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Die Entdeckung der Einfachheit

Junges Talent spielt Geige
Bild: Kuzmichstudio/istock

Was macht gutes Talent Management überhaupt aus? Die überraschende Erkenntnis: die Bedeutung von Einfachheit – aber auch die Tatsache, dass man bisher gewohnte Sichtweisen überwinden muss. Folgern lässt sich das aus der Studie „The Real Impact of Talent“ der World Federation of People Management Associations (WFPMA), in deren Rahmen 3400 Firmen in mehr als 80 Ländern nach den Prioritäten in Talent Management und Führung befragt wurden. Unabhängig von Größe, Industrie oder Land teilen die erfolgreichen Unternehmen vier Überzeugungen:

– Es geht um Menschen, nicht um Prozesse.
– Es geht um Führung, nicht um Personalwesen.
– Es geht um Einfachheit, nicht um Expertentum.
– Es geht um Glaubwürdigkeit.

Es geht um Menschen. Erfolgreiche Organisationen feiern den Beitrag ihrer Mitarbeiter. Sie vergeuden weniger Zeit mit Prozessdesign und Regularien und lassen mehr individuellen Handlungsspielraum. Erfolgreiches Talent Management geht auf das ein, was Talente wirklich wollen und wie Talente das Talentsystem eines Unternehmens bewerten – und gibt nicht nur das vor, was Personaler oder Unternehmenslenker darin sehen.

Es geht um Führung. Bevor man Zeit und Energie in die HR-seitige Gestaltung von Talent Management steckt, sollte man lieber Führungskräften helfen, gute und aktive Talent Manager zu sein. Wenn man 1000 Toptalenten bezüglich Bindung und Motivation zuhört, erkennt man, dass sie keine Scheu vor People Management haben. Sie suchen vielmehr die Mitverantwortung und Gestaltung in der Personalentwicklung.

Es geht um Einfachheit. Je einfacher sich Talent Management gestaltet, desto bereitwilliger und ergebnisreicher können sich Führungskräfte und Mitarbeiter darauf einlassen. Je einfacher es ist, desto leichter lässt sich auch Mehrwert erklären. Sich selber fragen hilft dabei: „Was würde ich machen, wenn ich kein Personaler wäre? Wenn ich noch weniger Zeit und Geld für das Thema hätte?“

Es geht um Glaubwürdigkeit. Übereinstimmendes Reden und Handeln entscheidet letztlich über Erfolg und Misserfolg. Vertrauen und Unternehmertum predigen und gleichzeitig detailliertes HR-KPI-Reporting aufsetzen (ein Misstrauensinstrument), könnte irritieren oder sogar zynisch wirken. Anders als Maschinen erinnern sich Menschen an Unglaubwürdigkeit und werden Leidenschaft und Leistung zurückhalten – oder gehen.

Wie Unternehmen diese Qualitäten praktisch umsetzen, erkennt man an vier Themen im Talent Management, die die Unternehmen für den künftigen Geschäftserfolg als besonders wichtig hervorgehoben haben: Leader Engagement, Business Anchor, Strategic Planning, und Success Behavior.

Leader Engagement

Der Führungsalltag ist komplex. Geschwindigkeit, Kostendruck, sich wandelnde Geschäftsmodelle und Technologiesprünge, unterschiedliche Generationen. Personalführung und Änderungen der Personalmanagementpraktiken werden oft schlichtweg als zusätzliche Last wahrgenommen. Es ist nicht verwunderlich, dass in nur zwei von zehn Unternehmen die Führungskraft beim Thema TalentManagement im Mittelpunkt gesehen wird. Erfolgreiche Firmen sind aktiver. Bei 35 Prozent treiben Führungskräfte das Thema und bei weiteren 22 Prozent ist die Führungskraft systematisch eingebunden.Bei weniger erfolgreichen Unternehmen sehen 75 Prozentder Firmen keine aktive Rolle der Führungskraft.

In kleinen Unternehmen mit 100 bis 200 Mitarbeitern zeigen erfolgreiche Firmen doppelt so oft eine kombinierte Personal- und Geschäftsverantwortung im Vergleich zu den erfolgloseren. Sie scheinen das HR-Silo nicht so häufig und so früh auf ihrem Wachstumspfad zu schaffen.

