Personalwirtschaft: Herr Sattelberger, als die Personalwirtschaft 1974 das Licht der Welt erblickte, befanden Sie sich im Rahmen eines dualen Studiums in der Ausbildung bei Daimler. Wie war das damals?
Thomas Sattelberger: Das Stuttgarter Modell war neu, und wir waren stolz, dass die Bildungsarbeit der Daimler Benz AG zusammen mit anderen namhaften Firmen der Region diese besondere Art des praxisnahen Studiums geschaffen hatte. Neben Daimler waren Bosch, Hewlett Packard, Andreas Stihl und Standard Elektrik Lorenz beteiligt.
Die Partnerhochschule, die Duale Hochschule Baden-Württemberg, hieß damals noch Berufsakademie Stuttgart und feiert in diesem Jahr übrigens ebenfalls ihr 50-jähriges Bestehen.
Eine Erfolgsgeschichte. Neben der Bologna-Reform ist das die einzige gravierende Reform im deutschen Ausbildungssystem.
Warum sind Sie dann nach der Ausbildung selbst in die Ausbildungsabteilung gegangen?
Das duale Studium hat mich so erfüllt. Für mich war deshalb schnell klar, dass ich einen Job im Bildungswesen haben wollte. Als ich dann selbst Ausbildungsleiter bei Daimler war, habe ich gesehen, wie viel Innovationskraft in der Fort- und Weiterbildung steckte. 1978 gab es den ersten Kongress für Organisationsentwicklung in Eindhoven. Die Weiterbildner kamen zurück und haben geschwärmt von der Verknüpfung von Bildung und Organisation. In diesem Umfeld ist auch mein erstes Buchprojekt mit dem Titel „Organisationsentwicklung in der betrieblichen Ausbildung“ entstanden. Das Bildungswesen von Daimler und auch von Bosch waren der Inbegriff von Innovation, Aufbruch, Sturm und Drang. Wir hatten zum Beispiel den Azubis freigestellt, überhaupt noch in die Firma zu kommen. Zentrale Leitplanke waren Lernzielvereinbarungen. Das Projekt ist gescheitert. Aber dass wir das überhaupt machen konnten!
Freiheit und Innovation. Das hatten Sie im Interview mit uns anlässlich Ihres Ausscheidens bei der Telekom 2012 auch bereits betont. Man könne nur innovativ sein, wenn man auch Freiheiten besitzt.
Das ist so. Ein Unternehmen braucht Biotope der Freiheit für soziale und technologische Innovationen. Die können beispielsweise in einem Innovation Lab entstehen oder bis zur Ausgründung einer New Company, wie damals die T-Mobile-Gründung in ganz anderen Strukturen, führen. Die deutsche Wirtschaft kann sich nur über ambidextre Strukturen weiterentwickeln.
Sie haben später bei der Lufthansa die erste Corporate University gegründet. Wie schauen Sie heute auf die Talentpolitik der Unternehmen? Wurden die entscheidenden Schritte gegangen?
Teils ja, teils nein. In einer Kienbaumstudie aus dem Jahr 2019 sagten 70 Prozent der Personaler, sie hätten eine innovative Talentpolitik, aber nur 30 Prozent der befragten Talente haben das so gesehen.
Bei der Telekom haben Sie mit der Frauenquote für große Aufmerksamkeit gesorgt. In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie: „Ich und Frauenqoute, heute nein“. Das war doch einer Ihrer maßgeblichen Erfolge. Warum sehen Sie das mittlerweile so skeptisch?
Naja. Es war eine freiwillige Selbstverpflichtung des Vorstands. Wir haben uns nicht einem gesetzlichen Zwang gebeugt.
Das drohte.
