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Zeitarbeit: Einbruch, Umbruch, Aufbruch

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Bild: Trifonenko Ivan/stock.adobe.com
Bild: Trifonenko Ivan/stock.adobe.com

Erstmalig seit sechs Jahren meldet die Bundesagentur für Arbeit (BA), dass die Zahl der Zeitarbeitnehmer rückläufig ist. Was steckt dahinter? Die Personaldienstleister nennen mehrere Gründe für diese Entwicklung. Auch wenn die Arbeitsmarktdaten immer noch verhältnismäßig gut sind, trotz der sich abkühlenden Konjunktur, sind die Kunden stark verunsichert. Dies betrifft vor allem den Blue-Collar-Bereich, der gleich von mehreren Seiten unter Druck gerät: zurückgehende Nachfrage der Kundenunternehmen, Neustrukturierung der Automobilindustrie und die zunehmende Digitalisierung an den einzelnen Arbeitsplätzen. Und last not least verlieren Zeitarbeitnehmer ihre Einsätze auch aufgrund der AÜG-Reform von 2017.

Von einer ausgewachsenen Krise möchte trotzdem keiner der Diskussionsteilnehmer sprechen. Welche Prognose wagen die Experten für das letzte Quartal 2019 und für 2020? Langfristig seien die Aussichten gut, da die demografische Entwicklung und die Knappheit an Arbeitskräften der Branche in die Hände spiele und sie sich auch als Recruiter bewährt hat.

Der Umbau der Automobilindustrie

VW, Ford, BMW und andere bauen Mitarbeiter vor allem im Helfer-Bereich ab. Die Schlüsselbranche der deutschen Industrie befindet sich in der Umbruchphase zur E-Mobilität und zu Industrie 4.0. Daher überrascht die sinkende Zahl der Zeitarbeitnehmer in den produktionstypischen Tätigkeitsfeldern nicht. Die strukturelle Veränderung zur E-Mobilität trifft viele und die Tendenz wird sich fortsetzen, auch weil die Zulieferer weniger Mitarbeiter benötigten.

Und dass, obwohl die Folgen von Industrie 4.0, also einer durchgehenden Digitalisierung der Produktion, noch gar nicht auf dem Markt angekommen sind. Dass die Zeitarbeitnehmer aus der Automobilindustrie, in der sie nach Branchentarifvertrag und übertariflich entlohnt werden, nun in eine Branche wechseln, in der ihr Stundensatz um vieles niedriger liegt, ist zunächst ausgeschlossen. Eher ist anzunehmen, dass sie die Kündigung vorziehen und ein Jahr lang Arbeitslosengeld beziehen werden. Nach dieser Zeit suchen sie dann wieder eine Anstellung, was die Personaldienstleister vor die Aufgabe stellt, für diese Arbeitnehmer mit einem speziellen Profil neue Märkte zu finden.

Qualifizierung für Helfer

In der Weiterbildung sind die Personaldienstleister durchaus erfahren – inklusive der Mühen und des Aufwands. Da die Nachfrage nach Facharbeitern und Fachhelfern mittelfristig unverändert bleibt, sollte jetzt mit der Qualifizierung begonnen werden. Dies gelinge aber nur, wenn sich auch Kunden- und Ausbildungsunternehmen engagieren. Gleichzeitig gibt es noch eine erhebliche Unsicherheit in der Wirtschaft darüber, welche Tätigkeits- und Kompetenzprofile die digitale Produktion in der Industrie 4.0 überhaupt erfordert, was die Sache nicht einfacher macht. Darum müssen zunächst tragfähige und umsetzbare Konzepte erarbeitet werden – zusammen mit den verantwortlichen Behörden und Institutionen.

Gesundheitsbranche profitiert von Zeitarbeitnehmern

Die Nachfrage ist groß, doch bleibt das so? Wenn es nach dem Willen des Gesundheitsministers Jens Spahn geht, der die Personalknappheit im Gesundheitssektor abbauen will, müsse der Anteil der Zeitarbeitskräfte „nachhaltig reduziert werden“. Hinter diesem Vorstoß verbirgt sich die Annahme, dass ohne Zeitarbeit mehr potenzielle Pflegekräfte in die Festanstellung gehen.

Zum einen sind es aber nur 1,6 Prozent, die über die Arbeitnehmerüberlassungen im Gesundheitssektor eingesetzt sind. Unverständlich ist daher, warum der Gesetzgeber dringenden Handlungsbedarf in der Zeitarbeit sieht, statt daran zu arbeiten, dass die Branche ihre eigenen Arbeitsbedingungen attraktiver gestaltet, kritisieren die Personaldienstleister. Zum anderen ist es aktuell wenig realistisch, dass sich mehr Pflegekräfte bei den Gesundheitseinrichtungen direkt bewerben. Der Grund: Sie verlassen heutzutage ihren Arbeitgeber ganz bewusst, weil sie wissen, dass sie über die Zeitarbeit ihre persönlichen Flexibilitätswünsche umsetzen können.

Personaldienstleister der Zukunft ohne örtliche Niederlassungen?

In den internen Strukturen der Arbeitnehmerüberlassungen ist die Digitalisierung weitgehend vollzogen, doch beim Recruiting gibt es noch Nachholbedarf. Im Vergleich zu Belgien oder den Niederlanden, wo Einsatzbetriebe auf der Website des Personaldienstleisters einen zum Tätigkeitsprofil passenden Mitarbeiter aus einer Datenbank aussuchen, läuft hierzulande die Vermittlung noch old school. Vor diesem Hintergrund spielt sich die Diskussion um die Notwendigkeit der örtlichen Niederlassungen ab, die bei allen großen Anbietern hohe Strukturkosten verursachen.

Also schließen? Adhoc die persönliche Rekrutierung vor Ort einzustellen, sei keine Lösung, denn fast die Mehrheit der Bewerber kommt über den persönlichen Kontakt mit den Beratern. Da man das Digitalisierungsverhalten der Kandidaten nur bedingt beeinflussen kann, wollen die Anbieter keinesfalls Hürden aufbauen, sondern zunächst die Entwicklung weiter beobachten.

Erwartungen an die AÜG-Evaluation

Im Jahr 2020 will die Politik das 2017 reformierte AÜG evaluieren. Wie groß sind die Hoffnungen auf objektive Ergebnisse? Aus Sicht der Zeitarbeitnehmer zeigen sich AÜG-Folgen – wie der Arbeitsplatzverlust bei Eintreten der Höchstüberlassungsdauer oder durch Equal Pay mit dem neunten Monat –, die der Gesetzgeber so nicht intendiert hatte. Die Personaldienstleister hoffen nun, dass auch ihre Erfahrungen berücksichtigt werden und kein Gutachten im Sinne der Politik entsteht. Der Gesetzgeber sollte dagegen erkennen, was den Zeitarbeitnehmern wirklich helfe und wie die Branche die deutsche Wirtschaft unterstützen könne.


Dieser Round Table ist im Sonderheft „Zeitarbeit“ in der Personalwirtschaft 10/2019 erschienen. Sie können das gesamte Heft auf  › dieser Seite kostenfrei herunterladen.

Christiane Siemann ist freie Wirtschaftsjournalistin und insbesondere spezialisiert auf die Themen Comp & Ben, bAV, Arbeitsrecht, Arbeitsmarktpolitik und Personalentwicklung/Karriere. Sie begleitet einige Round-Table-Gespräche der Personalwirtschaft.