Ansatzpunkte liegen hier jedoch weniger in der Personalfunktion, sondern in der Unternehmenskultur, die das Selbstverständnis für Peoplemanagement in der Führung schaffen muss und dabei oft etablierte Strukturen aufbrechen muss, in der sowohl Personaler als auch Führungskräfte ihr Silodenken „die Personalfunktion ist Dienstleister“ veränderungsresistent verteidigen.

Praxisbeispiele:
Ein argentinischer Mittelständler mit 220 Mitarbeitern im
Lebensmittelbereich konnte kritische Talenterosion erfolgreich bekämpfen
und das Betriebsklima nachhaltig verbessern. Es wurde ein Programm
aufgesetzt, bei dem erstmalig nicht HR, sondern die Führungskräfte in
der Verantwortung standen. Sie identifizierten die Talente und führten
das on-the-job-fokussierte Programm selbst mit durch. Das Programm
verlief rundum erfolgreich: Kritische Talente blieben an Bord, das
Programm lieferte diverse Verbesserungen für das Geschäft und die
Führungskräfte konnten gleichzeitig ihre Personalentwicklungsfähigkeit
ausbauen – was zu einem nachhaltig besseren Betriebsklima und zu
größerer Wertschätzung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft beitrug.

Auch
eine europäische Bauindustriefirma hat die Talentfluktuation
erfolgreich bekämpft. Konventionelle, HR-seitig getriebene
Mentorenprogramme blieben jedoch erfolglos. Bei einem weiteren Versuch
verschwand die Fluktuation durch eine kleine Änderung gänzlich. Diesmal
kommunizierte die Unternehmensspitze den Mehrwert, sich als Mentor
engagiert zu verhalten. Die Agenda der Managementmeetings wurde
erweitert. Neben Geschäftsentwicklung, Marketing und Produktion wurde
der Fortschritt der Mentees regelmäßiger Bestandteil der Meetings. Die
Managementteammitglieder berichteten konkret über die Fortschritte ihrer
Mentees. Sie kümmerten sich stärker um deren Entwicklung und gaben den
Talenten mehr Sichtbarkeit für die weitere Entwicklung.

Business Anchor

Verwendet der CEO das Wort „Talent“ regelmäßig? Können Mitarbeiter und Führungskräfte regelmäßiges, glaubwürdiges Verhalten ihres Topmanagements beobachten? In 85 Prozent der erfolgreichen Unternehmen erleben die Mitarbeiter vorgelebtes Talent Management durch die Unternehmensführung. In 42 Prozent der wenig erfolgreichen hingegen unterstützt der CEO das Thema nicht und überlässt es dem HR-Silo als „Fachaufgabe“. Wenn man mit Führungskräften spricht, die sich als verantwortliche Talent Manager fühlen, teilen sie ihre Begeisterung für das Thema. Sie beschreiben die Winwin-Situation so, dass auch sie von ihren Talenten viel lernen und strategisches Denken sowie Entscheidungen verbessern können.

Praxisbeispiele:
In einem familiengeführten Bauunternehmen in Bangladesch mit 1000
Mitarbeitern unterstreicht der neue weibliche CEO die
Internationalisierung und Modernisierung des Geschäfts. In einer
traditionsreichen, muslimischen Organisation wird das Thema Talent
Management erstmalig als Businesspriorität der Geschäftsleitung gesetzt.
Internationale Manager mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz wurden
eingestellt. Gemeinsam mit dem existierenden Senior Management führen
die Führungskräfte unter der Schirmherrschaft des CEO
Mitarbeiterinterviews mit Blick auf den Talentpool durch. Der
Kulturwandel und die strategische Neuausrichtung wurden den Mitarbeitern
somit glaubwürdig und konsistent erlebbar gemacht. Neuen und alten
Führungskräften wird die Möglichkeit gegeben, ohne Gesichtsverlust
voneinander zu lernen und als Team zu agieren.

In einer
Ingenieurfirma mit 100 Mitarbeitern in einem internationalen
Unternehmensverbund hält der CEO sein Talentversprechen auf
beeindruckende Weise. In einem Arbeitsmarkt mit hoher Fluktuation von
talentierten Mitarbeitern fördert er sogar die internationale Karriere
seiner besten Mitarbeiter und hilft ihnen bei ihrem Weg auch außerhalb
seiner Organisation. Die Strategie geht auf. Einerseits ist die
Talentfluktuation des Unternehmens geringer als der Durchschnitt,
andererseits kehren viele der Talente zurück, um wieder für die
Organisation zu arbeiten.

