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Mit neuen Weiterbildungskonzepten durch die digitale Transformation

In den verschiedensten Industriebereichen fordert die Digitalisierung zum Umdenken bei den Qualifikationen und der betrieblichen Weiterbildung auf. Bild: Coloures-Pic/Fotolia.de
In den verschiedensten Industriebereichen fordert die Digitalisierung zum Umdenken bei den Qualifikationen und der betrieblichen Weiterbildung auf. Bild: Coloures-Pic/Fotolia.de

Unstrittig ist, dass die Digitalisierung derzeit wie eine Keule geschwungen wird, um selbst unliebsame Veränderungen durchzupauken. Jedoch ohne Urteilsvermögen, das Sinnvolle von Unsinnigem zu unterscheiden, unterwirft man sich lediglich einer Sachzwangideologie. Wissen für den Umgang mit Maschinen und die Beherrschung von Technik, darin waren sich auch die Teilnehmer einer gemeinsamen Tagung von Audi und der IG Metall Ende Juni in Ingolstadt einig, gewähren für sich genommen keine Sicherheit, ob der damit verknüpfte Datenaustausch in die richtigen Bahnen gelenkt wird. Anders formuliert: Im Informationsraum benötigen Beschäftigte auch kritische Distanz.

Können Arbeitsplätze dauerhaft erhalten werden?

Das hat massive Folgen für die betriebliche Weiterbildung. „Das disruptive Element der Transformation führt dazu, dass viele Qualifikationen und Berufe nicht mehr anschlussfähig sind“, bilanzierte die Volkswirtin Andrea Baukrowitz in ihrem Referat den Stand der Forschung. Danach birgt die Digitalisierung ein hohes Substitutionspotenzial. Beschäftigte fragen sich zunehmend, ob sie ihren Arbeitsplatz behalten können, neue Qualifikationen erwerben oder womöglich einen neuen Beruf erlernen müssen. „Viele Menschen wollen erfahren, welche Perspektiven sich ihnen eröffnen. In der betrieblichen Weiterbildung, die zunehmend an ihre Grenzen stößt, sind daher neue Konzepte erforderlich.“

Auf dieses Problem ging Michael Schmid, Leiter der Audi Akademie, näher ein. Um herauszufinden, ob die traditionelle Aufgabe als betrieblicher Seminaranbieter überhaupt noch gefragt ist, habe man sich intensiv in den Fachbereichen des Autokonzerns umgehört.

Wir sollen mehr die Rolle eines Coachs oder Lernbegleiters übernehmen,

fasste Schmid das Befragungsergebnis zusammen. Dank enger Vernetzung im Unternehmen erfahre die Akademie frühzeitig von innovativen Entwicklungen und könne ihre Qualifikationskonzepte schnell darauf ausrichten. Leitidee sei die strategische Ressourcenplanung: Aus den ermittelten Lücken zwischen Ist- und Soll-Qualifikationen der Beschäftigten würden sukzessive maßgeschneiderte Angebote entwickelt.

Digitalisierung hat auch Folgen für die Firmenkultur

Dabei arbeiten Akademie und Betriebsrat Hand in Hand. „Unser gemeinsames Ziel ist eine qualifizierte Belegschaft“, betonte Gesamtbetriebsratschef Peter Mosch in einer Diskussionsrunde. Zwar werde die Transformation nicht ohne Arbeitsplatzverluste vonstatten gehen, räumte Mosch ein. Man müsse sich aber auch über kulturelle Auswirkungen verständigen. Viele Führungskräfte seien noch nicht bereit, den Beschäftigten die in Betriebsvereinbarungen definierten flexibleren Arbeitsbedingungen tatsächlich einzuräumen. Ob sie so „die Menschen mitnehmen“ könnten, bemühte Mosch eine schier unausrottbare Phrase, sei stark zu bezweifeln.

Im Schulterschluss mit den Arbeitnehmervertretern zu kooperieren ist auch Leitlinie von Klaus Zimmermann, Leiter von Festo Didactic. Mit ihrem Weiterbildungskonzept des arbeitsplatznahen Lernens gilt die Akademie als „Leuchtturm“ der Elektronikbranche. Unter dem Einfluss von Industrie 4.0 sei das längst überfällig, sagte Zimmermann. Festo entwickelt rund 30.000 Produkte, die nun sukzessive mit „Intelligenz“ angereichert würden, etwa zur Selbstdiagnose bei Reparaturbedarf. Wenn ferner Maschinen mit Maschinen kommunizieren und völlig neue Daten produzieren, verändern sich auch Abläufe und Geschäftsprozesse von Grund auf.

