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Trennung von Mitarbeitenden – Moment der Wahrheit

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Leben heißt Abschied nehmen. Auch Unternehmen sind davon betroffen, egal ob sich der Abschied von Mitarbeitern in plötzlichen Wellen, als laufende Routine oder als seltenes Drama vollzieht. Trennungsprozesse werden immer von der Kultur beeinflusst, in die sie eingebettet sind. Unternehmenskultur definieren wir als die Summe aller Selbstverständlichkeiten, welche von der Mehrheit der Mitglieder eines Systems vom Typ Unternehmen geteilt werden. Diese Selbstverständlichkeiten – Überzeugungen, Verhaltensmuster, Sprachspiele et cetera – prägen im Lauf der Zeit auch die Kultur der Trennung.

Menschenbilder

Diese wird entscheidend von dem im Unternehmen vorherrschenden Menschenbild geprägt. Zwar hat sich unser Bild vom Menschen im Zeitablauf immer wieder verändert. Doch erst im Zeitraum des „langen 19. Jahrhunderts“, also etwa von der Französischen Revolution bis 1914, entstanden neue Grundvorstellungen über den Menschen. So finden wir heute anstelle eines uniformen Menschenbildes konkurrierende Vorstellungen. Dem christlichen Menschenbild der Vorbestimmtheit stehen etwa das Bild des freien, sich selbst verwirklichenden Individuums gegenüber. Ebenso das gespaltene Menschenbild (Leib
versus Seele) nach René Descartes,
das mechanistische (Denkverbot für Arbeiter) nach Frederick Taylor, das plastische (Der Mensch ist so, wie man ihn gerade braucht) und so fort. Eine Trennungskultur, in der das Austrittsgespräch seinen natürlichen Platz hat, gedeiht am besten auf dem Humus eines humanistischen Menschenbildes. Auf die Führung in Organisationen umgemünzt: „Ich führe Menschen so, dass sie sich persönlich weiterentwickeln und ihr Potenzial voll entfalten können, um unsere gemeinschaftlichen Ziele zu realisieren.“

Ehrlichkeit

Bei all dem darf unser anthropologisches Erbe nicht vergessen werden. Wir neigen dazu, in simplen Gegensatzpaaren wie gut oder böse, schwarz oder weiß, alles oder nichts zu denken. Diese Zuspitzung in ein Entweder-oder kann nur mit Hilfe einer Unternehmenskultur überwunden werden, in der Ehrlichkeit, Fairness und Respekt die Chance besitzen, zu einer Selbstverständlichkeit zu werden. Oder noch besser: Wenn das Management gelernt hat, mit den Mehrdeutigkeiten menschlichen Verhaltens umzugehen. All jene, die auf den Zug der Austrittsgespräche aufspringen, weil es momentan „korrekt“ oder gar „agil“ ist, werden scheitern. Eine Inszenierung wird von den Mitarbeitern rasch enttarnt und vermittelt den Beteiligten das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.

Feedback

Trennung kann ein Moment der Wahrheit sein, in dem Tabus keine Rolle mehr spielen. Natürlich gilt es zunächst zu unterscheiden, wer denn die Trennung auslöst: der Mitarbeiter als autonomes Subjekt oder das Unternehmen als soziales System mit seinen Werten, Normen und ökonomischen Zwängen. Schon weniger trivial ist die Frage nach den „kritischen Ereignissen“, die zur Trennung führten. Sie verlangt eine ehrliche Selbstreflexion der Beteiligten. Das Standardargument dagegen: „Woher sollen wir dafür die Zeit nehmen?“ Gegenfrage: „Gibt es Notwendigkeiten im Unternehmen, die eine höhere Dividende abwerfen als der gemeinsame Blick zurück?“ Unternehmen sind soziale Systeme, die sich über ständige Rückkopplungsschleifen selbst steuern.  Das Trennungsgespräch ist eine der wichtigsten Quellen für ein solches Feedback. Und wenn die Menschen im weitesten Sinn immer „mobiler“ werden, dann verbietet sich auch jene Frage, die häufig aus einer Kränkung oder empfundenen Niederlage gestellt wird: „Hat es ein scheidender Mitarbeiter überhaupt verdient, so viel Aufmerksamkeit zu erfahren?“ Die Antwort: Neben den vielbeschworenen „Talenten“ gibt es heute (Stichwort „Mobilität“) einen zweiten große Pool an Human-Ressourcen, die Bumerang-Mitarbeiter. Wer keine Brücken zu deren Wiederkehr zulässt, betreibt Selbstfesselung.

Fragen

Wenn es atmosphärisch gelingt, dass sich der scheidende Mitarbeiter von sich aus öffnet, kann man sich an tiefergehende Fragen herantasten. Dafür müssen scheinbar triviale Voraussetzungen erfüllt sein: Etwa kein monströser Schreibtisch als Barriere zwischen Interviewer und Befragten sowie die Bereitschaft, aktiv zuzuhören und dies durch soziale Verstärker, durch das Aushalten von Pausen, durch Verständnis suchendes Paraphrasieren et cetera zum Ausdruck zu bringen. Dann kann zum Beispiel gefragt werden:  „Wenn Sie einmal an Ihre Zeit bei uns zurückdenken werden, woran würden Sie sich als Erstes erinnern?“, „Wenn Sie das Sagen gehabt hätten, was wäre in Ihrem Job anders gewesen?“, „Für wen hätte dies die größten Vor- oder Nachteile gehabt?“, „Wer hätte am ehesten dazu
beitragen können, dass Sie geblieben wären?“, „Wer hätte was machen müssen, damit Sie noch schneller gekündigt hätten?“, „Was sollte sich in unserem Unternehmen auf keinen Fall ändern?“. Bei aller Verlockung solcher Fragen: Das Gespräch darf weder zum Verhör noch zur Therapiesitzung werden.  Es gilt sorgsam abzuwägen, wieviel Irritation jemand, der die Bande zum Unternehmen schon gelöst hat, tatsächlich aushält.

Der Wert einer Trennungskultur

Es gibt zumindest vier gute Gründe, sich einer Trennungskultur mit Energie und ohne
Spiegelfechterei zuzuwenden.

  • Strategische Gründe: Eine positive Trennungskultur kommt dem Ansehen des Unternehmens entgegen. Das Reputationskapital, eng verzahnt mit dem Beziehungs- und dem Humankapital, kann ausgebaut werden und fließt dann in den Unternehmenswert ein.
  • Organisatorische Gründe: Eine gelebte Trennungskultur verringert die Wechselbereitschaft gerade der besonders fähigen Mitarbeiter. Auch kann einer Tendenz zur Fehlervermeidung, welche die Innovationsbereitschaft blockiert und letztlich in die Falle der Durchschnittlichkeit führt, vorgebeugt werden.
  • Wirtschaftliche Gründe: Eine Trennungskultur vermag Ärger zu kanalisieren und Frustration zu dämpfen. Auf diese Weise schont sie nicht nur emotionale, sondern auch produktive Ressourcen. Zudem fallen Folgekosten durch arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen weg.
  • Moralische Gründe: Ist eine Trennung nötig, so bleibt zumindest das Selbstwertgefühl der Gekündigten erhalten. Verlässt der Mitarbeiter das Unternehmen aus eigenem Antrieb, so signalisiert eine positive Trennungskultur dem Arbeitnehmer Wertschätzung – ein rares Gut in einer Zeit der Oberflächlichkeit und Schnelligkeit.

Tim Stakenborg war bis Sommer 2024 Redakteur bei der Personalwirtschaft.