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Warm Data: „Lasst die Mitarbeitenden erzählen“

Der Berater Tobias Grewe erklärt, wie die Arbeit mit Warm Data dabei helfen kann, die Employee und Candidate Experience zu messen. (Foto: Tobias Grewe)
Der Berater Tobias Grewe erklärt, wie die Arbeit mit Warm Data dabei helfen kann, die Employee und Candidate Experience zu messen. (Foto: Tobias Grewe)

Das Erheben von Recruiting-KPIs wird für HR immer wichtiger. Doch helfen die Kennzahlen Personalabteilungen und Unternehmen mehr, setzt man sie in Bezug zueinander. Das war das Ergebnis der Personalwirtschafts-Experten-Umfrage zu Recruiting-KPIs im Frühjahr. Könnte die Arbeit mit sogenannter Warm Data dabei als Ergänzung helfen? Employer-Branding-Experte und narrativer Marken- und Organisationsberater Tobias Grewe sagt „ja“ und verrät, was hinter dem Begriff steckt.

Personalwirtschaft: Herr Grewe, was ist Warm Data und warum sollte sich HR mit dem Thema beschäftigen?

Tobias Grewe: Der Begriff Warm Data wurde von Nora Bateson um 2012 herum erfunden. Sie hat bei einem Projekt mit Big Data gemerkt, dass kalte Daten – oder Big Data – nur die einzelnen Teile in einem System beschreiben und nicht, wie sie miteinander verbunden sind und in welchem Kontext sie stehen. Angenommen wir führen eine Mitarbeiterbefragung zur Candidate und Employee Experience durch. Kalte Daten sind in diesem Fall die bloßen Bewertungen. Dabei erfahren wir allerdings nichts darüber, wie es zu diesen Bewertungen kam, welche Erlebnisse und Erfahrungen sich dahinter befinden, welche Dinge man sich auf Kununu oder im Flurfunk erzählt. Dadurch werden ausschlaggebende Dinge für die Bewertung ignoriert. 

Welche Dinge sind das?

In erster Linie, wie Kandidaten und Kandidatinnen sowie Mitarbeitende als Mensch eine Arbeitgebermarke wirklich erleben. Zahlen, Daten, Fakten helfen dabei zu erkennen, wo das Problem ist, aber nicht wodurch es verursacht wird. Um der Ursache auf den Grund zu gehen und das Problem in seinem Kontext zu sehen, müssen wir den Menschen zuhören. Über die erzählten Geschichten kommen wir an die, wie Frauke von Polier und SAP es nennen, „Moments that matter“.  Das sind die Erlebnisse, wo die Emotionen am größten sind.

Was können diese Moments that matter sein?

Wenn zum Beispiel eine hohe Prozentzahl Neuanfänger im Onboarding wieder abspringt, sollten wir hinhören, was sich erzählt wird, wie das Onboarding von neuen Mitarbeitenden erlebt wird. Das können kleine positive Dinge sein, aber auch negative, die dazu führen, dass sie nach Eintritt schnell wieder gehen. Für die, die bleiben, können kleine Dinge ebenfalls den Unterschied machen. Vielleicht war die Person am Empfang beim ersten Tag im Job so freundlich, dass damit ein Großteil des ersten Arbeitstags positiv beeinflusst war. Die Tatsache, dass der Name der neuen Mitarbeiterin oder des neuen Mitarbeiters am Welcome Board stand – Erlebnisse, bei denen man fühlte, im Unternehmen richtig zu sein – das können Nuancen im Erleben eines Einzelnen sein, die an den Touchpoints ausschlaggebend sind.

Wie können wir diese Momente finden?

Wo die Moments that Matter sind, können wir herausfinden, indem wir die Mitarbeitenden frei von ihren Erlebnissen – positiv wie negativ – erzählen lassen und nicht lediglich befragen und Häkchen setzen lassen. So finden wir die Punkte, an denen wir Menschen emotional abholen müssen und wo gegebenenfalls etwas verändert werden muss.

Wie unterscheiden sich diese Erzählungen von anderen qualitativen Befragungen und offenen Fragen?

Bei narrativen Methoden geht es um „Storylistening“. Der Unterschied zu anderen qualitativen Methoden ist, dass weniger gefragt und mehr zugehört wird. Du gibst eher einen Erzählimpuls und engst die Antwort der Befragten nicht von vorneherein mit vorgegebenen Fragen ein. Eine Art der narrativen Methode ist zum Beispiel „die Ereigniskurve“ aus der systemischen Therapie oder dem Coaching. Nehmen wir unser Beispiel vom Touchpoint „Onboarding“. Wenn wir wissen wollen, wie das von Mitarbeitenden erlebt wird, würden wir sie bitten: Erinnert euch an Eure Erlebnisse in den ersten 90 Tagen in eurer Organisation, die besonders gut oder schlecht liefen, und zeichnet eure Erlebnisse für diesen Zeitraum in Form einer Kurve in eine Art einfaches Koordinatensystem.

