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Ambidextrie bislang Fehlanzeige

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Foto: istock/galbiati

Viele reden von agilem Management, sind jedoch mit der Umsetzung überfordert. Eine Studie von Hays deckt auf, wie groß die Spannungen zwischen Kerngeschäft und den agilen Einheiten noch sind. Das Präsidium des BPM kommentiert die Ergebnisse.

Agiles Arbeiten ist für Unternehmen der Zukunftsweg, wenn es darum geht, langfristig im digitalen Wettbewerb zu bestehen. Denn um sich immer wieder neu auf veränderte Kundenanforderungen und Marktgegebenheiten einzustellen, müssen bisherige Abteilungen und Strukturen von Grund auf verändert werden. So lautet zumindest das einhellige Credo. In der Praxis zeigt sich allerdings ein anderes Bild.

Betroffene Fachbereiche, von Forschung und Entwicklung über IT bis zur Geschäftsführung, haben mit den organisatorischen Umwälzungen mächtig zu kämpfen. Das Problem: Die Arbeitsweisen in traditionellen Strukturen und agilen Arbeitseinheiten treffen frontal aufeinander, was für große Spannungen sorgt. Zu unterschiedlich scheinen die Herangehensweisen zwischen Projekt- und Linienorganisation. Während agile Teams mit ihren digitalen und innovativen Projekten eher durch ihren experimentellen und offenen Arbeitscharakter geprägt sind, sind die Mitarbeiter im Kerngeschäft entlang fester Strukturen und Abläufe, die es zu optimieren gilt, tätig. Effizienz trifft auf Experiment und erzeugt Reibung.

Denn für die meisten Vorstände oder Geschäftsführer stehen nach wie vor die Ergebniszahlen des Stammgeschäftes im Vordergrund, nicht etwa die mutige und risikoreiche Ausrichtung auf neue Geschäftsmodelle. Das dürfte auch der Grund sein, warum es immer wieder vorkommt, dass viele Digitalisierungsoffensiven schnell zur reinen IT-Automatisierung verkümmern.

Spannungsfelder und Kulturkämpfe

Fällt die vielbeschworene agile Revolution also vorerst aus? Die Ergebnisse der aktuellen Hays-Studie „Zwischen Effizienz und Agilität. Fachbereiche in der Digitalisierung“ lassen es vermuten. Von den 226 befragten Führungskräften möchten zwei Drittel lieber ihre Prozesseffizienz steigern anstatt in mehr Agilität zu investieren (dies haben lediglich 22 Prozent vor). Die Bindung an das Kerngeschäft (52 Prozent) geht bei ihnen so weit, dass sie die Entwicklung neuer Geschäftsfelder deutlich weniger priorisieren (26 Prozent).

Nachfolgend werden die zentralen Ergebnisse der Studie besprochen. Vier Präsidiumsmitglieder des Bundesverbandes der Personalmanager e.V. (BPM), Personalentscheider aus unterschiedlichen Unternehmen, haben sie genauer unter die Lupe genommen und im Hinblick auf die Aufgaben von HR durchleuchtet. Schließlich sollte jeder gute Personalmanager die „Kulturkämpfe“ moderieren und entsprechende Ressourcen vorhalten.

1. Führungskräfte sind auf alte Themen fokussiert, die agile Revolution bleibt aus

Fakt: Um sowohl Effizienz als auch Innovationsfähigkeit in einem komplexen Umfeld zu steigern, müssen Mitarbeiter individuell gefördert und die Selbstorganisation ausgebaut werden. Das Ausschöpfen individueller Potenziale der Mitarbeiter hat allerdings für die befragten Führungskräfte mit 24 Prozent nur nachgelagerte Bedeutung. Mehr noch: Statt die Autonomiebestrebungen ihrer Teams aktiv zu unterstützen (17 Prozent), doktert die Mehrheit lieber an der Prozessoptimierung herum (64 Prozent).

