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„Die Bildungsbilanz hat sich in den vergangenen Jahren radikal geändert“

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Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser ist Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung.
Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser ist Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung. (Foto: Bundesinstitut für Berufsbildung)

Personalwirtschaft: Betrifft der Rückgang der Ausbildungsverträge alle Branchen gleichermaßen?
Professor Esser: Es gibt Branchen, in denen die Ausbildungsmöglichkeiten im Jahr 2020 pandemiebedingt sehr eingeschränkt waren und in denen der Rückgang der Ausbildungsverträge entsprechend hoch war – dazu gehört der Kultur- und Eventbereich, die Gastronomie, Sport und Tourismus sowie die körpernahen Dienstleistungen, wie etwa Friseure. Es gibt aber auch Bereiche, bei denen sich nicht viel geändert hat oder die sogar von der Krise profitieren konnten, wie etwa Berufe in der IT- und Medien-Branche oder auch Ausbildungsberufe in der Gesundheitswirtschaft.

Wie schätzen Sie die Situation für das Ausbildungsjahr 2021 ein?
Zuverlässige Prognosen für das Ausbildungsjahr 2021 sind schwierig – alles hängt vom weiteren Verlauf der Pandemie ab, wie schnell die Durchimpfung gelingt und wir viel sicherer und vorbereiteter als letztes Jahr auf Herbst und Winter zugehen. Ganz entscheidend wird auch sein, ob sich junge Menschen bald impfen lassen können – das würde sicher vieles entspannen. Grundsätzlich sehen wir aber eine eher positive Stimmung. Deshalb erwarten wir perspektivisch für 2021 ein verhaltenes Ende der Abwärtsbewegung. Es wird wahrscheinlich nicht bombastisch werden, aber wir hoffen auf eine schwarze Null – also keinen weiteren Rückgang der Ausbildungszahlen.

Was erhoffen Sie sich von den ausbildenden Unternehmen?
Die Betriebe sollten bei der Ausbildung großzügig sein – auch wenn die Lage noch etwas diffus ist. Es ist unser aller Aufgabe, den jungen Leuten eine Startchance zu geben. Wir dürfen auch nicht übersehen, dass in diesem Jahr zumindest Teile der letztjährigen Schulabgänger-Kohorte auf den Ausbildungsmarkt kommen, die im letzten Jahr coronabedingt keinen Platz bekommen beziehungsweise gefunden haben. Das betrifft verstärkt Jugendliche mit weniger guten Schulabschlüssen, die sonst verstärkt zum Beispiel auch in der Gastronomie oder Hotellerie einen Platz finden.

Braucht es derzeit mehr Flexibilität als sonst, um so viele Jugendliche wie möglich mit einem Ausbildungsplatz zu versorgen?
Was die Last-Minute-Ausbildungsverträge angeht, besteht zwischen allen Beteiligten – insbesondere den Verbänden, Kammern und Gewerkschaften ein Commitment dahingehend, dass, ebenso wie in 2020, auch in diesem Jahr der Ausbildungsbeginn während des ganzen Jahres erfolgen kann. Dazu gibt es flexible Eingangstermine in die Berufsschulen. Damit soll erreicht werden, dass auch in 2021 die Betriebe abhängig von Pandemiegeschehen und Konjunkturlage das ganze Jahr über Ausbildungsverträge schließen können.

Wissen Betriebe und Schulabgänger davon?
Betriebe werden zuvorderst von den Innungen und Kammern informiert. Bei den Jugendlichen dagegen gibt es ein grundsätzliches Problem – der Informationsfluss zu ihnen ist infolge der Pandemie erheblich eingeschränkt. Es gab und gibt aktuell keine Präsenzveranstaltungen, Berufsinformationstage, Messen oder Praktika. Obwohl beispielsweise Kammern und Kreishandwerkerschaften versuchen, den Schulabgängern Informationen online zur Verfügung zu stellen, werden solche Angebote von den Jugendlichen noch nicht vollumfänglich wahrgenommen. Viele wissen auch nicht, dass es die Möglichkeit der Online-Berufsberatung gibt.

