. Seine Forderung: „Das sind die Erfahrungen, die lauter gezeigt werden müssen und die zu einem Wandel in der Wahrnehmung und schließlich zu Standortattraktivität führen.“
Insgesamt, so Weitz, gelte es „die Chancen des Standorts Deutschland besser zu transportieren und die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen“. Fachkräftebindung beginne bei Studierendenbindung.
Ausländische Studierende und Expats bemängeln ähnliche Faktoren
Bei ausländischen Studierenden, deren Zahl laut Bundesbildungsministerium im vergangenen Wintersemester mit rund 370.000 einen neuen Höchststand erreicht hat, kommen laut Jobvalley in vielen Fällen weitere Faktoren zum Tragen, wenn es um die Attraktivität der Bundesrepublik geht: Gut ein Viertel findet es demnach schwierig, in Deutschland (sozialen) Anschluss zu finden oder hat Sorge vor Diskriminierung am Arbeitsplatz. Über ein Achtel fürchtet gar öffentliche Anfeindungen.
Das deckt sich zum Teil mit Einschätzungen von ausländischen Fachkräften, die in Deutschland arbeiten und ähnliche Faktoren als problematisch ansehen. So belegte Deutschland 2024 in der Umfrage „Expat Insider 2024“ des Netzwerkes InterNations insgesamt den 50. Platz von 53 Ländern und erzielte damit das bisher schlechteste Ergebnisse seit Beginn der Umfrage im Jahr 2014.
Knackpunkte sind neben einer ausbaufähigen digitalen Infrastruktur auch hier komplizierte bürokratische Prozesse sowie Schwierigkeiten, sozialen Anschluss zu finden. Auch in puncto Willkommenskultur und „Eingewöhnungsfreundlichkeit“ gebe es viel Luft nach oben. Das war bereits im Vorjahr der Fall (wir berichteten). Auffällig auch: Bei der Bewertung des Faktors „politische Stabilität“ verlor die Bundesrepublik binnen eines Jahres 11 Plätze.
Info

Sie interessieren sich für Studien? Wir wollen herausfinden, was CHROs bewegt, welche Trends sie im Recruiting, Employer Branding, der Vergütung und Co. verfolgen und unter welchen Rahmenbedingungen sie agieren. Dafür befragen wir zweimal im Jahr CHROs, Personalchefs, Head of HRs, Personalleiterinnen und -vorstände und all jene, die HR-Entscheider in ihrem Unternehmen sind.
Was Ressentiments angeht, berichtete die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer vom Bundesarbeitsministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung Anfang des Jahres, dass vor allem Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern hierzulande nach ihrer Ankunft „mehr Diskriminierung“ erfahren als das Menschen erwarten, die nach Deutschland kommen wollen.
Das gelte in der Hälfte der Fälle bei der Wohnungssuche und bei mehr oder annähernd einem Drittel beim Einkauf, in Lokalen, „auf der Straße“ und im Beruf. Die Werte für „Diskriminierungserfahrungen verbunden mit staatlichen Einrichtungen“ (etwa Polizei oder Schule) lagen deutlich dahinter.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Prof. Marcel Fratzscher, sieht diese Entwicklungen in mehrfacher Hinsicht als problematisch an: „Hochqualifizierte aus dem Ausland wollen selten nach Deutschland“, so Fratzscher in einem Blog-Beitrag im Frühjahr. „Kommen sie doch, gehen viele schnell wieder. Und das, obwohl sie die soziale Sicherheit hier schätzen“.
Als einen wesentlichen Hemmschuh sieht auch der Wirtschaftsforscher neben der Infrastruktur vor allem sozio-kulturelle Faktoren: Es seien „nicht die Arbeitsmöglichkeiten, sondern die schlechte Willkommenskultur und die hohen Hürden, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen, weshalb so viele gut qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland entweder erst gar nicht nach Deutschland kommen oder das Land bald wieder verlassen“.