Ich habe damals strategisch gedacht: Wenn wir uns eine freiwillige Quote geben, entkommen wir einer staatlichen Regulierung. Es ging uns damals aber nicht nur um die Frauenquote. Es ging um Diversity of Minds, um das transformative Gehirn, und erst dann um gruppenbezogene oder identitäre Dimensionen wie Mann oder Frau, schwul oder nicht schwul, jung oder alt. Mein Recruitingchef hat mich verzweifelt angesehen, als ich ihm sagte, jede zehnte Stelle mit einem Kandidaten zu besetzen, der eher einen schrägen CV vorzuweisen hatte. Diversity of Minds braucht man für die Transformation eines Unternehmens. Viele Unternehmen haben Diversity auf die Frauenquote reduziert, oder sie sind anekdotisch divers.
Die Diskussion um Frauenquoten und Diversity haben durchaus etwas bewirkt. Die Unternehmen sind diverser geworden.
Aber nicht transformationsfähiger. Ich habe immer gesagt, dass Diversity nicht nur ein moralischer Case, sondern auch ein Innovationscase ist. Der Kern von Diversity ist das schräge Denken. Wer das nicht erkennt, treibt nur den moralisch-ethischen Case der Gerechtigkeit. Der ist valide, aber der Innovationscase, den dieses Land dringend braucht, ist unterentwickelt. Diesen Zusammenhang zwischen Unternehmenstransformation und Diversität haben die meisten HR-Funktionen in Deutschland nicht verstanden. Der Gerechtigkeitscase hat die Quote als Treiber, der Innovationscase hat andere Treiber als die Quote. Da geht es vor allem um die Diversität in Erfahrungsfeldern, wie eine Studie der TU München belegt.
Wer macht das vorbildlich?
Die Konzerne sind in der Geschlechterdimension besser geworden, bei der Frage nach der Diversity of Minds ist da allerdings meistens nur heiße Luft. Im technologisch-fortschrittlichen Mittelstand stelle ich fest, dass sie bei den Quoten schlecht sind, aber bei Diversity of Minds dagegen besser.
Es gab in den 1990er-Jahren mit dem von Dave Ulrich entwickelten HR-Business-Partner-Modell den Versuch, HR stärker ans Business zu rücken. Wie sehen Sie dieses Modell aus heutiger Sicht?
Es war ein wichtiger Evolutionsschritt, aber nur ein Schritt und nicht das Ende. Ich habe im letzten Jahr meiner Zeit bei der Telekom freie Radikale jenseits der HR-Funktion losgelassen, Ombudsleute für People-Themen. Ich habe in allen Business-Funktionen Stellen geschaffen, die nichts anderes gemacht haben als Total Workforce Management. Der Punkt ist aber, wie entwickelt sich die Personalfunktion in disruptiven Zeiten weiter oder in Zeiten, die nach Innovation rufen? Und da taugt das Drei-Säulen-Konzept so nicht mehr.
Was taugt denn?
Wir brauchen einen HR-Partner für alle, die an Transformation arbeiten. Der Partner ist fokussiert auf das Thema People und übernimmt eine stärker ausgeprägte Change-Agent-Funktion, gekoppelt mit dem Thema Big Data und KI. Dabei ist das Thema Total Workforce Planning ein Schlüsselthema. Neben der Care-Funktion der Personalarbeit, die aus meiner Sicht viel zu üppig läuft, ist die Frage zentral, wie ich die Workforce in die Zukunft transformiere. Die Zukunft der Arbeit hat zutiefst mit Digitalisierung und KI zu tun. Wir haben heute die Debatte, wie wir sie vor gut zehn Jahren bei Osborne und Frey hatten.
„Wir brauchen einen HR-Partner für alle, die an Transformation arbeiten.“
Thomas Sattelberger
Deren Prognosen zu Veränderungen von Jobprofilen aufgrund von zunehmender Automatisierung sind aber nicht in der Geschwindigkeit eingetreten.
Weil Deutschland nicht transformiert. Es gibt eine Studie über die Renditen der schwedischen, schweizerischen und deutschen Maschinenanlagenbaubranchen. Die Margen in der Schweiz sind deutlich höher, weil sie das Thema Daten und Maschinen viel früher aufgegriffen haben. Wir fallen in Deutschland im Innovationsranking vom IMD weiter ab.
Hat das etwas mit HR zu tun?
