Update vom 7. November 2024: Die Ampelregierung kommt nicht zur Ruhe. Am Abend des 6. November 2024 erreichten die Spannungen in der Ampel ihren Höhepunkt, und Bundeskanzler Olaf Scholz entlässt Finanzminister Lindner.
Nachdem Robert Habeck Ende Oktober einige Impulse zu Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage veröffentlichte, fand am Wochenende ein Wirtschaftspapier Lindners „WIRTSCHAFTSWENDE DEUTSCHLAND –KONZEPT FÜR WACHSTUM UND GENERATIONENGERECHTIGKEIT“, angeblich unbeabsichtigt, seinen Weg in die Öffentlichkeit. Der inzwischen Ex-Minister und Habeck machen in ihren Texten zum Teil sehr unterschiedliche Vorschläge. Eine Gemeinsamkeit gibt es aber: Beide identifizieren das Thema Arbeit sowie die Fachkräftesuche als zentrale Hebel.
Habeck setzt auf Frauenförderung und bessere Integration
Um das Arbeits- und Fachkräftepotential besser zu nutzen, will Habeck den Fokus vor allem auf vier Punkte legen. Zunächst will er, dass die bereits eingeleiteten Reformen – gemeint sind das vor ziemlich exakt einem Jahr in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz und die Wachstumsinitiative – weiter konsequent umgesetzt werden. Durch diese würden Arbeitsanreize für Ältere geschaffen, Arbeitsverbote für Geflüchtete aufgehoben und Arbeitserlaubnisse vereinfacht werden. Trotz dessen spricht er auch davon, dass die Voraussetzungen für die Ausweitung von Beschäftigung weiter verbessert werden müssen.
Darüber möchte der Wirtschaftsminister mehr Erwerbstätigkeit von Frauen zu ermöglichen. „Zwar arbeiten in Deutschland Frauen inzwischen so häufig wie Männer, aber eben nicht so viel“, heißt es in seinem Thesenpapier. Das würde vor allem daran liegen, dass Frauen nach der Geburt eines Kindes oft in Teilzeit zurückkehren und generell einen Karriereknick erleben würden. Sein Vorschlag: der Ausbau der Betreuungsinfrastruktur sowie deren qualitative Verbesserung. Zudem sollten Betreuungskosten höher steuerlich absetzbar sein, so dass mehr vom Lohn bleibt. Weiter führt Habeck aus, dass er ein offenes Klima für Arbeits- und Fachkräfte aus dem Ausland schaffen will und zeitgleich „die bürokratischen Hürden für Einwanderung in den Arbeitsmarkt, Erwerbsbeteiligung und Integration“ weiter gesenkt werden müssen.
Habeck erntet gemischte Kritik
Mit seinen Vorschlägen erntet Habeck gemischte Kritik. So spricht der Wirtschaftsprofessor an der FH Aachen, Andreas Bernecker, auf Linkedin davon, dass das Papier gute Punkte habe, aber an einigen Stellen nicht konsequent genug gedacht sei. Beim Verband „Die Familienunternehmer“ erntete das Papier hingegen, vor allem aufgrund von „Robert Habecks schuldenfinanzierten Investitionsfonds“ Kopfschütteln.
Auch Lindners Vorschläge werden seit ihrer Veröffentlichung am Wochenende kontrovers diskutiert. Während das neue Papier für die DGB-Chefin, Yasmin Fahimi, nur „Theater“ und „ein Manifest zur Umverteilung von unten nach oben“ ist, wird es in einem aktuellem F.A.Z. Artikel differenzierter wahrgenommen. „Ich stimme voll und ganz zu, dass Arbeitsanreize gestärkt werden müssen“, wird beispielsweise Christian Dustmann, Arbeitsmarktökonom des University College London, zitiert. Er wünscht sich jedoch, dass Lindner mehr auf die Mobilität des Arbeitsmarkts eingegangen wäre und wie diese gefördert werden könnte.
Lindner setzt auf Kürzungen von Sozialleistungen und eine Umstellung der Höchstarbeitszeit
Der inzwischen Ex-Finanzminister setzt bei seinen vier Vorschlägen dabei im Gegensatz zu Habeck einen anderen Fokus für die „Mobilisierung des Arbeitsmarkts“. Im ersten Schritt spricht er davon, die „monetären Fehlanreize bei Arbeitsaufnahme und -ausweitung“ abzubauen. „Das Zusammenspiel von Bürgergeld, Kosten der Unterkunft, Wohngeld und Kinderzuschlag führt bei vielen Haushaltskonstellationen dazu, dass sich die Aufnahme oder Ausweitung von Arbeit monetär nicht lohnt. Das System sollte reformiert werden“, fasst der Finanzminister seinen Vorschlag zusammen. Das kommt nicht bei allen gut an. So schreibt beispielsweise der Soziologe Jürgen Daub in einem Beitrag auf Linkedin, dass dadurch die soziale Ungleichheit und Armut massiv verstärkt würde.
