Mit der EU-Richtline zur Vergütungstransparenz gewinnt eine konsistente und aktuelle Bewertung aller Stellen in einem Unternehmen erheblich an Bedeutung, denn sie schafft die Grundlage dafür, dass stichhaltige interne Vergütungsvergleiche überhaupt möglich werden. HR-Manager müssen deshalb jetzt handeln. Was kann KI hier leisten und was ist bei ihrem Einsatz zu beachten?
Stellenbewertungen sind für eine faire Vergütung unverzichtbar
Aufgrund der im April 2023 verabschiedeten EU-Richtlinie zur Entgelttransparenz steigen die regulatorischen und juristischen Anforderungen an Unternehmen hinsichtlich einer fairen Vergütung. Das Thema spielt nicht nur für Arbeitgeber, sondern auch für weitere Stakeholder eine zunehmend wichtige Rolle. Hierzu zählen neben den heutigen und den künftigen Mitarbeitenden auch Kapitalgeber und Aktionäre. Es ist davon auszugehen, dass Letztere bei ihren Investitionsentscheidungen das Thema Vergütungsgerechtigkeit zukünftig stärker gewichten werden, um Compliance– und Reputationsrisiken zu vermeiden.
Die Grundlage für Vergütungsgerechtigkeit und -transparenz ist eine strukturierte Stellenbewertung. Hier werden sämtliche Stellen eines Unternehmens nach marktüblichen, objektiven Kriterien einem bestimmten Niveau (Entgeltstufe, Level, Grade) zugeordnet – unternehmensweit, über alle Funktionen und Hierarchieebenen hinweg. Damit wird dann unter anderem die Vergütung systematisch verknüpft. Entsprechend erklären Unterschiede in der Stellenbewertung regelmäßig circa 80 Prozent und mehr der Vergütungsunterschiede zwischen Personen in Fair-Pay-Analysen. Unternehmen, die bislang noch nicht über eine formalisierte Stellenbewertung verfügten, sollten diese einführen, um auf dieser Grundlage überhaupt Fair-Pay-Analysen durchführen zu können. Unternehmen, die bereits über eine Stellenbewertung verfügen, sollten diese regelmäßig prüfen und aktualisieren.
Traditionelle Stellenbewertungsprozesse benötigen Zeit und Ressourcen
Traditionelle Stellenbewertungsprozesse sind sowohl bei der Einführung als auch im Regelbetrieb mit einem hohen Zeit- und Personalaufwand verbunden. Um Stellen präzise bewerten zu können, sind typischerweise Stellenbeschreibungen oder andere Formen der strukturierten Erhebung von Stelleninhalten (zum Beispiel Führungskräfte-Interviews) sowie die Durchführung der eigentlichen Stellenbewertung (zum Beispiel in Bewertungsworkshops) notwendig. Dieser Standardprozess bindet in den oft schlank gewordenen Compensation-&- Benefits-Abteilungen, aber auch bei den vielbeschäftigten Businesspartnern knappe Ressourcen.
Gleichzeitig verändern sich in der disruptiven Arbeitswelt Strategien, Geschäftsmodelle und damit auch Stellen mit weiterhin hoher Taktzahl. Entsprechend ist Stellenbewertung zu einer Daueraufgabe geworden, die zügig, effizient und mit hoher Qualität erfolgen muss. Hinzu kommt das Problem der Subjektivität verschiedener, im Prozess beteiligter Personen – sowohl in der Beschreibung als auch in der Bewertung der Stellen. Manche Führungskräfte beschreiben ihre Rollen sehr ambitioniert, andere eher konservativ. Dasselbe Bild zeigt sich, wenn unterschiedliche Personen im Unternehmen Stellen bewerten. Auch hier wenden einige die jeweilige Bewertungsmethodik eher großzügig, andere eher streng an, was zu einer Verzerrung der Bewertungsergebnisse führen kann. Insofern rufen der hohe Ressourcenbedarf, die Vielzahl an Standardprozessen sowie die möglichen Verzerrungen zwischen unterschiedlichen Akteuren nach einer Automatisierung der Stellenbewertung.
KI-basierte Lösung können helfen
Eine mögliche Lösung liegt in der Nutzung von künstlicher Intelligenz für die Stellenbewertung. Dies verspricht eine signifikante Steigerung von Geschwindigkeit und Effizienz sowie eine konsistentere Qualität. Neben der Bewertung einzelner Stellen beschleunigt die Automatisierung aktuell vor allem die gleichzeitige Bewertung vieler Stellen, zum Beispiel im Rahmen von Firmenübernahmen. Per sogenanntem Bulk Upload können verfügbare Stellenprofile oder anderweitig erhobene Stelleninhalte in beliebiger Anzahl und Formatierung in ein KI-Tool kopiert und auf Knopfdruck innerhalb von Minuten bewertet werden. Die Algorithmus-gestützte Bewertung kommt bei gleichem Input immer zum selben Ergebnis, allerdings kommt bei verzerrtem Input auch ein verzerrtes Ergebnis heraus. Die Maschine kann insofern den Bewerter zwar unterstützen, aber nicht ersetzen. Eine kritische Überprüfung der Bewertungsinputs und -outputs bleibt notwendig.
