„Licht am Ende des Tunnels“ lautet der Titel der Zeitarbeitsstudie 2021 der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland. Nach den drastischen Einbrüchen infolge der Corona-Pandemie erleben Teile der Branche derzeit einen Aufschwung. Ralph Niederdrenk, Partner PwC Deals Strategy Group, erläutert die wichtigsten Entwicklungen der Branche.
Personalwirtschaft: Herr Niederdrenk, PwC hat der aktuellen Zeitarbeitsstudie 2021 den Untertitel „Licht am Ende des Tunnels“ gegeben? Was stimmt Sie optimistisch?
Ralph Niederdrenk: Zwei Aspekte geben Grund zu einem vorsichtigen Optimismus: Zum einen hat die deutsche Wirtschaft nach der Schockstarre des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 gelernt, mit der Pandemie umzugehen. Insofern kommt es nicht mehr zu plötzlichen Corona-bedingten Stornierungen von Aufträgen wie in 2020. Zum anderen beobachten wir eine günstige konjunkturelle Entwicklung nicht nur in Deutschland und Europa, sondern besonders auch in den USA und Asien. Das wirkt sich direkt auf die Zeitarbeitsbranche aus, die ja als Frühindikator sehr schnell auf Schwankungen reagiert. Für 2021 hält die Branche eine durchschnittliche Wachstumsrate von mehr als 10 Prozent über alle Branchen hinweg für möglich. Allerdings deuten jüngste Gespräche mit Zeitarbeitsunternehmen darauf hin, dass ein Teil der Branche massiv von den Lieferkettenproblemen in der Automobilindustrie getroffen werden. Große Automobilproduzenten sind bereits in Kurzarbeit. Zeitarbeitsunternehmen sprechen im dritten und vierten Quartal 2021 von Umsatzeinbrüchen von 30 bis 40 Prozent. Dahingehend bleibt 2021 leider sehr volatil.
Sind so präzise Vorhersagen überhaupt noch möglich?
Die Bandbreite beim erwarteten Wachstum ist tatsächlich groß. Das liegt zum einen an der volatilen Lage: Unvorhersehbare Ereignisse wie diese Pandemie, die sogenannten Black Swans, werden uns in Zukunft wohl häufiger begegnen. Auch Lieferschwierigkeiten von Chips oder Baumaterialien und die weltpolitische Situation machen Vorhersagen immer schwieriger. Der andere Faktor, der generelle Vorhersagen erschwert, ist die sehr unterschiedliche Entwicklung in unterschiedlichen Branchen. Insgesamt wird es aber mindestens bis 2022 – eher länger – dauern, bis in der Zeitarbeit das Beschäftigungsniveau der Zeit vor Corona wieder erreicht ist.
Nicht alle Schwierigkeiten in der Branche lassen sich auf die Pandemie zurückführen – schon vorher ist die Zahl der Zeitarbeitnehmer deutlich gesunken, von ihrer Hochzeit 2017 mit mehr als einer Million Beschäftigten auf rund 835.000 im Jahr 2019…
Das stimmt – Ursache ist vor allem der Strukturwandel in der Automobilindustrie, weg vom Verbrenner hin zur Elektromobilität. In der Zeitarbeit hängen traditionell etwa 60 bis 70 Prozent der Jobs an der Automobilindustrie. Damit sind nicht nur die Hersteller selbst und die First-, Second- und Third-Tier Supplier gemeint, sondern die komplette Wertschöpfungskette von der chemischen Industrie, dem Maschinenbau bis hin zum Vertrieb. Die Umbrüche haben dort überall zu massiven Einbrüchen in der Zeitarbeit geführt – und werden sich noch lange auswirken.
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Trotzdem beobachten sie positive Entwicklungen: Welche Branchen leuchten in Bezug auf Zeitarbeit aktuell besonders hell?
Der Gesundheitssektor entwickelt sich gut – also die Vermittlung von Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal. Da hier eindeutig ein Bewerbermarkt herrscht, können die Beschäftigten zwischen unterschiedlichen Arbeitszeit- und Beschäftigungsmodellen auswählen. Für viele ist das im Hinblick auf Work-Life-Balance und Verdienst attraktiver als eine Festanstellung. Medizinische Fachkräfte, die beispielsweise nur begrenzte Zeit an einem bestimmten Ort leben und arbeiten möchten oder eine Position ausprobieren wollen, können solche Wünsche über Zeitarbeit realisieren. Es gibt einige Zeitarbeitsfirmen, die sich auf genau diesen Bereich spezialisiert haben und damit sehr erfolgreich unterwegs sind. Auch in der Gastronomie und im Tourismus werden Zeitarbeitskräfte wieder verstärkt nachgefragt. Viele ehemals Mitarbeitende haben sich während der langen Corona-Schließungen anderweitig orientiert und arbeiten in Branchen, die möglicherweise bessere Arbeitszeiten und Einkommen bieten. Diese Lücken werden nun von Zeitarbeitsfirmen gefüllt.
