Zunächst eine notwendige Begriffsunterscheidung: Bei Videobewerbungen kann ein Kandidat mittels geeigneter Technik ein Video von sich anfertigen, das er zusätzlich zu seinen Bewerbungsunterlagen an den potenziellen Arbeitgeber schickt. Ein Videointerview kommt hingegen erst nach Sichtung der eingereichten Bewerbung zustande. Es wird durch das Unternehmen anberaumt und gesteuert. Bei diesen Interviews unterscheidet man zwischen zeitversetzten und Echtzeitgesprächen. Einige Lösungsanbieter haben zusätzlich Video-Assessments in ihrem Portfolio.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die für Videointerviews sprechen. Meist nennen die Befürworter zuerst die Zeit- und Kostenersparnis. Gerade bei Erstinterviews und wenn ein Bewerber weit entfernt wohnt und nur mit hohem Aufwand zum Vorstellungsgespräch kommen kann, ist es mittlerweile eine häufiger genutzte Variante des Bewerbergesprächs. Dabei ist auch der zeitliche Faktor ausschlaggebend, da sich beide Seiten die Anreise sparen und das Vorgehen relativ einfach ist. Darüber hinaus geht es auch um eine reduzierte Time to Hire, die schnellere Besetzung von offenen Stellen. Ganz abgesehen davon, dass sich über Videointerviews erheblich mehr Bewerber in kurzer Zeit kennenlernen lassen. Und insbesondere jüngere Bewerber sehen darin häufig authentische und innovative Werkzeuge, was somit dem Employer Branding zugutekommt.
Videointerviews in der Praxis
Bei Phoenix Contact setzt man sowohl auf zeitversetzte Interviews über externe Anbieter als auch auf Live- interviews, die vorwiegend über die eigene Social-Collaboration-Plattform „Phoenix Contact World“ durchgeführt werden. Allerdings vornehmlich in Fällen, in denen sich Bewerber weit entfernt aufhalten und ein Flug oder eine längere Anfahrt erforderlich wäre. Oder es ist sehr dringlich und der Bewerber kann nicht so schnell vor Ort sein.
„Die Teilnahme am Videointerview ist natürlich freiwillig“, betont Alexander Schön. Er leitet das Recruiting bei dem Technologieunternehmen. „Es gibt im Zuge der Einladung zum Videointerview für den Bewerber vorab immer ein Wahlrecht, ob ihm alter- nativ ein Telefoninterview mehr zusagt. Und wir fragen jeden Kandidaten nach dem Gespräch, ob das Interview für ihn in Ordnung war. Aus dieser Rückmeldung wollen wir lernen, um immer besser werden zu können.“ Die meisten Bewerber fänden das Videointerview gut und seien sogar froh, sich so rasch persönlich vorstellen zu können. Aber auch vonseiten des Unternehmens ist es laut Schön wichtig, den Kandidaten möglichst schnell zumindest die virtuelle Hand reichen zu können und mit ihnen in Kontakt zu kommen. Nach dem Interview werden Bewerber, die interessant sind, aber auf jeden Fall eingeladen: „Ein Video ersetzt niemals ein persönliches Gespräch von Angesicht zu Angesicht.“
+++Zehn Tipps für erfolgreiche Live-Videointerviews finden Sie am Ende des Beitrags+++
Chance für B-Kandidaten
Auch Currenta, der Betreiber des Chemparks mit drei Standorten in Nordrhein-Westfalen, nutzt bei der Personalgewinnung zeitversetzte Videointerviews. Führungspositionen mit intensivem Kundenkontakt, wie zum Beispiel Laborleiter oder Ingenieure, stellen sich so online standardisierten Fragen. Bisher macht das Unternehmen sehr gute Erfahrungen mit diesem zusätzlichen Schritt im Bewerbungsverfahren. Für Nina Böhme, Referentin für Personalgewinnung bei Currenta, ist es zur besseren Vergleichbarkeit der Bewerber nicht nur wichtig, standardisierte Interviews führen zu können. Sie schätzt noch einen anderen Aspekt, der einem zunächst nicht in den Sinn kommt: „Wir haben durch die Videointerviews auch viele sogenannte B-Kandidaten kennengelernt und eingestellt, die bei klassischen Bewerbungsverfahren sonst nie aufgefallen wären oder eine Chance gehabt hätten“, stellt sie fest.