Zuwanderung vor allem im Osten unabdingbar
Dabei ist unter Expertinnen und vielen Politikern längst unbestritten, dass der Arbeitsmarkt angesichts von Fachkräftemangel und demografischem Wandel nicht ohne qualifizierte Zuwanderung auskommt. Das gilt nicht nur, aber in besonderem Maße im Osten der Republik.
Neueste Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die auf Daten der Bundesagentur für Arbeit beruhen, zeigen etwa, dass in allen ostdeutschen Bundesländern (außer Berlin) „zwischen 2022 und 2023 die Zahl der deutschen Beschäftigten, unter anderem altersbedingt, zurückgegangen“ ist. Zugleich konnten Beschäftigte mit Migrationshintergrund „diesen Rückgang zumindest etwas ausgleichen“.
In Sachsen sei dieser Effekt sogar überkompensiert worden und habe „für ein Beschäftigungswachstum gesorgt“. Das Fazit der IW-Forschenden um Fabian Semsarha, Sarah Pierenkemper und Lydia Malin „Ausländer halten die Wirtschaft in Ostdeutschland am Laufen“.
Sorge vor „Abstimmung mit den Füßen“: Unternehmen reagieren
Genau die tun sich – ebenso wie die eingangs erwähnten Studierenden – aber aktuell anscheinend besonders schwer, ihre Zukunft im Osten der Republik zu sehen. So beobachtet das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), dass erstmals seit 2017 wieder mehr Menschen vom Osten in den Westen der Republik ziehen als in umgekehrte Richtung – vor allem Jüngere und Ausländerinnen sowie Ausländer. Das sei noch keine Trendwende, angesichts der Überalterung der Gesellschaft insbesondere in vielen ländlichen Regionen zwischen Uckermark und Sächsischer Schweiz aber mehr als ernst zu nehmen.
„Abwanderung ist eigentlich immer eine Abstimmung mit den Füßen über die wahrgenommene Zukunftsfähigkeit“, sagte Tim Leibert vom IWH dazu jüngst gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk. Offensichtlich seien „viele junge Menschen, viele ausländische Staatsangehörige, der Meinung, dass sie ihr Leben in den ostdeutschen Bundesländern nicht erfolgreich leben können”. Inwieweit Großprojekte wie die nicht unumstrittene Tesla-Fabrik in Brandenburg oder die gestern in Bau gegangene Halbleiterfabrik des taiwanesischen Konzerns TSMC in Dresden etwas ändern, bleibt indes abzuwarten.
Und so versuchen verschiedene Unternehmen und Initiativen – vermutlich auch im Hinblick auf die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg – Impulse für mehr Attraktivität und Diversität zu setzen: Das reicht von bundesweiten Kampagnen verschiedener Familienunternehmen unter dem Motto „Made in Germany – Made by Vielfalt” bis hin zu Werbeaktionen der Drogeriekette DM, die in Anzeigen anlässlich des kürzlich begangenen 75. Verfassungsgeburtstages darauf hinwies, die wichtigsten Artikel der Republik fänden sich nicht im eigenen Sortiment, „sondern im Grundgesetz“.
Info
Die Befragungen zur Studienreihe „Fachkraft 2030“ sind nach Angaben von Jobvalley repräsentativ und werden seit Herbst 2012 jeweils mit unterschiedlichem Schwerpunkt durchgeführt. Themen sind die wirtschaftliche und allgemeine Lebenssituation von Studierenden und jungen Graduierten in Deutschland.
Weitere Informationen zu Studie, Ergebnissen und Methodik finden sich auf der begleitenden Website.
Frank Strankmann ist Redakteur und schreibt off- und online. Seine Schwerpunkte sind die Themen Arbeitsrecht, Mitbestimmung sowie Regulatorik. Er betreut zudem verantwortlich weitere Projekte von Medienmarken der F.A.Z. Business Media GmbH.