Natürlich. Es hat was mit der Besetzungspolitik auf Top-Positionen und der Talentpolitik zu tun. HR rekrutiert zu wenig schräge Vögel, zu wenig Disruptoren. Die Frage ist doch, wie wir den Talentchannel beherrschen. Einige machen das gut, sind sehr kreativ, viele arbeiten hier aber traditionell und hinken hinterher.
Sie haben in der Vergangenheit immer wieder den Bedeutungsverlust von HR angemahnt, teilweise mit drastischen Worten. Ist HR in den letzten Jahrzehnten nicht bedeutender geworden?
Die Themen sind deutlich gewachsen, aber die Personalfunktion ist nicht mit ihr gewachsen.
Die People-Themen sind in den Medien, in der Gesellschaft sichtbarer denn je, auch viele Personalmanager. Und trotzdem sagen Sie, dass HR nicht an Einfluss gewonnen hat.
Dass die Medien Anekdoten zu Diversity oder New Work mit großer Freude aufgreifen, ist unbestritten. Aber die Frage ist doch, warum geht es der deutschen Wirtschaft so mittelmäßig, wenn das Thema Talent die Schlüsselfrage ist.
Warum so pessimistisch?
Ich bin im letzten Jahr Vorsitzender von New Automation geworden, einer Bildungsinitiative vom Verband der Elektro- und Digitalindustrie, und habe viele Hidden Champions und Mittelständler besucht. Dabei habe ich ein Gefühl dafür bekommen, wer dort die Innovationen vorantreibt. Das sind nicht die Personaler. Aber es gibt durchaus auch positive Beispiele. Bei der Firma Weidmüller habe ich zum Beispiel erlebt, wie eine KI-Spezialistin aus dem Learning-Bereich bei der Transformation vorne dabei ist. Education spielt eine zentrale Rolle in der Transformation.
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Das Interview ist zuerst in unserem Jubiläumsmagazin erschienen. Hier geht’s zum E-Paper!
Was sind aus Ihrer Sicht die größten Erfolge der HR-Funktion in den letzten Jahrzehnten?
Da fällt mir zuerst das Employability-Konzept von Heinz Fischer ein, damals Bereichsvorstand Personal bei der Deutschen Bank. Das hat um die Jahrhundertwende nach dem Platzen der Dotcom-Blase die Krise erheblich gemildert und die Sensibilität für das Humankapital geschärft. Heinz Fischer kam auch in die Hartz-Kommission.
Weitere Erfolge?
Sicherlich der Gerechtigkeitscase von Diversity, bei dem auch ich Hand anlegen konnte. Später hat Janina Kugel als Personalvorstand bei Siemens das Thema Diversity richtungsweisend vorangetrieben. Auch die von Peter Hartz entwickelte Fabrik 5000 bei Volkswagen war damals innovativ für den angespannten Arbeitsmarkt. Und wenn wir schon bei Namen sind, möchte ich Ariane Reinhart erwähnen, die bei Conti als Personalvorstand Stehvermögen in einem rauen Umfeld beweist und die mit der Initiative Allianz der Chancen eine neue Employability-Bewegung unterstützt.
Employability, Diversity – was ist mit dem Thema New Work?
Das Thema New Work ist ein Desaster in Deutschland. Es wurde durch Corona auf mobile Arbeit reduziert. Eine typische Verzwergung. New Work ist ein Vehikel für New Business. New Work ohne Transformation der Firma, ohne neue Geschäftsmodelle kann man vergessen. Das ist dann eine einseitige Mitarbeiterorientierung.
Es gibt ausgebildete Agile Coaches, es gibt Change Manager – das Methodenrepertoire hat sich doch gewandelt.
Aber in alten Strukturen. Die große Herausforderung, die die deutsche Wirtschaft hat, ist doch, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, und nicht smarte Prozesse. Diese Agilitätsbewegung seit Mitte des letzten Jahrzehnts war im Kern auf Prozessoptimierung ausgerichtet. Sie hätten auf Innovation ausgerichtet sein müssen. Agile Teams in Innovation Labs.