Simon von Hertzberg ist COO des auf Ferienhäuser spezialisierten Vergleichsportals Holidu. Das Start-up verzeichnet hohe Wachstumsraten und deshalb wächst die Belegschaft rasch. Weil man international rekrutiert, erfolgt laut von Hertzberg, der auch für Personalfragen zuständig ist, bei 95 Prozent der Bewerber das Erstgespräch per Video. Auch wenn Videointerviews bei Neueinstellungen bei Holidu Standard sind und sich bestens bewährt haben, sieht er diese Variante des Bewerbungsgesprächs nicht ganz ohne Vorbehalte: „Wir können mit Videointerviews sehr schnell eine persönliche Bindung zu den Kandidaten auf- bauen und sparen im Vergleich zu Gesprächen vor Ort insbesondere bei internationalen Bewerbern Kosten sowie Zeit für beide Seiten. Es besteht aber prinzipiell die Gefahr, dass gelegentlich auftretende Verbindungsprobleme oder eine schlechte Tonqualität die Kommunikation erschweren und sich auch negativ auf die Gesprächsstimmung und die Einschätzung eines Bewerbers auswirken könnten.“ Das Unternehmen ist sich dieser und anderer potenziell verzerren- der Faktoren bewusst und wechselt im Bedarfsfall zum Beispiel unkompliziert aufs Telefon. „Außerdem schließen wir vor einer finalen Entscheidung immer ein persönliches Kennenlernen an.“
Die Anbieterlandschaft
Die Praxisbeispiele zeigen, dass Videointerviews sich einer zunehmenden Beliebtheit erfreuen. Doch auf welche Lösungen können Recruiter zurückgreifen? Berichte über Video-Recruiting-Lösungen tauchten in Deutschland ab 2013 auf, zwei Jahre später ebbte das Thema medial wieder ab. Abseits des Mainstreams eher unbemerkt entwickelte sich dieser Markt dennoch beständig weiter, auch wenn Interviews per Video hierzulande immer noch nur eine Randerscheinung sind. Studien dazu gibt es keine. Lediglich der Personalvermittler Robert Half führte in 2013 eine Untersuchung bei 250 HR-Managern in Deutschland und in der Schweiz durch. In dieser wurde gefragt, wie häufig sie Vorstellungsgespräche per Skype nutzten. Danach führten Unternehmen in Deutschland in 2013 15 Prozent mehr Vorstellungsgespräche per Skype als noch in 2010; in der Schweiz lag der Zuwachs damals bei 22 Prozent. Heute listet die Webseite Interviewingsoftware.com welt- weit über 500 Anbieter von Videointerview- beziehungsweise Video-Recruiting-Lösungen auf. Die meisten davon sind in Europa, speziell im Vereinigten Königreich, ansässig, gefolgt von den USA, Australien, Asien und Südamerika. Im deutschen Markt sind zurzeit neben Viasto und Talentcube vor allem die Anbieter Easyrecrue, Interactly, Videorecruit, Wepow und Zoom aktiv.
Martin Becker ist einer der Gründer und Geschäftsführer von Viasto, das sich seit 2010 auf das Thema spezialisiert hat. Für Becker ist allerdings weniger das Medium, mit dem die Interviews durchgeführt wer- den, wichtig: „Es geht darum, durch gezielte und valide Fragen Antworten zu erhalten, die man über nicht standardisierte Interviews womöglich nicht erhalten hätte und die man auch aus dem Lebenslauf nicht ersehen kann.“ Dazu hat seine Firma mit großem Aufwand standardisierte und wissenschaftlich fundierte Fragenkataloge entwickelt, die sich, je nach Position, für das jeweilige Interview anpassen lassen. Der Bewerber erhält die auf das Jobangebot passenden Fragen per Link zur Videoplattform zugesandt. Innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens muss er diese Fragen, die unterschiedlich hohe Stresspegel haben, per Video beantworten. Nach Fertigstellung steht das Interview dem einstellenden Unternehmen als Datei zur Auswertung zur Verfügung. Mittlerweile können die Fragen per Video auch über das Smartphone beantwortet werden. Ähnliche Lösungen bieten das deutsche Unternehmen Talentcube sowie einige ebenfalls in Deutschland operierende ausländische Hersteller an.
Bei Echtzeitinterviews gelten ähnliche Bedingungen, nur dass das Gespräch direkt mit der HR- oder der Fachabteilung am Bildschirm als Videokonferenz durch- geführt wird. Bei diesem Verfahren haben sich auch Live-Chat-Lösungen wie Microsofts Skype, Ciscos Webex und ähnliche Software durchgesetzt, wobei hier – spätestens seit der EU-Datenschutz-Grundverordnung – darauf geachtet werden muss, dass sämtlicher Datenverkehr auf EU-Gebiet stattfindet.
