Für eine Überweisung muss man nicht mehr zur Bank, sondern überweist schnell Geld per Online-Banking. Für Theaterkarten stellt man sich nicht mehr in die Schlange vor der Abendkasse, sondern kauft sie schnell auf dem Weg zur Arbeit im Internet. Das klingt alles selbstverständlich, ist für viele Menschen aber gar nicht so einfach und oft überhaupt nicht möglich. Der Grund: Webseiten sind meistens nicht barrierefrei und damit nicht für alle Menschen zugänglich, ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben damit eingeschränkt.
Das soll der European Accessibility Act (EAA) ändern. Mit dieser Direktive soll eine inklusive Gesellschaft gefördert werden, in der Menschen mit Behinderung uneingeschränkt teilhaben können. Das heißt, in Zukunft müssen sich alle Unternehmen Gedanken über Barrierefreiheit im Netz machen. Im Juni 2025 treten die nationalen Regeln zur digitalen Barrierefreiheit in den EU-Staaten in Kraft. In Deutschland ist es das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG). Dieses betrifft dann alle digitalen Produkte und Dienstleistungen der deutschen Privatwirtschaft. Ausgenommen sind nur Kleinstunternehmen (mit weniger als zehn Beschäftigten oder weniger als zwei Millionen Jahresumsatz).
Nachholbedarf bei Barrierefreiheit in Deutschland
Gedanken über digitale Barrierefreiheit muss sich bis nächsten Sommer also ein Großteil der deutschen Firmen machen. Viel zu tun gibt es allemal, denn weltweit sind nur vier Prozent der beliebtesten Webseiten barrierefrei, berichtet Anke Lenz, Chief Inclusion Officer and Digital Accessibility Lead beim Beratungshaus Accenture.
Auch in Deutschland gibt es einiges nachzuholen, was den inklusiven Zugang zu digitalen Dienstleistungen angeht. „90 Prozent der Unternehmen in der DACH-Region haben noch einiges zu tun, um den Mindestanforderungen des Acts zu genügen“, erklärt die Chief Inclusion Officer. Handlungsbedarf besteht demnach definitiv.
Info
Was bedeutet digitale Barrierefreiheit?
Digitale Inhalte sind so gestaltet, dass sie von allen Menschen, einschließlich Menschen mit Behinderungen, genutzt werden können. Dazu gehören unter anderem die Bereitstellung von Alternativtexten für Bilder oder die Nutzung von ausreichend kontrastreichen Farben für Texte und Hintergründe oder die Möglichkeit, Websites nur über die Tastatur zu navigieren.
Die Mindestanforderungen des BFSG beziehen sich beispielsweise auf Kontraste, Schriftgröße und Bedienbarkeit. Mit der Erfüllung der gesetzlichen Mindestanforderungen sollte es jedoch nicht zu Ende sein, findet Lenz. Zwar würde Inklusion in Deutschland hauptsächlich über Gesetze vorangetrieben, sie sieht aber auch eine soziale und moralische Verantwortung bei den Firmen, sich auch darüber hinaus zu engagieren.
Barrierefreies Recruiting und Onboarding
„Barrierefreiheit muss von der Bewerbung bis zur Einstellung durchdacht werden“, ist sie überzeugt. Das bringt auch Verantwortung für die HR-Abteilungen mit. „60 Prozent aller Behinderungen treten im Laufe des Arbeitslebens auf. Und 75 Prozent aller Beeinträchtigungen sind unsichtbar“, berichtet Lenz. Würde man Menschen mit Behinderungen ausschließen, würden Unternehmen Potential verschenken.
Daher muss auch der Recruiting- und Onboarding-Prozess so barrierefrei wie möglich sein. „Das beginnt mit den digitalen Plattformen, auf denen die Rollen angeboten werden“, so Lenz. Die Stellenausschreibungen sollten einfach zu finden sein, einfache und sichtbare Verlinkungen müssen gesetzt werden und das Rollenprofil sollte verständlich und zugänglich sein.
Außerdem sollten die Mitarbeitenden im Recruiting in der Lage sein, ein inklusives Gespräch zu führen und gut zugängliche Räumlichkeiten schaffen, findet die Chief Inclusion Officer. Es brauche Know-how und Sensibilisierung, damit Bewerber und Bewerberinnen nicht bloß anhand eines Standardrasters bewerten werden und alle Talente Zugang zur Firma finden. Wenn Menschen etwa den Augenkontakt vermeiden, sollte das nicht zwangsläufig ein Ausschlusskriterium sein, so Lenz.
Barrierefreiheit nutzt am Ende allen
Accenture bietet selbst einige Maßnahmen für eine inklusive Arbeits- und Unternehmenskultur. Dort sind bereits 97 Prozent der etwa 1000 Webseiten komplett barrierefrei, der Rest soll laut Lenz bald folgen. Neue Tools und Funktionen, die Accenture implementieren möchte, werden zuvor von Mitarbeitenden mit Einschränkungen getestet, um Barrierefreiheit sicherzustellen, denn Accenture legt Wert darauf, dass diese direkt von allen Menschen im Unternehmen genutzt werden können.
Barrierefreiheit betrachtet Lenz als „ein kleines Investment für einen langfristigen positiven Effekt.“ Denn mit Barrierefreiheit kommen Vorteile, die das gesamte Unternehmen betreffen: „Gute Nutzbarkeit ist für jeden eine Verbesserung“, erklärt Anke Lenz. Denn von geräuschunterdrückenden Kopfhörern, einem ergonomischen Arbeitsplatz und auch von einfach aufzufindenden Dokumenten oder einer gut organisierten Ordnerstruktur profitieren am Ende alle Mitarbeitenden. Dasselbe gilt auch für digitale Dienstleistungen. Ein einfaches, zugängliches Online-Banking oder simple digitale Lösungen machen den Zugang für alle Nutzer und Nutzerinnen angenehmer.
Auch bei der Produktentwicklung hilft eine inklusive Unternehmenskultur, erläutert die Inklusionsexpertin. „Unternehmen, die die Gesellschaft widerspiegeln, sind besser aufgestellt, um Dienstleistungen und Produkte zu entwickeln.“ Barrierefreiheit kann so nicht nur Menschen mit Einschränkungen helfen, sondern auch Innovation fördern.
Volontärin im Sommer 2024