Transfer: „Das Ergebnis zeigt, wie schwer es für die handelnden Führungskräfte sein muss, zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Angängen ‚exploit‘ oder ‚explore‘ zu wechseln. Dieses permanente Wechselspiel im Management erfordert mentale Bipolarität, die allerdings längst nicht alle Führungskräfte unter den gegebenen Alltagsbedingungen aufbringen können.“ – Dr. Thymian Bussemer, Personalstratege, Volkswagen AG

„In etablierten Unternehmen haben Führungskräfte gelernt, für Stabilität und Optimierung der bestehenden Abläufe zu sorgen. Agilität und die Ableitungen daraus für das Management müssen angesichts der sich stets verändernden Arbeitswelt im Unternehmenskontext erst einmal verstanden werden, bevor es an die Umsetzung geht. Dazu braucht es auch die richtigen Anreize, das gelernte Verhalten zu verändern. Meine Erfahrungen mit Change Management aus den vergangenen Jahrzehnten zeigen, dass jede erfolgreiche Transformation von der Überzeugung der Teilnehmer abhängt. Das gilt für Führungskräfte ebenso wie für die Mitarbeiter. Nichtsdestotrotz bleibt die Sicherung des Kerngeschäfts nach wie vor eine wesentliche Aufgabe. Es ist wichtig, sie nicht gegenüber den neuen Themen geringzuschätzen. Denn ohne das Kerngeschäft wird es keine Investitionsmittel für das Neugeschäft geben.
Ein erfolgreicher Ansatz in unserem Unternehmen, beides miteinander zu verbinden, ist die Vermittlung agiler Arbeitsmethoden in gemischten Workshops mit Mitarbeitern und Führungskräften unterschiedlicher Organisationseinheiten. Das gewohnte Umfeld wird hierbei bewusst verlassen. Im Vordergrund steht die Vermittlung des Verständnisses, warum verschiedene agile Arbeitsmethoden sinnvoll sind. Spielerisch wird so auf ein agiles Mindset hingearbeitet.“ – Thomas Belker, Personalvorstand, Talanx Service AG

„Ein geeigneter Startpunkt ist es, das Bewusstsein für die Veränderungen beziehungsweise Anforderungen zu fördern und einen Purpose zu definieren. Etwas, das Orientierung und gemeinsame Ausrichtung gibt. Darüber hinaus sollten geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es geht um ein kontinuierliches Hinterfragen der etablierten Zustände. Veränderungen kann man nicht einfach ‚außer Haus‘ betreiben. Denn: Getrennte Welten bringen uns auf Dauer nicht weiter. Den richtigen Weg muss jedes Unternehmen für sich selbst finden und ausprobieren, einen Masterplan gibt es dafür nicht.“ – Felicitas von Kyaw, VP Human Resources BA Customers & Solutions, Vattenfall Group

2. Bestehende Rahmenbedingungen blockieren die Transformation

Fakt: 61 Prozent der Führungskräfte tun sich schwer, ihren bisherigen Führungsstil zu verändern. Sie sind zeitlich und fachlich zu stark im Kerngeschäft gebunden. 32 Prozent beanstanden, dass das Kerngeschäft sie noch zu sehr in Beschlag nimmt, 26 Prozent sehen die IT-Landschaft noch zu wenig integriert, um sich auf neue Geschäftsfelder einzulassen, und weitere 26 Prozent reiben sich am Insel- und Konkurrenzdenken auf.

Transfer: „Die Anforderungen an die Führungskräfte sind beim Management ambidextrer Strukturen tatsächlich extrem. Sie brauchen im Grunde Ambiguitätstoleranz. Denn einerseits sollen sie Kosten einsparen, andererseits die Qualität verbessern. Sie sollen den Mitarbeitern mehr Freiraum einräumen, aber auch klare Grenzen setzen, von hierarchischen zu Teamentscheidungen gelangen. Und last but not least eine klare Richtung vorgeben, während sie selbst keine griffigen Ziele haben. Hier kommt HR ins Spiel. Denn es gilt, die Führungskräfte anzuleiten und zu ermuntern, Experimente zu wagen. Sie müssen verstehen, dass digitale Veränderung kein technischer Knopf ist, den man drücken kann. Es geht vielmehr um das konkrete Wissen und das zugehörige Know-how rund um eine digitale Wertschöpfung. Die Grundlagen der digitalen Ökonomie sind unerlässlich für jeden Manager. Dafür sollte man bei der Führungskräfteentwicklung mit kleinen Schritten loslegen, neue Methoden vorstellen, Freiräume geben und neue Kompetenzen aufbauen. Viele Führungskräfte tun sich damit anfangs noch schwer, lernen aber mit der Zeit und lassen Fehler zu.“ – Thomas Belker, Talanx

