Jahresgespräche gelten als ein zentrales Instrument der Leistungs- und Personalentwicklung. Doch nicht immer gelingt es Führungskräften – und als Schaltstelle im Hintergrund damit auch HR –, dieses einmal jährlich stattfindende Ritual erfolgreich über die Bühne zu bringen. Untersuchungen zum Performance Management verweisen seit Jahren auf bekannte Schwächen, Auch Führungskräfte selbst formulieren ihre Kritik häufig offener.
„17 Stunden Aufwand pro Mitarbeiter – und am Ende sind 60 Prozent demotiviert“, schreibt etwa Andreas Ditsche, CEO des Online-Marketingunternehmens iGaming.com auf Linkedin. „Warum halten wir an einem System fest, das kaum Wirkung hat?“
Seine Zuspitzung bringt ein zentrales Problem des klassischen Jahresgesprächs auf den Punkt: Der organisatorische Aufwand ist hoch, der tatsächliche Nutzen schwer greifbar. Ditsche verweist in diesem Zusammenhang auf den „State of Performance Enablement“-Report des Softwareanbieters Betterworks aus dem Jahr 2023, wonach 64 Prozent der Beschäftigten Jahresgespräche als teilweise oder völlige Zeitverschwendung empfinden. Gleichzeitig stellen dort befragte HR-Verantwortliche selbst infrage, ob jährliche Reviews die tatsächliche Leistung von Mitarbeitenden realistisch abbilden.
Für Ditsche liegt das Problem weniger im Gespräch selbst als im Zeitpunkt und im Verfahren. „Feedback wirkt nur, wenn es relevant, zeitnah und umsetzbar ist.“ Rückblicke auf Monate zurückliegende Ereignisse seien kaum geeignet, Entwicklung oder Motivation zu fördern. „Und wenn es im Jahresgespräch Überraschungen gibt, dann wurde davor schlicht zu wenig gesprochen.“
Vom Pflichttermin zum Prozess
Offenbar ist das Jahresgespräch auch außerhalb von Deutschland in der DACH-Region ein zwiespältiges Thema. So bewertet Olivia Bucher, Leiterin Zentrale Dienste beim Kanton Luzern auf Linkedin die jährlichen Beurteilungs- und Fördergespräche als „Freud und Leid“. Um diesen Spagat erfolgreich zu meistern, setzt sie in ihren Gesprächen auf einen dialogischen Einstieg: „Wenn du dir die perfekte Vorgesetzte backen könntest, die bekäme die Note 10, wo stehe ich in deinem Ranking?“ Die anfängliche Irritation mancher Mitarbeitender zeige, wie ungewohnt echte Selbst- und Fremdreflexion auf Augenhöhe vielerorts noch ist.
Für Bucher ist klar, worauf es ankommt: „Wertschätzung gehört nicht in ein Jahresgespräch, sie gehört in den Alltag.“ Ebenso wichtig seien gemeinsam formulierte Ziele. „Gemeinsam klare Ziele definieren ermöglicht Partizipation und Partizipation schafft Engagement.“ Leistungsfähige Teams entstünden nicht durch formale Bewertungen, sondern durch „echte Gespräche, klare und direkte Kommunikation, auch wenn es beidseitig schwierig wird“.
Keine Überraschungen, klare Worte
Auch Saskia Fontanive, COO des mittelständischen Beratungsunternehmens Innovabee, betont auf Linkedin die Bedeutung von Ehrlichkeit – gerade jenseits des Jahresgesprächs. Das sei auch für sie nicht immer einfach. „Ein einziger Kritikpunkt im Jahresgespräch hat gereicht – und für mich ist innerlich die Welt zusammengebrochen“, schreibt Fontanive.
Lange habe sie Kritik als persönlichen Angriff verstanden. Heute sieht sie das anders: „Heute weiß ich, dass schonungslose Ehrlichkeit kein Angriff ist, sondern Wertschätzung bedeutet.“
Diese Einsicht prägt daher mittlerweile wohl auch ihren eigenen Führungsstil. „Bei mir gibt es keine bösen Überraschungen, sondern eine konsequente Fortsetzung dessen, was wir unterjährig besprechen.“ Das Jahresgespräch dient für sie nicht dazu, Versäumnisse nachträglich zu benennen, sondern laufende Gespräche zu bündeln. Entsprechend wichtig sei die Vorbereitung – positive wie kritische Punkte müssten vorab klar sein. „Überraschende Kritik, Monologe oder eine rein zahlenbasierte Betrachtung“ lehnt sie ausdrücklich ab.
