Menschen sollen zukünftig auch „nur“ mit Berufserfahrung ihre beruflichen Qualifikationen nachweisen können. Das sieht ein neuer Entwurf der Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) zum Berufsbildungsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz vor, der im Kabinett verabschiedet wurde. Demnach sollen Menschen ohne Berufsabschluss einen Anspruch auf die Prüfung ihrer beruflichen Qualifikationen haben und deren Bescheinigung.
Das gilt allerdings nur, wenn sie mindestens das Eineinhalbfache der vorgeschriebenen Ausbildungszeit in dem jeweiligen Beruf gearbeitet haben und schließt auch Menschen mit ein, die ihre beruflichen Kompetenzen in Behindertenwerkstätten erworben haben. Das Feststellungsverfahren soll von den gleichen Gremien durchgeführt werden, die sonst am Ende einer Ausbildung die Prüfungen vornehmen. Die neue Regelung soll dabei helfen, den Fachkräftemangel zu verringern, indem sie „vorhandenes Potenzial aktiviert“ und Berufsbiografien anerkennt. „Wir wollen Menschen ohne formalen Berufsabschluss einen Weg eröffnen, ihre Berufserfahrung und ihre Kompetenzen sichtbar zu machen und wieder Anschluss an das Bildungssystem zu bekommen“, sagt Stark-Watzinger.
Von Gewerkschaftsseite wird der Entwurf positiv bewertet. So bezeichnet der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB die Einführung geregelter Validierungsverfahren in einer Stellungnahme als „großen Sprung in die Zukunft“ und „missing link“, der dem System der dualen Berufsausbildung bisher gefehlt hat. Der Grund für diese großen Worte: Seit Jahren sei offensichtlich, dass Beschäftigte ohne Berufsabschluss kaum Zugang zu Weiterbildung haben und Nachqualifizierungsmaßnahmen meist nicht zu einem Berufsabschluss führen. Diese Menschen hätten deshalb nur schwer Zugang zum höherqualifizierten Arbeitsmarkt und zu Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Ihr wahres Potenzial bleibe ungenutzt.
Wird die Ausbildung dadurch unattraktiver?
Nichtsdestotrotz thematisiert der DGB auch eine mögliche Gefahr, welche die neue Regelung mit sich ziehen kann: Durch die neue offizielle Vergleichbarkeit von Berufserfahrung und Berufsabschluss könnte die Berufsausbildung an Bedeutung verlieren. Damit das nicht geschieht, hat der DGB einen Vorschlag. Das Gesetz solle nur für Personen greifen, die mindestens 25 Jahre alt sind. „Die Ergänzung ist notwendig, um eine Unterminierung der Berufsausbildung zu verhindern und klarzustellen, dass auch in Zukunft für junge Menschen der Abschluss einer Berufsausbildung absolut vorrangig sein soll.“ Auch kritisiert der DBG, dass das Validierungsverfahren kostenpflichtig ist. Dadurch würden einzelne Menschen vom Verfahren ausgeschlossen werden. Deshalb sollte es lieber kostenlos sein.
Die Gefahr, dass die Ausbildung durch das neue Validierungsverfahren an Bedeutung verliert, sieht Claudia Schmitz, Ausbildungsexpertin und Geschäftsführerin von Intercommotion, nicht. Damit Berufserfahrungen anerkannt werden, müssen Menschen in den meisten Fällen mindestens viereinhalb Jahre im entsprechenden Job arbeiten – das ist eine längere Zeit, als eine Ausbildung in Anspruch nimmt. „Das Absolvieren einer Ausbildung bleibt immer noch der schnellste und effizienteste Weg in die Arbeit und zur Anerkennung von Kompetenzen“, sagt Schmitz. Das Validierungsverfahren sei nur „ein weiterer Weg“. Davon abgesehen gebe es heute bereits die Möglichkeit, als Quereinsteigerin oder Quereinsteiger in Berufe einzutreten, und ihre Eignung wird nicht von einer externen Stelle geprüft. Trotzdem würde dieser zweite Weg in der Arbeitswelt nicht die Bedeutung der Ausbildung verringern.
Schmitz sieht dahingegen die Herausforderung an dem neuen Verfahren vor allem darin, zu bestimmen, wie genau die Kompetenzen eingeordnet und anerkannt werden sollen. Aus dem Gesetzesentwurf geht hervor, dass es sogenannte Feststellungstandems der zuständigen Stellen geben soll, die zur Feststellung der Kompetenzen geeignete Instrumente wie mündliche und praktische Prüfungen wählen. Wie genau diese Prüfungen im Detail strukturiert ablaufen werden, bleibt laut Schmitz in der Praxis zu erproben. Ihre Sorge ist hierbei, dass eine „Bürokratiewelle“ für die Organisation und Durchführung der Prüfungen entsteht. Das sei kontraproduktiv, soll das Verfahren doch auch zum Abbau der Bürokratie genutzt werden.
Info
Claudia Schmitz schreibt monatlich in ihrer Kolumne „Ausbildung neu gedacht“ über neue Entwicklungen in der beruflichen Ausbildung. Hier lesen Sie mehr!
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.