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„Unternehmen geben Druck an HR weiter“

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Der Fachkräftemangel setzt Unternehmen unter Druck – und diesen Druck geben Arbeitgeber in vielen Fällen direkt in ihre HR-Abteilung weiter. Die Folge: Zahlreiche Recruiterinnen und Recruiter fühlen sich gestresst. Zu diesem Ergebnis kommt der XING Arbeitsmarktreport 2024, für den das Marktforschungsinstitut Appinio 300 Recruiterinnen und Recruiter in Deutschland befragt hat.

84 Prozent der Unternehmen haben Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. Die durchschnittliche Vakanzzeit über alle Berufe hinweg hat sich seit dem Jahr 2014 verdoppelt und liegt bei 148 Tagen.

Das wirkt sich auf den Arbeitsalltag von Recruiterinnen und Recruitern aus: 86 Prozent sagen, dass die Unternehmensführung hohe Erwartungen an sie habe, für 83 Prozent bedeutet der Fachkräftemangel einen höheren administrativen Aufwand.

Recruiter klagen über hohen Druck

Diese Situation führt dazu, dass rund zwei Drittel (63 Prozent) der Recruiterinnen und Recruiter in Deutschland über eine hohe emotionale Anspannung und Stress klagen. Thomas Kindler, Managing Director des Jobs-Netzwerks XING, beschreibt: „Viel von dem Druck, den Unternehmen wegen des Fachkräftemangels spüren, wird an die HR-Verantwortlichen weitergegeben. Diese haben aber oft begrenzten Handlungsspielraum und wenig Mittel zur Verfügung, um dem Druck entgegenzuwirken.“

Michael Witt, Berater für Recruitingstrategie und Organisationsentwicklung, empfiehlt HR: „Das Recruiting muss untersuchen, wo in der eigenen Organisation die Stresstreiber sind, und diese nachhaltig beseitigen.“ So könne es zum Beispiel hilfreich sein, einen Prioritätenplan für die Besetzung offener Stellen zu entwickeln, strategisch zu rekrutieren, um auf diese Weise für schwierige Zeiten gewappnet zu sein. Auch sollten Hiring Manager und Fachabteilungen offen miteinander kommunizieren, auch um Erwartungshaltungen zu klären und zu managen.“

KI kann bei administrativen Aufgaben entlasten

Der Belastung durch die vielen administrativen Aufgaben, die Recruiter und Recruiterinnen erledigen müssen, könnten Unternehmen auch mit KI entgegenwirken. „Künstliche Intelligenz kann für HR-Verantwortliche eine hilfreiche Unterstützung sein, um Prozesse zu automatisieren oder Stellenausschreibungen schneller zu erstellen“, sagt Kindler. „Gerade die administrativen Zeitfresser können so wirkungsvoll reduziert werden und schaffen Raum für die Kernkompetenzen von Recruitern.“

Derzeit müssen diese rund die Hälfte ihrer Zeit (49 Prozent) aufwenden, um geeignete Talente zu identifizieren, indem sie eingehende Bewerbungen sichten oder Vorstellungsgespräche organisieren und durchführen. Ein weiterer Zeitfresser (mit rund einem Drittel der Zeit) ist die Vor- und Nachbereitung der Akquise, etwa das Screening von Bewerbungen und Lebensläufen, die Recherche geeigneter Kandidaten und Kandidatinnen, die aktive Ansprache, Onboardingprozesse und administrative Aufgaben für die Einstellung neuer Mitarbeitender (35 Prozent) sowie die Dokumentation und das Reporting von KPIs zum Beispiel zur Erfolgskontrolle, zur Time to hire oder den Cost per Hire.

Recruitingstrategie ist Führungsaufgabe

Kindler empfiehlt Unternehmensführungen, in enger Zusammenarbeit mit HR die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren. Talente würden heutzutage flexible Arbeitszeitregelungen, faire Entlohnung und eine gute Work-Life-Balance erwarten. Wer das bietet, könne im Recruiting punkten und somit auch seine HR-Abteilung entlasten.