Weg vom Urteil
Dass der Erfolg dieser Haltung auch durch Daten gestützt wird, zeigen Untersuchungen zum Performance Management seit Jahren. Bereits die Studie „Global Human Capital Trends“ des Beratungsunternehmens Deloitte aus dem Jahr 2015 kommt zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Führungskräfte nicht daran glaubt, klassische Beurteilungssysteme würden Engagement oder Leistung fördern.
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt eine Untersuchung des Softwareherstellers Sage aus dem Jahr 2023, in der nur ein Teil der HR-Verantwortlichen das eigene Leistungsmanagement als fair bewertet.
Vor diesem Hintergrund setzen immer mehr Unternehmen auf einen anderen Ansatz: weg vom urteilsförmigen Jahresgespräch hin zu regelmäßigem Austausch und einer stärkeren Coaching-Logik.
Modelle, die Performance Reviews als fortlaufenden Prozess begreifen. Wie das funktionieren kann, hat Melanie Bowhill, Associate Partner des HR-Dienstleister HR Path in einem Blog zusammengefasst. Ihre Kernthese: Leistung und Entwicklung besser durch kontinuierliches Feedback, regelmäßige Check-ins und klare Zielanpassungen begleiten. Das Jahresgespräch bleibt möglich, verliert aber seine Rolle als zentrales Steuerungsinstrument.
Info
Erfolgreiche Jahresgespräche – wer was tun kann:
HR – der Rahmen
- Jahresgespräche in kontinuierliche Feedbackprozesse einbetten
- Einheitliche Leitfäden und Vorbereitungsunterlagen bereitstellen
- Führungskräfte in Gesprächsführung und Feedback schulen
- Regelmäßige Check-ins und Zielreviews ermöglichen
Führungskräfte – die Umsetzung
- Gespräche sorgfältig vorbereiten (positiv wie kritisch)
- Keine überraschende Kritik im Jahresgespräch
- Dialog und Zielentwicklung in den Mittelpunkt stellen
- Feedback ganzjährig geben, nicht sammeln
Das Jahresgespräch braucht ein System
Die Praxisbeispiele und Studien machen vor allem eines deutlich: Das Jahresgespräch scheitert nicht, weil es existiert, sondern weil es vielerorts zu viel leisten soll. Wo es als einziges Instrument für Feedback, Leistungseinordnung und Entwicklung dient, entsteht Druck – auf Führungskräfte ebenso wie auf Mitarbeitende. Entwicklung lässt sich jedoch nicht auf einen einzelnen Termin im Kalender konzentrieren.
Andreas Ditsche bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen mehr Mut für zeitnahes, ehrliches Feedback – als Dialog, nicht als jährliches Protokoll.“ Für HR heißt das, Feedback systematisch zu ermöglichen und Führungskräfte darauf vorzubereiten. Für Führungskräfte bedeutet es, Gespräche sorgfältig vorzubereiten, klar zu kommunizieren und Kritik nicht zu sammeln.
Info
Jahresgespräche – rechtliche Pflichten für Arbeitgeber
Zielgespräche sind nicht nur Führungsinstrumente. Sind variable Vergütungen an Ziele gekoppelt, entstehen für Arbeitgeber vertragliche Pflichten – mit haftungsrelevanten Folgen.
- Ziele müssen rechtzeitig festgelegt werden
Erfolgt keine rechtzeitige Zielvorgabe und kann eine spätere Festlegung ihre Anreizfunktion nicht mehr erfüllen, kann ein Anspruch auf Schadensersatz statt der variablen Vergütung entstehen.
(BAG, Urteil vom 19.02.2025 – 10 AZR 57/24).
- Zielvereinbarungen erfordern echte Mitwirkung
Verpflichtet sich der Arbeitgeber, Ziele zu vereinbaren, muss er Verhandlungen führen und dem Arbeitnehmer realen Einfluss auf die Zieldefinition ermöglichen. Einseitige Festlegungen genügen nicht.
(BAG, Urteil vom 03.07.2024 – 10 AZR 171/23). - Unterlassene Zielvereinbarungen sind haftungsrelevant
Kommt eine geschuldete Zielvereinbarung schuldhaft nicht zustande, kann nach Ablauf der Zielperiode ebenfalls ein Schadensersatzanspruch entstehen.
(BAG, Urteil vom 17.12.2020 – 8 AZR 149/20).
Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.