Diversifizierung im Markt
In den vergangenen Jahren haben sich hierzulande einige Dienstleister etabliert, die den Bewerbungsprozess per Video anbieten. Beispielsweise das Jobportal Yourfirm, das sich vornehmlich an mittelständische Unter- nehmen richtet. Mit der App Jobtube bietet es eine Software an, über die Bewerber zusätzlich zur normalen Bewerbung ein Bewerbervideo mittels Smartphone anfertigen und mitschicken können. Ähnliche Lösungen gibt es vor allem im angelsächsischen Sprachraum bereits in größerer Zahl. Das Jobportal Jobufo richtet sich mit seiner App vornehmlich an Schüler und Studenten im Alter zwischen 14 und 25 Jahren, die sich per Smartphone-Video auf Ausbildungsstellen und Neben- jobs bewerben wollen. Auch der Bewerbungsdienstleister Recruitinghelden bietet für zu vermittelnde Bewerber die Möglichkeit an, sich über die Videointerview-Plattform von Talentcube zu bewerben. Und einige Anbieter von Bewerbermanagementsystemen, beispielsweise Softgarden oder Rexx, stellen Schnittstellen zur Integration von Videointerview-Software der gängigsten Hersteller zur Verfügung.
Viele Vorteile, manche Tücken
Auch wenn Videointerviews hierzulande noch nicht an der Tagesordnung sind, steigt deren Akzeptanz. Weil sie kostengünstig sind, weil man mit ihrer Hilfe ohne großen Aufwand schnell viele Kandidaten kennenlernen kann und weil sie den Rekrutierungsprozess ins- gesamt optimieren. Auch die Bewerber können davon profitieren. Nicht unterschätzen sollte man allerdings die technischen und organisatorischen Tücken, die mit dieser Art des Bewerbungsgesprächs verbunden sind (siehe „Zehn Tipps“ oben). Und die aussagekräftigste Form des Kennenlernens bleibt immer noch das persönliche Gespräch von Angesicht zu Angesicht.
Zehn Tipps für ein Live-Videointerview |
---|
1. Führen Sie ein Live-Videointerview zum ersten Mal oder mit neuer Technik durch? Machen Sie einen Testdurchlauf,um die verschiedenen Optionen auszuprobieren. |
2. Überprüfen Sie im Probelauf auch Klang, Bildqualität, Beleuchtung und Handling. |
3. Stellen Sie die Kamera auf Ihr Gesicht ein und schauen Sie während des Interviews in die Kamera.Zeigen Sie dem Bewerber so, dass Sie ihn ernst nehmen. |
4. Professionelle Videointerview-Lösungen bieten die Möglichkeit, aus einem Katalog vorformulierter Fragen auszuwählen. Wählen Sie die relevanten Fragen – ob aus dem Katalog oder nicht – zuvor zusammen mit der Fachabteilung aus. |
5. Senden Sie dem Bewerber in der Einladung zum Live-Vorstellungsgespräch alle wichtigen Daten zu und teilen Sie ihm den Nutzernamen des Gesprächspartners im Unternehmen mit. |
6. Stellen Sie sicher, dass die Verbindung während des Interviews nicht abbricht, aber kalkulieren Sie mögliche Verbindungsproblemeseitens des Interviewpartners ein. |
7. Geben Sie dem Bewerber eine alternative Telefonnummerund fragen Sie ihn ebenso nach einer solchen, falls es unerwartet zu technischen Störungen kommt. |
8. Schaffen Sie eine ruhige Umgebung ohne störende Hintergrundgeräusche. Am besten führen Sie das Interview in einem Besprechungsraum durch, in dem Sie während des Interviews nicht gestört werden. |
9. Rufen Sie einen Bewerber im Ausland an? Überprüfen Sie die Uhrzeit genau und kontrol- lieren Sie, ob Sie ihm die richtige Uhrzeit (MEZ) für das Interview übermittelt haben. |
10. Beenden Sie das Gespräch erst, wenn Sie dem Bewerber mitgeteilt haben, wann Sie sich voraussichtlich wieder bei ihm melden und wie die weitere Vorgehensweise ist. |
Ulli Pesch ist freier Journalist und schreibt regelmäßig über das Thema HR-Software in der Personalwirtschaft.