Strategic Planning

Nachhaltiger Unternehmenserfolg braucht fortwährend die richtigen Personen in Schlüsselpositionen. Dies ist jedoch kein mechanischer Balanceakt zwischen Organigramm und Demografie. Gute Nachfolgeplanung berücksichtigt die Präferenzen und Entwicklungspläne der Mitarbeiter und die Unberechenbarkeit der VUCA-Welt. Deterministische Personalplanungssystematiken beruhigen zwar das Sicherheitsbedürfnis der Geschäftsführung – mit erheblichem administrativen Aufwand –, sind aber im heutigen Kontext tendenziell realitätsfern und unbrauchbar. Zukünftige Ansätze müssen weniger statisch und detailorientiert sein und auf die bedingt planbare Evolution von Geschäftsmodellen angepasst sein.

25 Prozent der erfolgreichen Firmen gehen einen solchen inkludierenden Weg. Sie schauen längerfristig und binden die Talente aktiv in die evolutorische Gestaltung einer bedingt planbaren Zukunft mit ein. Talententwicklung und Nachfolgeplanung rücken näher zusammen im Sinne von Erfolg versprechenden Opportunitäten für Menschen und Geschäft.

Ein türkischer Automobilzulieferer setzt Innovationsprojekte mit Universitäten zur Nachfolgeplanung ein. Bei besonders Erfolg versprechenden Projektergebnissen können sich Projektbeteiligte beim Unternehmen jenseits von Vakanzen mit ihrem Projektergebnis als „Stellenbeschreibung“ bewerben und sich eine Perspektive mit dem Unternehmen schaffen.

Praxisbeispiel:
In Sri Lanka hat eine Hotelkette mehrfach vergeblich versucht, ein Hotel
in einer geschäftsträchtigen, aber gastronomisch und touristisch
unerschlossenen Gegend zu eröffnen. Ein potenzieller General Manager
ging einen ungewöhnlichen Weg – mit Erfolg. Anstatt abermals im Stil
großer Unternehmen frontal den Hotelbau voranzutreiben, investierte er
Zeit und lebte eine Zeitlang mit den Einheimischen vor Ort, um die
Befürchtungen und Wünsche der Anwohnerbesser zu verstehen und danach den
Business Plan und Personalplanung („Nachfrage“ und „Angebot“) aus der
Sicht der dort Lebenden anzupassen. Die Investition zahlte sich aus. Mit
Unterstützung der lokalen Community und motivierter Mitarbeit der
Einheimischen eröffnete und betrieb er das Hotel erfolgreich.

Success Behavior

Kultur ist der mächtigste Wegbereiter oder Verhinderer von Erfolg. Sie beschreibt das Zusammenspiel der Menschen im Geschäftskontext und kann die Leidenschaft jenseits von Prozessen, Richtlinien und Tools freisetzen, ohne die es keine Erfolgsgeschichten und zukunftsweisende Innovation gibt.

Praxisbeispiele:
Ein französisches Unternehmen mit 200 Mitarbeitern hält diese an, 25
Prozent der jährlichen Ziele dem persönlichen Wachstum zu widmen. Das
Unternehmen unterstützt diese Ziele. Führungskräfte und Mitarbeiter
steigern ihre Eigenverantwortung beim Thema Entwicklung – und die
Bindung ans Unternehmen. Diese Form der Wertschätzung setzte ungeahntes
Potenzial bei den Mitarbeitern frei und schlägt sich im Geschäftserfolg
nieder.

Eine vietnamesische Beratungsfirma mit 120 Mitarbeitern
hat sich erfolgreich gegen die vorherrschende Talentpraxis in einem
fluktuationsstarken Arbeitsmarkt gestellt. Gute Leute werden oft durch
Rückerstattungsklauseln aufwendiger,, verpflichtender
Talententwicklungsprogramme an ein Unternehmen gebunden. Die Beratung
dagegen setzt ein Signal in Richtung Vertrauen. Sie verzichtet auf
Rückzahlklauseln und übernimmt sogar Rückerstattungen, wenn ein Talent
von einer anderen Firma wechselt. Darüber hinaus erhalten die
Mitarbeiter im Lauf der Zeit Unternehmensaktien. Das Unternehmen führt
sein Wachstum und Geschäftserfolg insbesondere auf die motivierte,
talentreiche Belegschaft mit geringer Fluktuation zurück.

