Mitarbeitende, die aus einer einkommensschwächeren Familie stammen, fühlen sich bis zu 20 Prozent weniger in Unternehmen einbezogen als ihre Kolleginnen und Kollegen aus wohlhabenden Familien. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung der Boston Consulting Group (BCG) hervor. Sie beruht auf Befragungsdaten von etwa 27.000 Beschäftigten aus 16 Ländern aus dem Jahr 2024, die nun analysiert wurden.
Damit sei die soziale Herkunft von allen anderen untersuchten Diversity-Aspekten der stärkste Treiber für einen Mangel an einem Zugehörigkeitsgefühl. Denn egal, mit welchen anderen Diversity-Merkmalen sich ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin identifiziert – etwa Geschlecht, Alter, ethnische Herkunft, LGBTQIA+ oder Behinderungsgrad –, der sozioökonomische Hintergrund hat laut den Studienergebnissen den größten Einfluss auf das Inklusionsgefühl.
Hierzulande ist der Inclusion Score von Menschen, die gemäß Selbsteinschätzung aus einkommensschwächeren Umfeldern stammen, 12 Punkte niedriger als der von Mitarbeitenden, die in einer wohlhabenderen Familie großgeworden sind. In Deutschland scheint die soziale Herkunft etwas weniger Einfluss auf die gefühlte Inklusion zu haben als weltweit. Über alle 16 untersuchten Länder hinweg klaffen die beiden Inclusion Scores um 13 Punkte auseinander. Wer genau als einkommensschwach gilt, ist allerdings nicht klar definiert. Die BCG hat für sich den Begriff „First Gen“ als Synonym gewählt. Man zähle als „First Gen“, wenn man als Erste oder Erster aus der Familie einen bestimmten Karriereweg beschreitet, sagt Sebastian Ullrich, Partner bei BCG und Leiter der Initiative „First Gen“ des Beratungsunternehmens.
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Die Zahlen der BCG basieren auf Selbsteinschätzungen und auf einer sehr offenen Definition von Menschen, die aus einem einkommensschwächeren Umfeld stammen. Ihre Validität wird zudem dadurch eingeschränkt, dass viele Menschen aus einkommensschwächeren Verhältnissen sich für dieses Merkmal ihres Lebens schämen und damit mögliche Antworten durch die soziale Erwünschtheit verzerrt sind.
Bei Executives verbessert sich das Inklusionsgefühl kaum
Nur sechs Prozent der Führungskräfte in den untersuchten Ländern stammen laut der Studie aus einkommensschwachen Familien. Mit einer höheren Position geht kein höheres Inklusionsgefühl einher. Das Gegenteil ist der Fall. Gibt es bei Angestellten eine Differenz von 16 Prozent beim Inklusionsgefühl zwischen „First Gens“ und Nicht-„First-Gens“, liegt sie bei Executives bei 21 Prozent. Auf Deutschland heruntergebrochene Zahlen teilte BCG nicht, sagte aber, dass sich diese im selben Rahmen wie auf globaler Ebene befinden.
Woran liegt das? Ein vorheriger Report der BCG aus dem Jahr 2023 für den DACH-Raum hat dazu Zahlen erhoben. „First Gens“ absolvieren relevante Praktika seltener als Nicht-„First-Gens“ – auch weil diese nicht immer bezahlt sind und sie mit ihrer bezahlten Nebentätigkeit kollidieren. Außerdem haben sie seltener Zugang zu Informationen sowie zu einem Netzwerk beim Karrierestart. Auch fühlen sie sich bei der Kommunikation im Unternehmen tendenziell eher nicht auf Augenhöhe mit den Kolleginnen und Kollegen und sehen sich weniger in der Lage dazu, Kontakte zu knüpfen.
„Vieles hängt damit zusammen, dass sich ‚First Gens‘ zunächst nicht gut in der Karrierewelt auskennen“, sagt Ullrich. „Man weiß erstmal nicht, wie man sich gegenüber einem Vorstand oder beim beruflichen Netzwerken verhalten soll.“ Wie viel von mir selbst kann ich in der Business-Welt sein? Auch auf diese Frage müssten „First Gens“ zunächst eine Antwort finden. Ullrich ist ausgebildeter Maurer, Arbeiterkind und hat über den zweiten Ausbildungsweg Abitur gemacht. Als einziger Akademiker in seiner Familie hat er am eigenen Leib erfahren, welche andere Startposition er im Vergleich zu Kolleginnen und Kollegen hatte, deren Eltern Business Professionals sind.
Das Thema benennen
Diese unterschiedlichen Startpositionen müssten in Unternehmen transparenter gemacht werden, wünscht sich Ullrich. Gleichzeitig nennt er mehrere Ansätze, um die Inklusion von Menschen aus einkommensschwächeren Umfeldern zu fördern. „Man kann die Thematik im Recruiting berücksichtigen“, sagt der BCG-Partner. Unternehmen könnten Talente dazu motivieren, in ihrem Lebenslauf freiwillig zu vermerken, dass sie „First Gens“ sind. Recruiterinnen und Recruiter könnten auch dazu sensibilisiert werden, aus dem Lebenslauf herauszulesen, ob sich hier ein „First Gen“ bewirbt, und dann mögliche Unsicherheiten im Gespräch oder ungewohnte Verhaltensweisen nicht als eine negative Performance zu deuten.