„Hier ist klar die Kompetenz von HR gefragt. Das Personalmanagement sollte sich als Sparringspartner für die Geschäftsführung, Führungskräfte sowie Mitarbeiter verstehen. Gerade bei der Arbeit in solchen Doppelstrukturen, die durch Komplexität und Wandel geprägt sind, sollte HR unterstützend wirken und helfen, einen veränderten Führungsstil zu etablieren.“ – Friderike Schröder, Director Human Resources, Ratepay GmbH

3. Neue Themen werden aus den traditionellen Strukturen heraus entwickelt

Fakt: Ganze 64 Prozent der Befragten entwickeln neue – vorwiegend digitale Themen – aus der bestehenden Organisation heraus. Und das mit Mitarbeitern, die sowohl in der Linie als auch in innovativen Projekten aktiv sind. Das ist insofern bemerkenswert, zumal in den vergangenen Jahren ja gerade digitale Einheiten ausgegründet wurden, um neue Themen voranzubringen.

Transfer: „Im Rahmen ambidextrer Strategien ist es wichtig, dass die Explore-Felder als wichtiger Teil der Zukunftsstrategie gesehen werden. Umgekehrt sollte die Führung verdeutlichen, dass die Erlöse im Hier und Jetzt die Zukunftsprojekte finanzieren. Sie kommen in aller Regel aus dem alten Kerngeschäft.“ – Dr. Thymian Bussemer, Volkswagen

„Zu den entscheidenden Erfolgsparametern gehört es, Selbststeuerungskräfte zu aktivieren, Netzwerke zu mobilisieren und Eigenverantwortung zu stärken. Dazu gehören auch agile Ansätze wie ‚Fast Failure‘, Betaversionen und in ständiger Optimierung gelebte iterative Ansätze. Wer unverändert aus tradierten Strukturen heraus entwickelt, wird sich schwertun, sich entsprechend flexibel und ausreichend schnell auf veränderte Markt- und Kundenanforderungen einzustellen.“ – Felicitas von Kyaw, Vattenfall

4. Linien- und Projektorganisation stehen im Konflikt miteinander

Fakt: Die zunehmende Anzahl an Projekten bei gleichbleibend hohen Anforderungen aus dem Kerngeschäft stellt viele Fachbereiche vor eine Zerreißprobe. 88 Prozent der Führungskräfte berichten von Konflikten in der Priorisierung von Linien- und Projektaufgaben. 80 Prozent der Führungskräfte beklagen Spannungen aufgrund von unklaren Verantwortlichkeiten. Und mehr als drei Viertel halten das Management der organisatorischen Schnittstellen für enorm wichtig.

Transfer: „Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Führungskräfte häufig unpräzise Aufgabenverteilungen und Priorisierungen vornehmen. Bei der Arbeit in Doppelstrukturen wird das natürlich erst recht deutlich. Hier ist es ratsam, sich nicht jedem neuen Thema sofort anzunehmen, sondern erst einmal über dessen Bezug zum neuen beziehungsweise erweiterten Unternehmensziel nachzudenken. Darüber hinaus helfen natürlich auch die agilen Arbeitsmethoden. Sogenannte Monday-Morning-Meetings oder kurze Sprint-Calls tragen klar dazu bei, schnellere Entscheidungen zu treffen. Insgesamt sollte jedes Unternehmen, das sich in dieser Situation befindet, stets versuchen, neue Themen und das damit verbundene Handeln transparent zu machen. Darüber hinaus gilt es, eine gewisse Fehlertoleranz zu entwickeln sowie eine ständige Lernbereitschaft aller Beteiligten sicherzustellen. Aber trotz dieser Aspekte wird es bei dem Aufeinanderprallen verschiedener Arbeitsweisen erst einmal knirschen.“ – Thomas Belker, Talanx

5. Führungskräfte wissen um die Notwendigkeit eines Systemumbaus, sind aber selbst gefangen

Fakt: Die meisten Führungskräfte halten vielfältige Veränderungen auf persönlicher, kultureller und organisatorischer Ebene für notwendig – scheuen aber davor zurück, an den Grundfesten der Systeme zu rütteln. Anstatt Hierarchien abzubauen, möchte die überwiegende Mehrheit lieber Schnittstellen besser managen. Immerhin entschieden sich zwei Drittel der Befragten für die Flexibilisierung der Anreizsysteme.