Durch die Erzählungen kommen die Emotionen zutage und „kritische
Ereignisse“ werden sozusagen aus dem Fluss von Erlebnissen
herausgefiltert.

Wie werden diese Kurven analysiert?

In narrativen Interviews. Die Teilnehmenden werden gebeten, die Ausschläge nach oben und unten (Highlights und Lowlights) zu erzählen. Durch die Erzählungen kommen die Emotionen zutage und „kritische Ereignisse“ werden sozusagen aus dem Fluss von Erlebnissen herausgefiltert. Man kann diese Kurven später auch übereinanderlegen, um sichtbar zu machen, dass die Dinge sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Subjektivität ist dann nicht länger störend, sondern Warm Data und dient somit als Kontextdaten. Warm Data ist der Schlüssel zum verborgenen Erfahrungsschatz der Mitarbeitenden. Mithilfe von narrativen Methoden, wie hier der Ereigniskurve, können Erfahrungen in den Raum geholt werden und sind damit zugänglich für eine Reflexion im Unternehmen.

Öffnen sich die Teilnehmenden so leicht?

Narrative Interviews bewirken, dass man erzählen kann und sich nicht in einer Befragung befindet. Das öffnet eine Art Dialog- und Erzählraum und schafft Vertrauen. Allerdings hilft es, narrativen Methoden von externen Beratern durchführen zu lassen. Die Distanz hilft, ein neutrales Umfeld zu schaffen. Interne narrative Organisationsentwickler können diesen neutralen und anonymen Rahmen allerdings auch bieten, da sie mit den Teilnehmenden nicht jeden Tag zusammenarbeiten. Die Auswertung ist intensiv und macht mehr Arbeit. Aber dadurch bekommt man auch „mehr“ Erkenntnisse.

Wie viele Mitarbeitenden müssen von ihren Erlebnissen berichten, damit genug Warm Data gesammelt hat, um einen Eindruck von der Stimmung und den möglichen Problemen zu bekommen?

Das ist abhängig davon, was man untersucht. Allerdings bekommt man mit der Auswertung von fünf bis sieben Interviews ein Gespür für das, was in der Organisation erzählt und somit erlebt wird. Eine Organisation ist die Summe aller Geschichten. Es ist wie ein Spiegel der Unternehmenskultur.

Warum?

Durch die Erzählungen wird Unsichtbares sichtbar. Erlebnisse und die darauf basierenden Erzählungen formen auf der einen Seite das Verhalten, die Identität eines Unternehmens, den Sinn der Arbeit, die vorherrschenden Werte, das vorliegende Wissen und die Kommunikation in der Organisation, spiegeln diese Dinge aber auch gleichzeitig. Hier liegt die Warm Data verborgen.

Ich sehe Warm Data als Ergänzung zu Cold Data.

Lässt sich Warm Data mit dem KPI-System – den kalten Daten – verbinden?

Ja, ich sehe Warm Data als Ergänzung zu Cold Data. Schauen wir uns beispielsweise die „Candidate Satisfaction“ an, die zu einem immer wichtigeren KPI wird. Um sie analysieren zu können, können wir anfangs mit Zahlen, Daten, Fakten arbeiten, aber wir müssen auch das Erlebnis der Kandidaten und Kandidatinnen sehen. Denn hier ist ausschlaggebend, wie sie die Kontaktpunkte mit der Organisation erlebt haben. Die menschlichen und weichen Faktoren spielen hier eine wichtige Rolle.

Wie oft sollte man die Mitarbeitende gezielt dazu ermutigen, zu erzählen und warm Data sammeln?

Man sollte meiner Meinung etwa alle ein bis zwei Jahre – je nach Budgetlage – schauen, wie die Bewerbenden oder Mitarbeitenden die unternehmensinternen Prozesse erleben. Und sich auch hier regelmäßig die Frage stellen, ob man Erlebnisse bietet, die gewünschte Bewertungen fördern. Natürlich bietet sich das Sammeln von Warm Data auch immer dann an, wenn etwas nicht so gut läuft. Denn so findet man heraus, an welchen Stellschrauben der Touch Points etwas geändert werden muss.

Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.