Personalwirtschaft: Herr Professor Esser, was hat sich durch die Pandemie für die berufliche Ausbildung geändert?
Hubert Esser: Die Auswirkungen auf die Ausbildung waren umfangreich, aber auch berufsspezifisch sehr unterschiedlich. Während im Bereich der kaufmännischen Berufe die Ausbildung ins Homeoffice verlagert werden konnte, waren zum Beispiel Auszubildende im Bereich der Gastronomie oder im Friseurhandwerk von den Schließungen der Betriebe besonders betroffen. In vielen Industriebetrieben konnte die Ausbildung trotz der Kurzarbeit der Beschäftigten weitestgehend aufrechterhalten werden. Die Auszubildenden in den Gesundheitsberufen verzeichneten ein pandemiebedingtes deutlich erhöhtes Arbeitsaufkommen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Betriebe, Berufsschulen und zuständige Stellen ihren Ausbildungsauftrag auch während der Pandemie sehr ernst genommen und nach Lösungen gesucht haben, um Ausbildung weiter zu realisieren und Prüfungen abzunehmen.
Wie reagierten Ausbildungsbetriebe und Azubis – wurden besonders viele Ausbildungsverhältnisse vorzeitig beendet oder wechselten Azubis den Arbeitgeber oder die Branche?
Trotz der starken Kontaktbeschränkungen in den ersten Coronajahren zeigte sich die duale Berufsausbildung erstaunlich resilient. So sind – entgegen vieler Erwartungen – bei denjenigen, die sich in einer Berufsausbildung befanden, die Vertragslösungsquoten während der Pandemie nicht gestiegen. Im Gegenteil, sie sind 2020 im Vergleich zum Vorjahr um fast zwei Prozent auf 25,1 Prozent gesunken.
Und wie sah es mit neuen Verträgen aus?
Die Pandemie hatte einen massiven Rückgang der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge zur Folge. Das Niveau von 2019 wurde bis heute nicht wieder erreicht.
Sind junge Menschen in der Coronazeit vermehrt „aus dem System gefallen“, haben also den Weg in die Berufswelt nicht gefunden?
Die Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss zwischen 20 und 34 Jahren macht uns große Sorgen, sie ist von 2,33 Millionen in 2020 auf 2,86 Millionen in 2022 angestiegen. Dieser Zuwachs dürfte zumindest zum Teil auf die Pandemie und die damit einhergehenden Restriktionen zurückzuführen sein. Die Kontaktbeschränkungen hatten einen nachteiligen Effekt auf das Angebot und die Teilnahme an Berufsorientierungsmaßnahmen. Für die spezifische Gruppe der ungelernten jungen Menschen gilt es jetzt, solche Angebote zu schaffen, die ihnen einen Einstieg in eine qualifizierte Erwerbsbiografie ermöglichen.
Sind Berufe, die damals im Fokus standen – beispielsweise die Pflege – noch immer präsenter als vor der Pandemie?
Berufe im Einzelhandel, oder auch der Beruf der Medizinischen Fachangestellten beziehungsweise die Pflegeberufe, haben in der öffentlichen Wahrnehmung sicher davon profitiert, als systemrelevant bewertet zu werden. Die Frage, ob dies längerfristig auch eine Rolle in der Berufswahlentscheidung junger Menschen spielen wird, lässt sich derzeit nicht beantworten.
Gibt es in der Ausbildung „Überbleibsel“, die sich bis heute gehalten haben?
Ja. So wurde während der Pandemie das Thema mobiles Ausbilden sehr relevant. Der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung hat daher im Juni 2023 eine Empfehlung zum planmäßigen „Mobilen Ausbilden und Lernen“ veröffentlicht. Hier sind die vielfältigen Erfahrungen des mobilen Ausbildens in der Coronapandemie eingeflossen. In der Empfehlung werden Gelingensfaktoren und Anforderungen an qualitativ hochwertige mobile Ausbildungsprozesse formuliert, zum Beispiel die Orientierung an klar formulierten Lernzielen für die mobilen Ausbildungsphasen und die Bedeutung sozialer Kontakte im Arbeitsumfeld für eine gelingende Ausbildung.
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Durch die Pandemie wurde die Digitalisierung der Arbeitswelt deutlich beschleunigt – auch in der Ausbildung?
Ja. Auch hier wurden neben dem mobilen Ausbilden weitere Aspekte der Digitalisierung vorangetrieben. So trat 2024 das Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz in Kraft. Es ist nun möglich, Ausbildungsverträge digital zu schließen und in die Ausbildungsrolle der zuständigen Stelle eintragen zu lassen. Auch das digitale Berichtsheft kann, ohne Medienbrüche, vollständig digital geführt werden. Prüfer und Prüferinnen dürfen zudem unter klar definierten Voraussetzungen auch virtuell an Prüfungen teilnehmen.
Gibt es Learnings aus der Pandemie, die Ausbildung zukunftstauglicher machen?
Nicht nur durch die Pandemie sieht sich die berufliche Bildung großen Modernisierungsanforderungen gegenübergestellt. Aber die Pandemie hat in vielen Bereichen wie ein Treiber gewirkt. So stellte sich zum Beispiel die Frage nach einer angemessenen Medien- und IT-Kompetenz des Aus- und Weiterbildungspersonals in besonderer Weise. Auch die Frage der digitalen Ausstattung von Berufsschulen stellte sich erneut. Die Bedeutung von Lernortkooperationen und der Austausch zwischen den am System beteiligten Akteuren kann durchaus als Resilienzfaktor angesehen werden. Wichtig ist es aber, auch Angebote für die jungen Menschen zu schaffen, denen es nicht gelungen ist, sich in der Pandemie beruflich zu orientieren.
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Der Beitrag erscheint begleitend zur Titelgeschichte unserer April-Titelgeschichte. Darin widmen wir uns schwerpunktmäßig den Learnings aus der Corona-Zeit. Hier geht’s zum E-Paper!
Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Berichterstattung zur Aus- und Weiterbildung. Zudem ist sie verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft sowie den Deutschen Personalwirtschaftspreis.