Transfer: „Entscheidend ist es in diesem Fall, erst einmal Transparenz über die gemeinsamen Ziele zu schaffen. Darüber hinaus sollten die Führungskräfte einen Weg finden, das Thema Feedback neu zu gestalten, um die Organisation gerade im Umbruch gesund und stabil zu halten, aber auch, um sich permanent auf neue Anforderungen vorbereiten zu können. In unserem Unternehmen gibt es dafür die sogenannte Feedback-Toolbox. Sie setzt sich aus vier verschiedenen Komponenten zusammen: strukturiertes 180-Grad-Feedback zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, Peer-to-Peer-Feedback, Ad-hoc-Feedback sowie eine anonyme Mitarbeiterbefragung. Damit können wir den Fokus auf kontinuierliches Lernen und den Menschen als Individuum legen. Auf dieser Basis gelingt es gut, die Führung dafür zu wappnen, die Teams auf dem Weg in eine agile Organisation zu begleiten.“ – Friderike Schröder, Ratepay

„Um den Spagat zwischen den Spannungsfeldern aus alter und neuer Organisation zu managen, ist auch HR gefragt. Denn es geht ja im Wesentlichen um die kompetente Unterstützung des Change-Prozesses, aber auch um die Veränderung der Führungsstile. HR sollte sich darum kümmern, agile Arbeitsmethoden mitzugestalten, Transparenz über alle Entwicklungen herzustellen und neue Experimentierräume zu schaffen. Das gilt vor allem für das Management. Denn wo früher die Erfahrung ein wesentliches Kriterium für Firmenlenker war, ist es heute der Faktor Ausprobieren. Voraussetzung dafür ist wiederum, dass Entscheidungen auch unter größter Unsicherheit getroffen werden müssen. Und das widerspricht häufig dem herkömmlichen Verhalten, wonach bisher entlang klarer Planungs- und Prognosemechanismen gearbeitet wurde.“ – Thomas Belker, Talanx

Die Studie
Für die Studie „Zwischen Effizienz und Agilität. Fachbereiche in der Digitalisierung“ wurden 226 Führungskräfte aus den Bereichen Finance & Accounting, IT und Research & Development telefonisch befragt. Der Personaldienstleister Hays hat die Studie gemeinsam mit dem Analysehaus PAC durchgeführt.

Bilderstrecke: Ambidextrie bislang Fehlanzeige

Viele reden von agilem Management, sind jedoch mit der Umsetzung überfordert. Eine Studie von Hays deckt auf, wie groß die Spannungen zwischen Kerngeschäft und den agilen Einheiten noch sind. Hier finden Sie einige zentrale Erkenntnisse der Studie im Überblick.

Quelle: „Zwischen Effizienz und Agilität. Fachbereiche in der Digitalisierung“, Hays/PAC

Woran hakt es noch bei Unternehmen, die sich transformieren? – Vor allem an den bestehenden Rahmenbedingungen. Die Grafik zeigt Faktoren, die den digitalen Wandel in den Unternehmen behindern.

Quelle: „Zwischen Effizienz und Agilität. Fachbereiche in der Digitalisierung“, Hays/PAC

Welche Strategien nutzen Unternehmen, um parallel zum Kerngeschäft neue Themen und Geschäftsfelder zu erschließen? Die Studie zeigt, dass die Mehrzahl (64 Prozent) Innovationen aus der bestehenden Organisation heraus entwickelt. Die Mitarbeiter sind also sowohl in der Linie als auch in innovativen Projekten beschäftigt …

Quelle: „Zwischen Effizienz und Agilität. Fachbereiche in der Digitalisierung“, Hays/PAC

… Dass es dabei zu Spannungen kommt, ist nachvollziehbar. Die Abbildung gibt einen Überblick über die Spannungsfelder bei der Zusammenarbeit zwischen Linienorganisation und innovativen Projektteams.

Quelle: „Zwischen Effizienz und Agilität. Fachbereiche in der Digitalisierung“, Hays/PAC

Wenn Projekte fehlschlagen, liegt dies allerdings nicht unbedingt am Spagat zwischen Innovation und Kerngeschäft. Eine Übersicht der Top-5-Gründe, warum Projekte scheitern, zeigt viele bekannte Probleme, die man nicht nur in ambidextren Strukturen antrifft.


Dieses Beitrag ist Ausgabe 12/2018 erschienen. Sie können das komplette Heft im › Shop bestellen.

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