War die Zeitarbeitsbranche so flexibel, wie sie sich das selbst zuschreibt – konnten also Mitarbeitende während der coronabedingten Schließungen etwa von der Gastronomie in die Logistik wechseln?
Wir haben gewisse Umschichtungen beobachtet. Allerdings geht so etwas nicht von heute auf morgen – das liegt vor allem an der Fragmentierung in der Branche. Zeitarbeitsfirmen, die sich beispielsweise auf die Vermittlung von Arbeitskräften in der Gastronomie spezialisiert haben, haben nur selten Kunden im Logistiksektor. Insofern ist es für sie auch nicht ohne weiteres möglich, die Mitarbeitenden entsprechend umzuverteilen. Bei den großen Zeitarbeitsunternehmen mit einem breiteren Branchenportfolio war es eher möglich.
Ist es nach dem starken Rückgang der Zeitarbeit in 2020 verstärkt zu Insolvenzen und Übernahmen gekommen?
Wir haben in den vergangenen 18 Monaten nur wenige Insolvenzen gesehen. Die befürchtete Welle der Konsolidierungen ist ausgeblieben – auf die warten wir aber eigentlich schon seit 20 Jahren. Aktuell ist das vor allem der politischen Entscheidung vom März 2020 zu verdanken, das Instrument der Kurzarbeit auch auf die Zeitarbeit auszuweiten. Allerdings habe ich in vielen Gesprächen mit Managern der Branche das Bild bekommen, dass es mit der Liquidität eng wird.
Wie schätzen Sie die künftigen Entwicklungen ein?
Wir beobachten, dass die zehn großen Spieler der Branche weiter wachsen. Dahinter gibt es 30 bis 50 weitere Unternehmen mit substanzieller Größe und dann kommen eine Vielzahl kleiner, oft stark spezialisierter Zeitarbeitsunternehmen. Früher wurden Wettbewerber aufgekauft, um deren Kundenkontakte zu übernehmen, heute geht es um die spezifische Positionierung im Markt.
Und im Hinblick auf die Digitalisierung in der Branche?
Wenn Digitalisierung nur die Einführung von bestimmten Tools ist, um Rekrutierung und Verwaltung zu vereinfachen, dann wird dieses Instrumentarium vielfach genutzt – und es ist auch ein Must-have. Einige kleinere Zeitarbeitsunternehmen können sich die Umstellung allerdings schlicht nicht leisten – dort wird es wohl zu Konsolidierungen kommen. Eine wirkliche Digitalisierung, die den ganzen Markt durcheinanderwirbelt und die Branche wachrüttelt, steht aber noch aus. Noch haben die Firmen echte physische Niederlassungen – in der Regel in der Nähe der wichtigsten Kunden, mit Gebäuden, Infrastruktur, Personal. Aber braucht man das in Zukunft noch? Man muss sich nur andere Branchen ansehen, in denen digitale Geschäftsmodelle wie Zalando oder Uber das jeweilige Geschäftsmodell fundamental verändern. Auch die Zeitarbeit wird sich der Idee einer Plattformökonomie nicht verschließen können, in der über einen digitalen Marktplatz Anbieter und Nachfragende einer Leistung mit wenigen Klicks zusammengebracht werden.
Wie kann die Branche von einer Digitalisierung profitieren?
Meine Idealvorstellung sieht so aus, dass ich als Zeitarbeitskraft unkompliziert feststelle, wo und wann Bedarf für meine Arbeitskraft gibt, meine Daten werden dafür automatisch mit denen der suchenden Unternehmen abgeglichen. Dafür benötigt man keine Gebäude und keine Verwaltung. Eigentlich ist so ein Umbruch längst überfällig! Die Disruption in der Zeitarbeit wird kommen.
In der Anfangsphase der Coronazeit hat die Zeitarbeit in der Fleischverarbeitung für reichlich Schlagzeilen gesorgt. Färbt dieses ramponierte Image auch auf andere Bereiche ab?
Als es die hohen Infektionszahlen bei Tönnies und Co gab, hat das für sehr viel negative Aufmerksamkeit gesorgt – inzwischen ist es wieder ruhiger geworden. Über Zeitarbeit wird aber generell in den Medien wenig ausgewogen berichtet: Entweder sie wird grundsätzlich kritisch betrachtet – oder per se positiv.
Zurecht?
Tatsächlich hat sich aber in den vergangene Jahren aufgrund der regulatorischen Maßnahmen in der ganzen Branche vieles geändert, für die Beschäftigten zum Positiven: durch Mindestlohn- und Equal Pay-Regeln beispielsweise. Viele Beschäftigte aus der Zeitarbeit haben ein positiveres Bild von ihrer Situation als Außenstehende. Man darf auch nicht vergessen, dass Zeitarbeit oftmals den Einstieg in eine Festanstellung bietet und Phasen des Ausprobierens ermöglicht. Trotz insgesamt positiver Entwicklungen gibt es aber immer noch schwarze Schafe in der Branche – die färben leider auf das Gesamtbild der Branche ab.
Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Themen Recruiting und Employer Branding. Zudem schreibt und recherchiert Sie zum Thema Transformation, Change Management und Leadership und ist verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.