Der Niedriglohnsektor ist so klein wie zuletzt vor 25 Jahren. Das zeigt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Arbeiteten Mitte der 2000er Jahre noch rund ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland im Niedriglohnsektor, ist es 2022 nur noch jeder sechste gewesen, der oder die weniger als zwei Drittel des Median Bruttostundenlohns in Deutschland bekam (13 Euro pro Stunde). Der Niedriglohnsektor schrumpft nicht etwa, weil die Arbeitslosenquote steigt. Vielmehr haben Fachkräftemangel, Inflation und die Erhöhung des Mindestlohns dafür gesorgt.
Denn aktuell befinden wir uns in folgender Spirale: Arbeitnehmervertreter üben aufgrund der Inflation und steigender Lebenshaltungskosten Druck auf die Arbeitgeber aus, die Löhne zu erhöhen, und auf die Politik sowie die Mindestlohnkommission, den Mindestlohn entsprechend anzupassen. Gleichzeitig ist es aufgrund des Fachkräftemangels heutzutage einfacher für Menschen mit beruflicher Erfahrung und höheren Qualifikationen einen Job zu finden. Qualifizierte Fachkräfte können sich Arbeitgeber tendenziell danach aussuchen, welchen Lohn er ihnen zahlt.
Das Resultat: Die Bruttolöhne steigen – von 1995 zu 2021 inflationsbereinigt um 16,5 Prozent – und die Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, werden weniger. Damit steigen auch die Lohnerwartungen. „Da sich der deutsche Arbeitsmarkt sukzessive hin zu einem Arbeitnehmermarkt entwickelt, wird es zukünftig höhere Lohnforderungen der Arbeitnehmer geben“, sagt Markus Grabka, Autor der DWI-Studie gegenüber der Personalwirtschaft.
Der Wegbruch des Niedriglohnsektors und seine Folgen
Wer zukünftig noch Arbeitskräfte finden will, kann es sich nicht mehr erlauben, ihnen einen geringen Lohn zu zahlen. Wie ist das Schrumpfen des Niedriglohnsektors in Bezug auf die gesamte deutsche Wirtschaft zu verstehen? „Aus Sicht der Beschäftigten ist es positiv zu bewerten, dass der Niedriglohnsektor kleiner wird, da diese Menschen oft in höhere Lohngruppen gewechselt sind“, sagt Grabka. Zudem verringere sich damit das Risiko für Altersarmut und der Staat müsste tendenziell weniger Gelder für soziale Unterstützungen ausgeben.
Das sieht man bei der Hans-Böckler-Stiftung ähnlich: „Heute, angesichts von zunehmenden Fachkräfteengpässen, ist noch deutlicher, dass ein großer Niedriglohnsektor mehr schadet als nutzt“, sagt uns Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Die meisten Beschäftigten im Niedriglohnsektor – dies sind vor allem Mitarbeitende in der Gastronomie, in Ostdeutschland, Frauen oder Menschen ohne einen deutschen Pass – kommen nur mit einer zusätzlichen staatlichen Unterstützung halbwegs über die Runden, so Kohlrausch.
Ein Wegfall des kompletten Sektors ist aus Sicht des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln allerdings auch nicht gut. Niedriglohnangebote helfen Menschen wie Langzeitarbeitslosen dabei, Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen. „Arbeitslose, die einer Niedriglohnbeschäftigung nachgehen, haben deutlich bessere Chancen, auch langfristig berufstätig zu bleiben“, sagte Holger Schäfer, Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim IW Köln, 2022 in einem Studienpapier. Von 100 Personen, die zwischen 2011 und 2019 neu in den Niedriglohnsektor eintraten, waren nach fünf Jahren nur 27 immer noch in Niedriglohnbeschäftigung, zeigt seine Analyse. Hingegen schafften 42 den Sprung in höher entlohnte Beschäftigung. „Der Niedriglohnsektor steht zu Unrecht in der Kritik“, sagt Schäfer. „Tatsächlich bietet er vielen eine Perspektive, die es sonst nicht geben würde.“
„Minijobs sollten abgeschaffen werden“
Anders scheint das der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, zu sehen. In einem Interview mit der F.A.Z. plädierte er jüngst dafür Minijobs abzuschaffen. In Minijobs arbeiten Beschäftigte laut Angaben des DWI zu mehr als 70 Prozent für Niedriglöhne. „Viele Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik stammen aus Zeiten, als wir eine hohe Arbeitslosigkeit hatten“, sagt Schlegel. „Auch die geringfügige Beschäftigung, die sogenannten Minijobs, sind ein Anachronismus. Man sollte sie abschaffen oder nur noch für Schüler und Studenten zulassen. Eine solche Reform würde die Sozialkassen entlasten und dem Arbeitsmarkt guttun.“
Zuspruch enthält er von Kohlrausch vom WSI der Hans-Böckler Stiftung: „Minijobs sind ein Einfallstor für Niedriglöhne, sie vergrößern die Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und setzen völlig falsche Anreize. Deshalb ist es absolut sinnvoll, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu überführen.“
Schlegels Vorschlag, Minijobs abzuschaffen, stößt aber auch auf Kritik. So betont Grabek vom DIW: „Ich würde Minijobs nicht abschaffen, aber ich würde die Minijobschwelle deutlich absenken – beispielsweise auf 300 Euro.“ Würden Minijobs abgeschafft werden, so bestünde die Gefahr von mehr Schwarzarbeit und Missbrauch bei Sozialversicherungen. Letzteres könne der Fall sein, da man mit einem 5-Euro-Job pro Monat schon vollen Anspruch auf die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung hätte. Absenken möchte er aber die Minijobschwellgrenze, um möglichst viele Minijobs in sozialversicherungspflichtige Jobs umzuwandeln.
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.