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Ist die telefonische Krankschreibung wirklich Grund für hohe Fehlzeiten?

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Hohe Fehlzeiten von Arbeitnehmenden sind derzeit ein heiß diskutiertes Thema. Laut dem aktuellen AOK-Fehlzeiten-Report ist bereits jetzt der Rekord aus dem vergangenen Jahr gebrochen – und das vor der gerade erst anrollenden Grippewelle. Von Januar bis August 2024 verzeichnete die AOK unter ihren Mitgliedern den Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 Erwerbstätigen. Zum Vergleich: 2014 bis 2021 waren es im Durchschnitt rund 160 Fälle je 100 Mitglieder.

Hausbesuche als Lösung für hohe Krankenstände?

Zu der hohen Ausfallquote passt auch der Fall Tesla, der unlängst durch die Medien ging. Werksleiter André Thierig beschwerte sich bei einer Betriebsversammlung über die für den Branchendurchschnitt zu hohe Ausfallquote im Teslawerk Grünheide, faule Mitarbeitende hätten „keinen Bock, zur Arbeit zu kommen“. Die Lösung: Personalchef Erik Demmler und der Fertigungsleiter des Werks statteten 30 besonders „auffälligen“ Mitarbeitenden einen Hausbesuch ab, angeblich als „Hilfsangebot“ und nicht als Kontrollgang. Ob das wirklich die Lösung bei zu hohen Krankenständen ist, bleibt zu bezweifeln. Unter welchen Bedingungen ein Hausbesuch zulässig ist und auf was Arbeitgeber dabei achten müssen, beantworteten vor kurzem die Fachanwälte Pascal Croset und Lisa-Marie-Niklas der Personalwirtschaft.

Immer wieder wird auch die telefonische Krankschreibung, die im Frühjahr 2020 eingeführt wurde, als Grund für steigende Krankenstände angeführt. Vergangenen Monat forderte etwa Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf einer Veranstaltung des Verbands der chemischen Industrie in Berlin, sie wieder abzuschaffen. Lindner wolle niemandem vorwerfen, die Regelung auszunutzen. Dennoch gebe es leider „eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme“.

Für diese Aussagen bekam er postwendend Kritik, unter anderem von Markus Beier, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands. Beier verteidigte die erstmals im Zuge der Corona-Pandemie eingeführte Regelung aus medizinischer sowie versorgungspolitischer Sicht als sinnvoll. Außerdem könne der Mediziner aus seiner täglichen Arbeit nicht bestätigen, dass Menschen die Regelungen nutzten, um sich fälschlicherweise krankzumelden.

Telefonische Krankmeldungen spielen keine Rolle

Auch die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reinmann bläst ins gleiche Horn: „Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigen.“ Vielmehr hätten die Erfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt, dass mit der Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung verantwortlich umgegangen wird, Arztpraxen entlastet und Infektionswellen dadurch abgeschwächt werden. Reinmann spricht sich deshalb für eine Beibehaltung dieser Möglichkeit aus.

Positiver Effekt durch emotionale Bindung

Der aktuelle AOK-Fehlzeiten-Report macht jedoch einen anderen Grund für hohe Ausfallzeiten aus. So besteht offenbar ein Zusammenhang zwischen einer stärkeren emotionalen Bindung zum Arbeitgeber und geringeren Ausfallzeiten. Beschäftigte, die sich stärker emotional an ihre Organisation gebunden fühlten, waren seltener gesundheitlich beeinträchtigt, fehlten seltener und kamen seltener erkrankt zur Arbeit. Im Gegenzug wiesen Beschäftigte mit einer geringeren Bindung einen schlechteren Gesundheitszustand auf und fielen dadurch öfter aus. Auch der Jobwechselkompass zeigte auf, dass 34 Prozent der Mitarbeitenden mit einem „eher ausgeprägten“ beziehungsweise 49 Prozent der Mitarbeitenden mit einem „sehr ausgeprägten“ Wechselwunsch das Bedürfnis haben sich häufiger krankschreiben zu lassen. Im Vergleich gaben nur zehn Prozent derjenigen, die keinen Wechsel planen an, dass sie das Bedürfnis haben, sich öfter krankschreiben zu lassen.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung bringt weitere Probleme ins Spiel, die mittelbar für höhere Krankenstände sorgen. „Viele Beschäftigte leiden unter Personalengpässen, Fachkräftemangel, fehlenden Kinderbetreuungsplätzen und einer unsicheren wirtschaftlichen sowie politischen Lage“, sagt die WSI-Expertin für Gesundheit am Arbeitsplatz, Elke Ahlers.

Gerade Branchen mit Fachkräftemangel seien von überdurchschnittlich hohen Krankenständen betroffen. Berufstätige in diesen Bereichen müssten öfter mit Arbeitsverdichtung, Multitasking und Mehrarbeit klarkommen. „Das alles wirkt sich auf die Arbeitszufriedenheit, auf das Betriebsklima und letztendlich auf die Gesundheit aus“, fasst Ahlers zusammen.

Ursachen erkennen und Gegenmaßnahmen entwickeln

Es scheint also in den meisten Fällen eher an externen Faktoren zu liegen als daran, dass die Menschen keine Lust mehr hätten zu arbeiten und „blau“ machen würden. „Es mag Einzelfälle geben, aber als grundsätzliche Erklärungsansätze sind solche Verkürzungen gefährlich, weil sie den Blick auf die wirklich relevanten Ursachen verstellen“, sagt Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI, zu diesen Entwicklungen. Es sei wichtig, die Ursachen zu erkennen, ernst zu nehmen und dann wirksame Gegenmaßnahmen daraus zu entwickeln, unterstreicht auch ihre Kollegin Elke Ahlers.

Frederic Haupt war Volontär der Personalwirtschaft.