Am Anfang stand das Ende. Der unerwartete Tod des in der Recruiting-Szene so geschätzten wie umtriebigen Kollegen Heiko Schomberg hatte die Anreise zur Veranstaltung „HR Edge“ mit einem mulmigen Gefühl begleitet. Dies hier war sein „Home Turf“, hier traf sich seine Community. Ja, eben jener Heiko Schomberg war es gewesen, der als Erster überhaupt seine Anmeldung abgeschickt hatte, nachdem Veranstalter Jo Diercks das Event via Linkedin angekündigt hatte.
Nun also, wenige Tage nachdem die Branche von der Trauernachricht erschüttert worden war, oblag es Diercks, gleich zum Einstieg in den Tag die richtigen, die gemessenen Worte zu finden im Angesicht des gemeinsamen, sprachlos machenden Verlusts. Ohne an dieser Stelle weiter vorzudringen: Es gelang ihm.
Der Gastgeber bahnte rhetorisch den Weg in einen Tag, der alles sein wollte außer einer klassischen Konferenz. Vielmehr erwartete die Teilnehmenden ein kurzweiliger Reigen an 20-minütigen, durchweg im Stehen genossenen Impulsen rund um das – den Tag, das Geschäftsmodell des Initiators sowie dessen just neu aufgelegtes Buch prägende – Konzept Recrutainment. Als Learnings für Personalerinnen und Personaler sind vor allem die folgenden erwähnenswert.
Learning 1: Recrutainment ist nur Spaß? Von wegen!
Wer die erste Auflage des Recrutainment-Buchs von Jo Diercks und Kristof Kupka gelesen hat, wird die im Februar erschienene Neuauflage kaum als solche wiedererkennen. Alles neu macht der Professor, denn Diercks und Kupka haben sich mit Lars Jansen einen dritten Autor an die Seite geholt. Er hat die Inhalte durchweg aktualisiert und den Umfang des Buchs deutlich aufgebohrt, um nicht zu sagen: verdoppelt. Jansen ist Eignungsdiagnostiker, ehemaliger Personalpraktiker und heute Professor an der Hamburger Fern-Hochschule HFH, wo er die wirtschaftspsychologischen Studiengänge leitet. Als solcher und Buchautor hielt er einen der Kurzvorträge und stellte die Neuauflage vor.
Dabei wurde klar: Bei der Überarbeitung des Werks ist Jansen und Co. ein verhältnismäßig großer Wurf gelungen, der denn auch den Auftaktvortrag des Tages inhaltlich stützte: Das Autorenteam hat eine granulare Definition und Systematisierung der Gamification- und Recrutainment-Begrifflichkeiten vorgelegt, die aktuell ihresgleichen sucht und zur wissenschaftlichen Publikation eingereicht ist. Die Mühlen der wissenschaftlichen Journals mahlen bekanntlich etwas länger, weshalb es uns freut, dass wir – ohne zu viel verraten zu wollen – zumindest die Systematik (siehe Abbildung) bereits zeigen dürfen. Im Buch gibt’s die Herleitung und weitere Einblicke.
Zweite Erkenntnis, die sich aus Jansens Vortrag speist und im Laufe der Unkonferenz von verschiedenen Fallbeispielen illustriert wurde: Das so flockig klingende Konzept „Recrutainment“ ist weder witzig gemeint noch lustig gemacht, sondern vielfach wissenschaftlich validiert und längst zahlreichen Unternehmen dabei hilfreich, Kandidaten und Kandidatinnen zu sourcen, Qualifikationen zu testen und Bewerbende zu selektieren. Bester Beweis dafür waren die im Laufe des Tages ebenfalls in 20-minütigen „Spotlights“ vorgestellten Cases:
- Angelina Peipers und Denise Ravekes berichteten, wie OTTO Matching Tools in der Candidate Journey einsetzt.
- Martin Maas von der ZF Group gab einen Einblick in die Gewinnung von Quereinsteigern und verriet, welche Rolle Recruiting Games dabei spielen.
- Christiane Pillmann, Cagla Kocayel und Nadine Tebbe zeigten, wie die Deutsche Telekom mit Gamified Assessment Diagnostik, Berufsorientierung und Arbeitgebermarketing kombiniert.
Nun kann man völlig berechtigt einwenden, dass es für Konzerne genannter Größenordnung technisch und finanziell machbar ist, derartige Projekte zu starten – ob nun als Marketing-Gag oder ernstgemeinte Erweiterung des Recruiting-Toolkits, und auch auf die Gefahr hin, dass ein Testflug keine dauerhafte Fortsetzung findet. Das stimmt allemal, und doch zeigen die Beispiele (und die zahlreichen Cases im Buch), was alles geht im digitalisierten und gamifizierten Recruiting – und dass es sich auch für kleinere Unternehmen lohnen kann, hierauf einen genaueren Blick zu werfen.
