Die Einstellung von Menschen mit Behinderung liegt auf einem Rekordtief: Nur 39 Prozent der Unternehmen, die dazu verpflichtet sind, erfüllen die Einstellungsquote von Menschen mit einer schweren Behinderung und solchen, die ihnen gleichgestellt sind vollständig. 74 Prozent besetzen mindestens einen Pflichtarbeitsplatz. Auch die Anzahl der Anträge auf Kündigung schwerbehinderter Mitarbeitenden ist das erste Mal seit 2019 gestiegen gestiegen. Sie lag 2023 bei 21.369, im Vorjahr waren es noch 17.145 Anträge.
Die Zahlen stammen aus dem Inklusionsbarometer der Förderorganisation „Aktion Mensch“ in Kooperation mit dem Handelsblatt Research Institute. In dem Bericht wird die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt erfasst. „Die Bilanz fällt im Vergleich zum Vorjahr deutlich schlechter aus“, schreibt Sascha Decker, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Aktion Mensch, im Vorwort.
Dabei ist der Anteil von schwerbehinderten Mitarbeitenden in der Belegschaft vom Sozialgesetzbuch vorgeschrieben (Beschäftigungspflicht nach § 154 SGB IX). Wer mindestens 20 Beschäftigte hat, muss eine Quote von fünf Prozent erfüllen oder eine Ausgleichsabgabe zahlen. Diese wurde durch das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts am 1. Januar 2024 für diejenigen Betriebe, welche die Pflichtarbeitsplätze komplett unbesetzt lassen, erhöht.
Arbeitgeber mit 20 bis 40 Angestellten zahlen für jeden Arbeitsplatz, der eigentlich einem Menschen mit Schwerbehinderung zustünde, 210 Euro, also 70 Euro mehr als vorher. In Unternehmen mit 60 Beschäftigten oder mehr sind es jetzt 720 Euro statt zuvor 360. Die erstmalige Abrechnung der erhöhten Staffelbeträge erfolgt laut der Bundesagentur für Arbeit nächstes Jahr. „Ein Arbeitgeber, der zum Beispiel über 120 Arbeitsplätze verfügt und somit rechnerisch auf sechs Pflichtarbeitsplätzen (5 Prozent) schwerbehinderte Menschen beschäftigen müsste, tatsächlich aber keinen Schwerbehinderten beschäftigt, muss dann 51.840 Euro statt bisher 25.920 Euro jährlich bezahlen“, heißt es auf der Webseite der Bundesagentur für Arbeit.
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Begriffsdefinition von „Menschen mit Behinderung“
„Die Auswirkungen einer Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden (20 – 100) abgestuft festgestellt. In den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) sowie im SGB IX, Teil 2 (Neuntes Sozialgesetzbuch, Schwerbehindertenrecht) gilt als schwerbehindert, wer einen Grad der Behinderung von 50 und mehr hat oder von der Bundesagentur für Arbeit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt wurde.
Nach § 2 Abs. 3 SGB IX (Paragraf 2, Absatz 3, Neuntes Sozialgesetzbuch) sollen Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung keinen geeigneten Arbeitsplatz erlangen oder behalten können. Die Gleichstellung erfolgt auf Antrag des Menschen mit Behinderung durch die Bundesagentur für Arbeit. […] Ziel des Inklusionslagebarometers ist es, objektiv Auskunft über den aktuellen Grad der Inklusion von Menschen mit Behinderung (‚Schwerbehinderte‘ in der Diktion der Bundesagentur für Arbeit) in den ersten Arbeitsmarkt zu geben.“
Quelle: Inklusionsbarometer Arbeit 2024, Aktion Mensch.
Quoten nicht erfüllt – woran liegt das?

Susann Klebig-Noesch ist Recruitment Strategy Lead bei der Techniker Krankenkasse und engagiert sich als Botschafterin für DEI-Themen. Sie hat selbst eine Behinderung und sieht als Ursache für die mangelnde Inklusion am Arbeitsmarkt fehlendes Bewusstsein und Sensibilisierung: „Viele Unternehmen unterschätzen die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung und haben falsche Vorstellungen über deren Leistungspotenzial.“ Es bräuchte Mut, so die Expertin, alte Denkmuster zu durchbrechen. „Unternehmen müssen erkennen, dass Inklusion kein Akt der Wohltätigkeit ist, sondern eine echte Chance – sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich.“
Am Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage liegt es jedenfalls nicht, dass die Unternehmen ihre Quoten nicht erfüllen. Der Anteil an Arbeitssuchenden bei Menschen mit Schwerbehinderung ist mit 11 Prozent etwa doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Zwar ist der Anteil von Langzeitarbeitslosen mit schwerer Behinderung um wenige Prozentpunkte auf rund 45 Prozent gesunken, dafür suchen diese Menschen im Schnitt 353 Tage nach Arbeit, im Vergleich 96 Tage länger als Menschen, die keine Behinderung haben.