Künftige Erfolgsteams durch Führungskräfte und Talente aufbauen

Betrachtet man weltweit erfolgreiche Unternehmenspraktiken im Talent Management, zeigt sich die kritische Relevanz der vier Qualitäten für nachhaltigen Erfolg: Menschen, Führung, Einfachheit, Glaubwürdigkeit. In kleinen Organisationen hängt dies stark von der Haltung des Unternehmers ab. Evolution regelt dabei das Überleben in der Unternehmenslandschaft. Die besten Teams werden die Erfolgsgeschichten schreiben.

Die Personalfunktion kann ein wesentlicher Wegbereiter für künftigen Erfolg sein, wenn sie es versteht, sich mit Blick auf Existenz und Wertbeitrag in Frage zu stellen. Sie benötigt konstruktiven Humor und Veränderungsneugier und Geschäftssinn. Der in den vergangenen Dekaden erlernte Mehrwert als Expertensilo könnte sich künftig zu Wertverhinderung umkehren. Folgt man erfolgreichen Unternehmen, ist Talent Management täglicher Bestandteil für Mitarbeiter und Führungskräfte. Die Personalfunktion etabliert ein grundsätzlich anderes Selbstverständnis: nicht Dienstleister sein, sondern Befähiger, Initiator und Motor des Wandels.

Vergleicht man erfolgreiche mit weniger erfolgreichen Firmen, dann beobachtet man doppelt so häufig diese neue Sichtweise auf People Management:

– Talent Management ist Kernaufgabe der Führungskraft und wird durch die HR-Funktion lediglich unterstützt.
– Talente gestalten (ihre) Talententwicklung mit. Dieses Selbstverständnis ist Teil der Unternehmensphilosophie.
– Der CEO fördert Talent Management und lebt dies regelmäßig als Vorbild vor.

Der Autor:
Philipp Zimmermann, Head of Talent & Leadership, Evonik Industries AG, Essen, philipp.zimmermann@evonik.com

Von der Nachwuchsförderung in anderen Welten lernen: die Quintessenz als Checkliste
1. Installieren Sie feste Strukturen und verbindliche Prozesse
Die Art und Weise, wie Ihr Talent Management vorgeht und fördert, muss stringent, verbindlich und den Mitarbeitern bekannt sein. Fallweise Entscheidungen untergraben das Vertrauen in die Fairness des Prozesses – und des Unternehmens.
2. Holen Sie die Meinung mehrerer Führungskräfte und Beobachter ein
Talentförderung aufgrund einer einzigen Empfehlung hat ein Geschmäckle. Sprechen Sie auch mit früheren Führungskräften, Projektleitern, Fachspezialisten und vertrauenswürdigen Beratern, die das Talent längere Zeit beobachtet und erlebt haben. Gewichten Sie deren Meinung im Hinblick auf das avisierte Entwicklungsziel.
3. Nehmen Sie die empfehlenden Führungskräfte in die Verantwortung
Wer einen Mitarbeiter zur Förderung empfiehlt, sollte sich bewusst sein, dass er Mitverantwortung dafür trägt, ob und inwieweit das Talent hält, was es verspricht. Als Mentoren oder Coaches können Führungskräfte die Entwicklung ihres Zöglings in die richtige Richtung beeinflussen. Wenn ihnen am Erfolg des Unternehmens gelegen ist, werden sie das auch gern tun.
4. Verbinden Sie Förderung mit Forderung
Nachwuchsförderung ist kein Füllhorn voller Wohltaten für die Talente. Machen Sie klar, dass die Förderung mit Forderungen nach Leistung einhergeht. Fachkräftemangel hin oder her: Trauen Sie sich, Gegenleistungen zu verlangen. Und sei es purer Fleiß.
5. Machen Sie dem Talent klar, dass nichts sicher ist
Wenn sich die Erwartungen des Unternehmens nicht erfüllen, können Talente auch wieder aus dem Förderprogramm herausfallen. Legen Sie vor Beginn der Maßnahme fest, ob das auch unter veränderten betrieblichen Rahmenbedingungen gilt. Lassen Sie das die für die Förderung vorgesehenen Mitarbeiter wissen und dokumentieren Sie die Information.

Autorin: Christine Demmer


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› Editorial „Unordnung im Talentschuppen“
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