Learning 2: Das Metaverse ist uns näher, als wir dachten
Gleich zwei Vorträge widmeten sich dem „Metaverse“ und wirkten ebenfalls durchaus augenöffnend (selbst wenn diese Augen ins Innere einer 3D-Brille stierten). Metaversen sind (um das noch einmal einzubetten) digitale Räume, die durch das Zusammenwirken virtueller, erweiterter und physischer Realität entstehen. Kurz: Räume, die wir mit 3D-Brillen betreten und in denen wir trotz physischer Abwesenheit miteinander kommunizieren und umgehen, als säßen wir beieinander.
Nun könnte man mit dem zarten Lebensalter von 40 Jahren, das den Autor dieser Zeilen ziert, unken: So oder ähnlich wurde uns das Konzept „Zukunft“ bereits in den 1990ern („Virtual Reality!“), in den Nullerjahren („Second Life!“) und in den Zehnerjahren („Oculus Rift!“) schmackhaft gemacht, und doch blieb alles, auch nach pandemiebedingten Techniksprüngen, immer noch ziemlich 2D.
Wer den „Spotlights“ von Demodern-Gründer und -Geschäftsführer Alexander El-Meligi sowie des Teams Nils Meyer, Maximilian Wichelhaus und Ann-Kathrin Hof von EY gefolgt ist, dürfte allerdings auf den Trichter kommen, dass Metaversen für eine immer größer werdende Zahl nachwachsender Kandidatinnen und Kandidaten (Stichwort: Gen Z, Gen Alpha) natürlicher Bestandteil der Lebenswelt sind – und dass sich, wie beide Vorträge zeigten, für Recruiting und HR zahlreiche neue Anwendungsfelder und Möglichkeiten ergeben.
Es werde zwei bis drei Jahre dauern, so El-Meligi, bis das Metaverse einen fortgeschrittenen Reifegrad erreicht habe. Bereits 2026 sei Gartner-Studien zufolge jede und jeder Vierte von uns mindestens eine Stunde pro Tag im Metaverse zugange. Die Investitionen in die neue Technologie nehmen massiv zu. Was das für HR in gar nicht ferner Zukunft heißen kann, zeigten die „HR Metaverse Use Cases entlang des Mitarbeiter-Lebenszyklus“ des EY-Teams eindrücklich.
Learning 3: Der Arbeitskräftemangel ist nun wirklich überall
Arbeitskräftemangel allerorten? Das ist doch nichts Neues. Stimmt. Trotzdem legte Gero Hesses Impuls zum Wert von HR-Tech-Lösungen für zielführendes Recruiting zwei interessante Aspekte hierzu offen. Erstens zeigte auf seine Frage „Wer im Raum hat keinen Fachkräftemangel?“ hin unter den rund 130 Anwesenden genau eine Person auf. Es war – Klappern gehört zum Geschäft – Recruiting-Berater Wolfgang Brickwedde, der seine Exposition später im Zwiegespräch spitzfindig erklärte: „Fachkräftemangel gibt es nicht mehr. Heute haben wir Arbeitskräftemangel!“ Point taken.
Darüber hinaus bemerkenswert sind Zahlen, die Hesse zur Stimmung in der Wirtschaft im Angesicht der Arbeitsmarktsituation präsentierte. Trotz der merklichen Zuspitzung allerorten sei in der Breite der Wirtschaft noch nicht angekommen, dass die Überlebensfähigkeit vieler Unternehmen auf dem Spiel stehe. Die Stimmung sei gut, die Lage leider nicht.
Bitte keine weiteren acht Jahre Pause
Fans der „HR Edge“ hatten knapp acht Jahre auf eine Neuauflage der Unkonferenz warten müssen – zu lang, so das einhellige Votum. Zumal sich die Welt ja immer schneller zu drehen scheint. Schließen wir also mit einem Gedanken, den man mit kaum jemandem besser hätte verhandeln können, als mit dem Satiriker und Wortakrobaten Heiko Schomberg: Ist etwas „edgy“, dann steht es für Zukunft, Fortschritt und Progressivität. Und ja! Wer die „HR Edge“ besucht, darf an der Kante Richtung Zukunft stehen, Morgenluft schnuppern und wertvolle Kontakte mit in den Arbeitsalltag nehmen.
Alles super! Blöd nur, dass der geneigte Technikfreund im Jahre 2023 beim Begriff „Edge“ weniger an Zukunft denkt als an dürftige Mobilfunkverbindungen und etwas biedere Browserlösungen. Um also einen Kalauer zu bemühen, den Heiko höchstwahrscheinlich besser hinbekommen hätte: Ob der Name „HR Edge“ die Sache heute noch treffend beschreibt, sei einmal dahingestellt. Vielleicht treffen wir uns ja bei Gelegenheit auf der „Recruiting 5G“ wieder? Nun, wie die Veranstaltung dann auch immer heißen mag: Unbedingt neu auflegen, das Ganze – und bitte diesmal keine acht Jahre Pause einlegen, lieber Jo Diercks!
Cliff Lehnen war bis März 2023 Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.