Eine Fokussierung auf Skills statt auf berufliche Stationen könnte zudem einen Unterschied machen. Auch ein Interviewer oder eine Interviewerin, der oder die ebenfalls ein „First Gen“ ist, könnten helfen, um die Bewerbungsphase erfolgreich für beide Seiten zu gestalten. Ullrich empfiehlt zudem ein Mentoring. Jedem „First Gen“ sollte ein Kollege oder eine Kollegin für den beruflichen Austausch vermittelt werden – am besten sollte der Mentor oder die Mentorin ebenfalls ein „First Gen“ sein.
Auch eine Schulung der Führungskräfte sei hilfreich, um das Inklusionsgefühl von „First Gens“ zu erhöhen. Allein schon, damit sie sich häufiger die Frage stellen: „Kann der ‚First Gen‘ das nicht, oder hat er es noch nie gemacht?“, sagt Ullrich. Dies sei auch hinsichtlich des Performance Managements wichtig zu beachten. Und zu guter Letzt könnten „First-Gen“-Netzwerke im Unternehmen helfen.
Bei all dem gehe es laut Ullrich nicht darum, „First Gens“ als Benachteiligte darzustellen, die auf dieselbe Ebene wie die restliche Belegschaft gehoben werden müssen, sondern um eine Transparenz und Sichtbarkeit der Thematik. Arbeitgeber sollten sich die Frage stellen: „Wie gehen wir mit diesen unterschiedlichen Startsituationen um?“
Nichtakademikerkinder werden seltener Akademiker
Die BCG-Zahlen zeigen Tendenzen auf, welche auch von anderen Untersuchungen zur Auswirkung der sozialen Herkunft auf die schulische und berufliche Laufbahn unterstützt werden. Laut dem Hochschulbildungsbericht aus dem Jahr 2020 beginnen 27 von 100 Nichtakademikerkindern ein Studium. Bei den Akademikerkindern sind es 79 von 100. 20 von 100 Nichtakademikerkindern absolvieren den Bachelor, elf den Master und zwei promovieren. Demgegenüber stehen 64 von 100 Akademikerkindern, die ihren Bachelor abschließen, 43 haben einen Masterabschluss und sechs erlangen einen Doktortitel. Es ist wahrscheinlich, dass sich dieses Muster im Bildungsweg in der Arbeitswelt fortführt.
Sebastian Ullrich von der BCG sieht die Gründe auch hier wieder im Umfeld und nicht in der Leistung oder dem Potenzial. Dazu erzählt er eine Anekdote: Ein Schulfreund und Nichtakademikerkind hatte in der Grundschule Bestnoten. Seine Mutter wollte ihn nicht aufs Gymnasium schicken, sondern auf die Hauptschule. Der Grund: Sie hatte Angst, dass sie ihm spätestens ab der siebten Klasse nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen könnte.
Gehaltsentwicklung bei First Gens
Zurück in der Arbeitswelt zeigt sich, dass sich Menschen aus einkommensschwächeren Umfeldern nicht nur weniger inkludiert fühlen und seltener Führungskräfte werden. Ihr Gehalt ist im Schnitt auch deutlich geringer als von Mitarbeitenden aus wohlhabenden Familien. In Großbritannien gibt es Studien, die nachweisen, dass Menschen aus sozialschwächeren Schichten tendenziell weniger verdienen als ihre Kollegen und Kolleginnen, die aus Akademikerfamilien stammen. Laut einer Untersuchung des Netzwerks Social Mobility Foundation lag der Class Pay Gap zwischen 2014 und 2021 durchschnittlich bei 13 Prozent.
Für Deutschland gibt es keine offiziellen Zahlen zum Class Pay Gap, aber Schätzungen. Laut Marcel Fratzscher, Wissenschaftler und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), verdienen Personen, deren Eltern keinen akademischen Abschluss haben, schätzungsweise zwischen 10 und 15 Prozent weniger als gleich qualifizierte Menschen, die aus einem Akademikerhaushalt stammen. In seiner Kolumne für die „Zeit“ verweist er zudem auf eine Ifo-Studie von 2025. Demnach hat sich der Einfluss des elterlichen Einkommens auf Bildung und späteres Einkommen der Kinder seit Ende der 1970er-Jahre innerhalb einer Generation verdoppelt.
Negativbeispiel Deutschland?
Während die BCG-Zahlen aufzeigen, dass in Deutschland die soziale Herkunft etwas weniger Einfluss hat als in anderen Ländern, gibt es laut Fratzscher empirische Forschung, die Deutschland als Negativbeispiel hervorhebt: „In kaum einem anderen Industrieland prägt die soziale Herkunft die Chancen auf Bildung, Gesundheit, berufliche Perspektiven und letztlich das Einkommen so stark wie in Deutschland“, sagt Fratzscher. „Was man erbt – an Vermögen, Bildung, Netzwerken – bestimmt in hohem Maß, was man erreicht.“ Bezüglich der sozialen Mobilität, also der Möglichkeit, sozial aufzusteigen, zähle Deutschland in der westlichen Welt mit den USA zu den Schlusslichtern.
Das stelle nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem für den Einzelnen dar, sondern bremse die Wirtschaft aus. Denn Talente und Potenziale blieben durch den Mangel an sozialer Mobilität ungenutzt. Ullrich von der BCG nennt noch weitere Vorteile von „First Gens“: „Sie bringen ein erhebliches Maß an Resilienz und Durchhaltewillen. Wenn ein Unternehmen ihnen eine Chance gibt, sind sie unheimlich loyal.“
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.