Notwendige Inputs für die KI-basierte Bewertung sind der Stelleninhalt, idealerweise circa 300 bis 500 Wörter, sowie die Einordnung des Unternehmens im Markt, was anhand des Unternehmens-Grades abgetragen wird. Die automatisierte Bewertung führt dabei nicht nur zum Endergebnis, sondern weist detailliert auch die einzelnen Schritte der Grob- und Feineinstufung aus, jeweils unter Angabe des Confidence Levels, das heißt mit welchem Prozentwert das jeweilige Ergebnis zutreffend ist.
Letzteres ist für eine zielführende Interaktion zwischen Mensch und Maschine und insbesondere für die Einordnung der maschinellen Bewertungsergebnisse zwingend notwendig. Ausführliche Testreihen in der Beratungspraxis von WTW haben gezeigt, dass Algorithmen für ein hohes Maß an Konsistenz und Objektivität, bei deutlich reduzierten Bias und Fehlern, sorgen. Gleichzeitig kann ein solches Tool genutzt werden, um die Qualität und Vergleichbarkeit von Stellenbeschreibungen als Input für die Bewertung zu validieren. Somit hilft die KI-basierte Lösung, die Schwächen der traditionellen Vorgehensweise auszugleichen und führt zu einem ersten objektiven Aufschlag.
Menschen bleiben zuständig für kritische Evaluierung und Einordnung
Angesichts der schnellen Erstbewertung durch das Tool verschiebt sich der Fokus von der methodengestützten Bewertung einzelner Stellen hin zur Kalibrierung und Interpretation der Gesamtergebnisse sowie der Identifikation organisatorischer Auffälligkeiten und Schieflagen. Weiterhin spielen Menschen eine wichtige Rolle. Der Human-in-the-loop-Ansatz umfasst die kritische Evaluierung, Kalibrierung und Einordnung der Ergebnisse. Auf Basis der KI-Bewertung liegt nun das Augenmerk auf einer übergeordneten Ebene. Anstatt über einzelne Faktorausprägungen zu diskutieren, geht es nun um Fragestellungen wie: Was vermitteln uns die Ergebnisse über die Qualität der Aufbauorganisation? Was sagen sie uns über die Qualität der Stellenbeschreibungen beziehungsweise über den inhaltlichen Zuschnitt der Stellen? Ist alles anforderungsgerecht? Brauchen wir an dieser Stelle eine so große oder so kleine Stelle? Wollen wir uns das leisten? Wo ergibt sich welcher Handlungsbedarf? Welche Schlussfolgerungen können aus einer „Organizational Health“ Perspektive gezogen werden? et cetera.
Unternehmen erhalten dadurch nicht nur konsistent bewertete Stellen, sondern auch Optimierungsansätze für die Aufbauorganisation sowie für die konsistente Gestaltung von Stellenanforderungen.
Automatisierte Stellenbewertung als Grundlage für faire Vergütung
Die Anforderungen rund um das Thema Vergütungsgerechtigkeit und Vergütungstransparenz werden weiter zunehmen, nicht nur aufgrund der Regulatorik sondern auch weil sich die Erwartungen von Mitarbeitenden, Bewerbern und der Gesellschaft insgesamt in Richtung Transparenz verschieben. Um die erforderliche Stellenbewertung in der notwendigen Zeit, Effizienz und Qualität durchzuführen, ist die Automatisierung der Stellenbewertung ein probates Mittel.
Ob Stellenbewertungen künftig vollständig autonom durch eine KI durchgeführt werden können, lässt sich aktuell noch nicht abschätzen. Wie beim Trend zum autonomen Fahren ist klar: Viele Akteure treiben die Digitalisierung in diesem Bereich voran. Ob und wann wir tatsächlich fahrerlose Autos in breiter Masse auf allen Straßen sehen werden, oder ob es bei Assistenzsystemen und spezifisch eingegrenzten Anwendungen für fahrerlose Fahrzeuge und Strecken bleibt, wird die Zukunft zeigen. Ähnliches gilt für den Einsatz von KI für die Stellenbewertung. Weitere Einsatzfelder für KI zum Beispiel im Vergütungsbenchmarking werden in absehbarer Zeit folgen.
Autor
Anja Pempelfort, Director Work, Rewards & Career; Work & Rewards, WTW
Luisa Lenhard, Senior Associate Work, Rewards & Career; Work & Rewards, WTW