Was wird gegen das Informationsdefizit unternommen?
Die Partner der Allianz für Aus- und Weiterbildung haben eine gemeinsame Marketing-Offensive unter dem Titel „Sommer der Berufsbildung“ beschlossen. Damit soll verstärkt über Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten informiert und Services dazu angeboten werden. Denn klar ist eins – wir hatten vor Corona einen Mangel an Fachkräften und den wird es auch nach der Krise geben. Erst recht, wenn die Ausbildungszahlen weiter zurückgehen.

Experten berichteten von „verschwundenen Schulabgängern“, also Jugendlichen, die im vergangenen Jahr weder eine Ausbildung oder schulische Weiterbildung noch ein Studium aufgenommen haben.
In der Statistik der Bundesagentur für Arbeit sind für 2020 knapp 85 000 Bewerberinnen und Bewerber registriert, die keine weitere Hilfe bei der Ausbildungssuche mehr nachfragten, für die keine Vermittlungsbemühungen mehr laufen und für die keine Informationen zum Verbleib vorliegen. Es ist nicht auszuschließen, dass für einen Teil dieser jungen Menschen das Risiko besteht, quasi unbemerkt aus dem Bildungssystem herauszufallen – mit den bekannten negativen Folgen für die Beschäftigungsfähigkeit und die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe. Unter diesen sind sicher auch Jugendliche, die in der Krise gewissermaßen abgetaucht sind. Die sollten jetzt aber unbedingt die Kurve kriegen und eine Ausbildung oder ein Studium beginnen oder in einem Job starten. Dafür ist sicher auch Eigeninitiative der Jugendlichen gefragt, aber die sollte man von ihnen auch erwarten können.

Nicht jede Änderung im Ausbildungsgeschehen ist auf die Pandemie zurückzuführen. Welche grundsätzlichen Veränderungen beobachten Sie?
Die Bildungsbilanz hat sich in den vergangenen Jahren radikal geändert: Zwischen 2004 und 2019 ist die Zahl der nicht studienberechtigten Schulabgänger um rund 225 000 zurückgegangen. Gleichzeitig haben wir seit 2015 mehr Jugendliche mit Studienberechtigung, die eine Ausbildung machen möchten, als solche mit einem Hauptschulabschluss. Im Ergebnis heißt das, dass die Konkurrenz um Ausbildungsplätze beispielsweise im Banken-, im Medien- und IT-Bereich, in denen ein höherer Schulabschluss erwartet wird, weiter steigt. Auf der anderen Seite gibt es eine sinkende Nachfrage nach Ausbildungen in bestimmten Handwerksberufen oder in der Lebensmittelverarbeitung. Das verstärkt den dort ohnehin herrschenden Fachkräftemangel.

Was würden Sie Jugendlichen hinsichtlich der Zukunftsaussichten von Ausbildungsberufen raten?
Schaut über den Tellerrand und informiert euch möglichst breit. Es gibt beispielsweise Handwerksberufe, wie etwa den Anlagenmechaniker Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK), die sich sehr verändert haben und zukunftsträchtig sind. Da geht es um Hightech, um Nachhaltigkeit und IT-Kompetenzen – was aber viel zu wenige wissen. Darüber müssen wir viel stärker informieren und aufklären. Andererseits werden sich aktuell gefragte Berufe, beispielsweise in vielen Dienstleistungsbranchen, durch die Digitalisierung beziehungsweise Künstliche Intelligenz (KI) stark verändern oder vielfach wegfallen – auch darüber sollte man sich vor einer Ausbildung Gedanken machen.

Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Berichterstattung zur Aus- und Weiterbildung. Zudem ist sie verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft sowie den Deutschen Personalwirtschaftspreis.