Doch genau diese Forderungen der Talente bereiten Recruiting-Expertinnen und -Experten momentan Kopfschmerzen. 58 Prozent der Befragten berichten, dass die Erwartungen der Bewerber an Jobbedingungen, Unternehmenskultur und Benefits gestiegen seien. Dazu gehören eine flexible Arbeitszeitgestaltung, Sabbaticals oder Workation. Dadurch entsteht zusätzlich Druck auf die Personalerinnen und Personaler.

Fast die Hälfte der HR-Verantwortlichen (46 Prozent) bejaht zudem die Aussage, dass es durch den Fachkräftemangel eine starke Unverbindlichkeit der Kandidaten und Kandidatinnen gibt. So sagen diese nach einer Zusage doch ab oder geben keine Rückmeldung, wenn HR sie aktiv anspricht. Ein Fünftel der Recruiter und Recruiterinnen (20 Prozent) hat zudem schon häufig oder sehr häufig Erfahrungen mit Ghosting gemacht.

Der Druck wächst auch, da HR in Bewerbungsverfahren schnell reagieren muss. Das zeigt eine Zusatzumfrage, die Appinio im Rahmen des Arbeitsmarktreports unter 2.000 Beschäftigten in Deutschland durchführte. Demnach wünschen sich die meisten Kandidaten und Kandidatinnen einen zügigen Bewerbungsprozess sowie eine Rückmeldung innerhalb von ein bis zwei Wochen. Kindlers Bilanz: „Recruiting ist ein Erfolgsfaktor. Die Verantwortung dafür darf nicht nur auf den Schultern der Personalabteilung liegen, sondern muss in der Unternehmensführung strategisch verankert sein.“

Witt empfiehlt unterdessen Unternehmen, die erhöhten Stress bei ihren Recruiterinnen und Recruitern wahrnehmen: „Arbeitgeber müssen dringend eine resiliente Recruitingorganisation aufbauen, die auch schwierige Phasen wie die aktuelle ohne Aktivismus zum antizyklischen Recruiting nutzen können.“ Das machten, so Witt, derzeit die „Schlauen, unter anderem mit dem Fokus auf Quereinsteiger“.

Mentale Gesundheit stärken – bei BMW für alle Mitarbeitenden

Den Druck, der laut Arbeitsmarktreport auf Recruitern und Recruiterinnen lastet, scheint es bei der BMW Group nicht zu geben. Die Gruppe spüre zwar die demografischen Veränderungen und den allgemeinen Fachkräftemangel. Doch Jana Fenn, Sprecherin für die Gesundheitsthemen innerhalb des Konzerns, sagt: „Wir konnten bislang alle notwendigen Einstellungen tätigen, da wir uns strategisch langfristig auf die aktuelle Situation vorbereitet haben.“ Zudem werde das Unternehmen bei Arbeitskräften als verlässlicher Arbeitgeber wahrgenommen und sei somit „auch für Talente außerhalb der klassischen Automobil-Kompetenz attraktiv“.

Auch wenn der Konzern im Vergleich zur Gesamtbevölkerung grundsätzlich keine Auffälligkeiten bezüglich mentaler Verfassung bei seiner Belegschaft sieht, die auf erhöhten Stress hindeuten könnten, gibt es in der BMW Group Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Diese sind in der „Initiative Gesundheit“ gebündelt. Deren Angebote richten sich nicht im Speziellen an Recruiterinnen und Recruiter, sondern an alle Mitarbeitenden und sollen deren psychische Gesundheit stärken. So etwa ein sechswöchiges Programm für mentale Gesundheit, bei dem Mitarbeitende in sechs Etappen auf dem Weg zu mehr Entspannung im Alltag, innerer Stärke und Gelassenheit, auch in schwierigen Momenten, begleitet werden. Führungskräfte können am Programm „Gesundheit und Führung“ teilnehmen, in dem diese für ihre Verantwortung und ihren Einfluss auf die mentale Gesundheit der Beschäftigten sensibilisiert werden.

Kirstin Gründel beschäftigt sich mit den Themen Compensation & Benefits, Vergütung und betriebliche Altersvorsorge. Zudem kümmert sie sich als Redakteurin um das Magazin "Comp & Ben". Sie ist redaktionelle Ansprechpartnerin für das Praxisforum Total Rewards.