Selbstgesteuert Wissen aneignen

Das ruft große Unsicherheit hervor. „Wir kommen immer häufiger in Situationen, die wir nicht kennen, und stoßen auf Probleme, für die unsere Ingenieure keine Lösung parat haben“, schildert Zimmermann den permanenten Veränderungsdruck. Mitarbeiter und Führungskräfte benötigten deshalb die Bereitschaft, sich dem Wandel zu öffnen. Vorrang habe die Fähigkeit, sich Wissen selbstgesteuert anzueignen, sowie eine ausgeprägte Sozialkompetenz. Offen seine Meinung zu sagen und Kritik zu üben, zähle dazu. Doch darauf seien Führungskräfte in Industrieunternehmen nicht vorbereitet, so Zimmermann. Viele gingen Konflikten aus dem Weg. Das allein, zitiert Zimmermann Studien, sei für rund 20 Prozent Produktionsverlust verantwortlich.

In den Festo-Werken sind nun erste „Lernfabriken“ zu finden, komplett verglaste Inseln inmitten der Produktion. Im Arbeitsumfeld jederzeit transparent diskutieren Führungskräfte mit ihren Teams, wie die Digitalisierung sich auf die Arbeitsplätze auswirkt. Meister beraten sich mit ihren Mitarbeitern, wie sie mit Echtzeitdaten verfahren. Zuvor wurden alle Führungskräfte über den Qualifikationsbedarf ihrer Mitarbeiter befragt. So kristallisierten sich 120 Lernfelder heraus, die auf Basis eines neuen Kompetenzmodells in 40 Qualifikationsmodulen von 20 bis maximal 90 Minuten Dauer komprimiert angeboten werden.

Auch das wurden Führungskräfte gefragt: Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten auf einem Kreuzfahrtschiff. In welcher Rolle sehen Sie sich dort? Die erwartbaren Antworten: Kapitän, Lotse, Maschinist.

Was wir künftig brauchen, ist jedoch der Designer, der Entwickler. Er muss die Organisation weiterentwickeln,

so Zimmermann. Auch mit der Phrase „die Menschen mitnehmen“ rechnete er ab. „Wir wollen die Kollegen nicht in Karren setzen und durchschieben, sondern sie an der Veränderung beteiligen, sogar in gestaltender Funktion.“

Wie Change auf dem Shopfloor funktioniert, zeigt ein spannendes Projekt eines Berliner Siemens-Werkes. In der Elektronikfertigung arbeiten 900 Menschen, davon allein 600 in der Produktion. Nachdem Stefanie Klebe mehrere Jahre in der Personalabteilung gearbeitet hatte, wird sie vom Werkleiter gefragt, ob sie nicht als Projektmanagerin die Beschäftigten in der Transformation begleiten wolle. Beherzt packt sie diese Aufgabe an. „Künftig werden Mitarbeiter deutlich kreativer sein als bisher. Sie lösen Probleme eigenständig und entscheiden mit“, skizziert Klebe die Gründzüge des neuen arbeitsplatznahen Lernkonzepts.

Schlechte Befragungsergebnisse als Auslöser für den Change

Den Stein ins Rollen brachte eine Mitarbeiterbefragung. Die Beschäftigten fühlten sich übergangen und nicht ernst genommen, lautete das verheerende Ergebnis. Mit Blick auf die digitalen Veränderungen und gestiegenen Qualifikationsanforderungen in der Produktion zog Klebe daraus diese Lehre: „In die Organisationsentwicklung müssen wir die Kollegen viel stärker einbeziehen.“ Die Betriebswirtin unterhielt sich mit jedem einzelnen Kollegen über den jeweiligen Weiterbildungsbedarf und sammelte viele Ideen ein.

Um stets Feedback zu ermöglichen – zuvor sträflich vernachlässigt –, nutzt Klebe das Potenzial der sozialen Medien. Inzwischen können Mitarbeiter auf zahlreichen Monitoren eigene Vorschläge posten und direkt auf Fragen antworten, die andere dort eingeben. „Führungskräfte erreichen oft ihre Mitarbeiter nicht mehr. Das können wir über Facebook gut auffangen“, so Klebe. Die Beteiligung ist enorm gestiegen: Das geht so weit, dass Mitarbeiter mitentscheiden, ob und in welcher Gestalt eine neue automatische Fertigungsstrecke eingesetzt wird. Dank eigener Initiative klären sie auch frühzeitig ab, was technische Veränderungen an konkretem Weiterbildungsbedarf nach sich ziehen. „Immer mehr Mitarbeiter engagieren sich beim Thema Neues Arbeiten“, fasste Klebe das bisher Erreichte auf der Tagung zusammen. Dieses Engagement konnte auch den Betriebsrat überzeugen, der sich zu Beginn noch etwas skeptisch zeigte.

Die Richtung ist klar: Anstelle eines von oben verordneten „Lean“-Konzepts hat man sich für die Selbstorganisation entschieden. Auch das konnten die Teilnehmer aus Ingolstadt mit nach Hause nehmen: Greifen Mitarbeiter gestaltend in die digitale Transformation ein, wird sie ihnen also nicht übergestülpt, könnten sich womöglich viele Ängste legen. Eine Blaupause für andere Unternehmen und ihre Betriebs- und Sozialpartner? Das wird sich noch erweisen müssen.

Autor: Winfried Gertz, freier Journalist, München