„Häufig ist es die Technologie, die mindestens so wichtig ist wie der Mensch.“
Thomas Sattelberger
Konnten Sie bei Conti oder der Telekom direkten Einfluss auf neue Businessmodelle nehmen?
Bei Conti saß ich noch an einem Seitentisch, bei der Telekom saß ich am Tisch. René Obermann hat auf meine Stimme in vielen Geschäftsthemen gehört. Die digitale Transformation von Kupfer zu All-IP war damals enorm. Habe ich den Anspruch, dass HR maßgeblich die Unternehmensstrategie bestimmen muss? Nein. Ich halte auch nichts von dem Thema People Company, weil es den Menschen verklärt.
Inwiefern?
Häufig ist es die Technologie, die mindestens so wichtig ist wie der Mensch.
Widerspricht sich das nicht mit Ihrem Anspruch, dass man als Personalmanager das Thema Talente im Blick haben muss?
Wir müssen mit einer hybriden Sicht auf die Themen Innovation, Technologie und Talent blicken. In den Siebziger- und Achtzigerjahren stand der Mensch mehr im Mittelstand, Humanisierung der Arbeitswelt war das Schlagwort. Es wurde mit teilautonomen Arbeitsorganisationen experimentiert. Das hatte ein Ende gefunden, als die Shareholder-Value-Bewegung nach Deutschland geschwappt ist und die Finanzen der Treiber waren. Und jetzt ist es eindeutig die Technologiebewegung. HR muss verstehen, welche neuen Geschäftsmodelle man mit KI bauen kann.
Warum sollen junge Leute in die HR-Funktion gehen?
Auf Linkedin schreiben mich viele junge Leute an, auch auf Tiktok. Ich rate ihnen davon ab, am Anfang ihrer Karriere in die HR-Funktion zu gehen. Ich rate eher dazu, in einer anderen betrieblichen Funktion einzusteigen und dann zu testen, ob ihr Herz für HR da ist.
Sie haben es anders gemacht, hatten aber zwischendurch bei der Lufthansa eine Linienverantwortung für den Service.
Wenn man sich heute die Herausforderungen der Wirtschaft und den Beitrag der einzelnen Funktionen anschaut, dann ist die Kenntnis von Technologie, Produkt und Serviceentwicklung essenziell, um bei Transformationsthemen mitzuarbeiten. Sonst bleibt es oberflächlich. Ich würde es der Personalfunktion gönnen, dass sie viele Talente gewinnen kann, die vorher einige Jahre in innovationsnahen Bereichen gearbeitet haben.
Wo würden Sie heute gerne anfangen, wenn Sie noch jung wären?
Ich würde es als Gründer versuchen. Start-ups sind für junge Menschen ein Erlebnis. Man bekommt ein Gefühl für Belastungsgrenzen: Wo muss ich achtsam und wachsam sein, was ist Hochleistung, was ist ausruhen, was ist Souveränität in der Arbeit, Teamgeist. Das hätte mich 1974 wahnsinnig an gemacht. Selbst wenn ein Start-up scheitert, veredelt das die Erfahrung.
Info
Thomas Sattelberger war nach Stationen im Daimler-Konzern und bei der Lufthansa von 2003 bis 2007 Personalvorstand bei der Continental AG und danach bis 2012 Personalvorstand bei der Deutschen Telekom. Sichtbar war er in der HR-Szene auch als Mitbegründer und Kopf der Initiative „Wege zur Selbst GmbH e.V.“, die 1999 als innovatives HR-Netzwerk gegründet wurde. Nach seinem Ausscheiden bei der Telekom zog er fünf Jahre später als FDP-Abgeordneter in den Bundestag, war von Ende 2021 bis 2022 Parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium. Sein jüngstes Buch trägt den Titel „Radikal neu. Gegen Mittelmaß und Abstieg in Politik und Wirtschaft“ (2023).
Erwin Stickling ist langjähriger Herausgeber der Zeitschrift Personalwirtschaft und zudem Mitglied der Geschäftsleitung beim F.A.Z.-Fachverlag F.A.Z. Business Media.