Behinderung beeinträchtigt Erwerbstätigkeit
Die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz wird auch deutlich, betrachtet man den Effekt, den eine während des Arbeitslebens auftretende Behinderung auf die Erwerbstätigkeit hat. Dies trifft auf den Großteil zu, denn laut Zahlen des statistischen Bundesamtes sind nur rund 3 Prozent aller schweren Behinderungen angeboren. 90 Prozent treten als Folge einer Krankheit im Laufe des Lebens auf.
Zahlen aus dem aktuellen Kurzbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass der Eintritt einer Schwerbehinderung den Erwerbsverlauf negativ beeinflussen kann: Menschen verdienen nach dem Auftreten der Schwerbehinderung fünf Jahre durchschnittlich etwa 7 Prozent weniger Tagesentgelt als Menschen ohne Behinderung.
In der Studie wurde zudem festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, in Teilzeit zu arbeiten, fünf Jahre nach Eintreten der Schwerbehinderung um 5 Prozentpunkte höher liegt. „Für eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist es daher wichtig, Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeit und Beruf zu ermöglichen. Geeignete Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sowie gezielte Beratungsangebote können ebenfalls hilfreich sein, um einen Wechsel in andere Tätigkeiten zu erleichtern“, sagt Karolin Hiesinger, Mitglied der IAB-Forschungsgruppe, in der Pressemitteilung zu der Studie.
Führungskraft muss Inklusion vorleben
Was kann getan werden, um Menschen mit Behinderung besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Susann Klebig-Noesch sieht hier die Führungskräfte in einer wichtigen Vorbildrolle. Sie plädiert für „Inclusive Leadership“, die ein förderndes Umfeld für alle Mitarbeitende schaffe. „Das bedeutet, Vielfalt nicht nur zu akzeptieren, sondern aktiv einzubinden – durch offene Kommunikation, gezielte Förderung und das bewusste Einholen unterschiedlicher Perspektiven.“
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Hürden abbauen
Warum hapert es in vielen Unternehmen noch an der Inklusion? Leadership-Expertin und DEI-Speakerin Susann Klebig-Noesch gibt Antworten und Lösungsansätze.
- Strukturelle Barrieren: Oft sind Arbeitsplätze nicht barrierefrei, sei es durch fehlende räumliche, technische oder organisatorische Anpassungen.
- Komplexe Regelungen: Die gesetzlichen Anforderungen und Fördermöglichkeiten sind für viele Unternehmen undurchsichtig, was dazu führt, dass sie den Aufwand scheuen.
- Wettbewerbsorientiertes Denken: Einige Unternehmen glauben, dass die Einstellung von Menschen mit Behinderung zusätzliche Kosten verursacht, etwa durch notwendige Anpassungen oder eine vermeintlich geringere Produktivität.
- Unklare Verantwortlichkeiten: Es fehlen häufig klare Verantwortlichkeiten oder Initiativen zur Förderung von Inklusion.
Was können Unternehmen tun?
- Sensibilisierung: Mitarbeitende und Führungskräfte sollten regelmäßig zu Inklusion und Barrierefreiheit geschult werden.
- Erfolgsgeschichten teilen: Unternehmen sollten Beispiele von erfolgreichen Beschäftigungsverhältnissen mit Menschen mit Behinderung kommunizieren, um Ängste abzubauen.
- Förderprogramme nutzen: Staatliche Fördermittel und Beratungsangebote können genutzt werden, um die Einstiegshürden zu minimieren.
- Offene Kommunikation: Barrieren und Vorurteile lassen sich durch Dialog abbauen. Menschen mit Behinderung sollten in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, um Missverständnisse zu vermeiden.
- Inklusion in der Unternehmenskultur verankern: Sie darf kein „Projekt“ sein, sondern muss als Teil der Unternehmenswerte gelebt werden.
Angela Heider-Willms verantwortet die Berichterstattung zu den Themen Transformation, Change Management und Leadership. Zudem beschäftigt sie sich mit dem Thema Diversity.