Die Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), Bettina Kohlrausch, äußerte sich bereits Anfang des Jahres, im Zuge der Ankündigung Hubertus Heil, „Arbeitsverweigerer“ stärker sanktionieren zu wollen, in einem Interview für die Webseite der Hans-Böckler-Stiftung (zu der das WSI gehört) zu dem Thema. Man sehe es zwar als Problem, dass Niedriglöhne und staatliche Unterstützung so nah beieinander liegen, glaubt aber nicht, dass dies zu einer verringerten Leistungsbereitschaft führt. „Wir im WSI haben festgestellt: Menschen, die arbeiten, haben immer mehr Geld“, sagte die WSI-Direktorin. „Geringverdiener nehmen allerdings oft die ihnen zustehenden Zuschüsse nicht in Anspruch, weil sie davon nicht wissen oder das System zu kompliziert ist.“
Generell gibt es zu dem Vorschlag, Sozialleistungen zu kürzen, einen Gegenvorschlag. Und zwar die Erhöhung der Löhne der Menschen, die schon arbeiten. „In der öffentlichen Diskussion wird als einfacher Weg gelegentlich die Anhebung der Löhne und Gehälter empfohlen“, schreiben etwa Analystinnen und Analysten des Instituts für Demoskopie Allensbach. Weiter führen sie aus, dass im Jahr nur eine Minderheit eine Gehaltserhöhung von mehr als 5 Prozent erhalten hat.
Und auch der zweite Vorschlag in Lindners Wirtschaftspapier ist nicht unbedingt neu: eine Umstellung von der täglichen auf eine wöchentliche Höchstarbeitszeit und eine Umstellung der Ruhezeitregelungen. Auch der FDP-Fraktionsvize im Bundestag, Lukas Köhler, plädierte bereits im Mai diesen Jahres für einen ähnlichen Vorschlag. Wie zu erwarten wurde und wird dieser Vorstoß kontrovers diskutiert.
DGB hält Lindners Vorstoß für ein Ablenkungsmanöver
So äußerte sich beispielsweise Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) bereits, nachdem ein ähnlicher Vorstoßaus der FDP die Runden machte, kritisch gegenüber dem Vorschlag. Angriffe auf das Arbeitszeitgesetz, so Piel, seien „ein beliebtes Ablenkmanöver, wenn es an ganz anderer Stelle hakt – etwa bei verlässlicher Kinderbetreuung, bei der Ausbildung junger Menschen oder dem Zuzug wichtiger Fachkräfte aus dem Ausland. Sollen doch einfach die, die ohnehin schon viel arbeiten, noch mehr tun.“ Für die Microsoft-Managerin und Diversity-Expertin Annahita Esmailzadeh, ist die Fokussierung auf die Arbeitszeit ohnehin veraltet. „Wir brauchen einen Fokus auf Ergebnisse anstatt auf abgesessene Arbeitszeit“, fordert sie auf Linkedin.
Andreas Peichl, Ökonom am Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo), äußerte sich in der F.A.Z. dem Vorschlag hingegen gegenüber positiv. „Alles, was da zur Flexibilisierung beiträgt, ist richtig“, zitiert ihn die Tageszeitung. Er sehe keine Gefahr, dass „eine solche Reform zur Ausbeutung von Arbeitskräften führt.“
„Tarif auf Rädern“: Ein Schritt in die richtige Richtung?
Ein weiterer zentraler Punkt für Lindner ist ein sogenannter „Tarif auf Rädern“, der die Kalte Progression vermeiden soll. „Für die Jahre 2025 und 2026 ist die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger im Haushaltsentwurf und Finanzplan enthalten. Für die Zeit nach 2026 braucht es auch für die Kalte Progression einen gesetzlich verankerten und damit verlässlichen Automatismus“, führt der inzwischen Ex-Finanzminister seinen dritten Vorschlag weiter aus. Die Leiterin des Zentrum für neue Sozialpolitik, Vanessa von Hilchen, begrüßt diesen Vorstoß von Lindner. Auf Linkedin schreibt sie: „Mit dem „Tarif auf Rädern“ will Lindner verhindern, dass steigende Einkommen durch die Inflation automatisch in eine höhere Steuerstufe rutschen – eine gute Maßnahme, die kleine und mittlere Einkommen entlasten soll.“ Dennoch stellt sie in ihrem Beitrag in Frage, ob die Maßnahme langfristig auch wirklich eine Entlastung für die breite Masse sein würde.
Der vierte und letzte Vorschlag in Lindners Wirtschaftspapier ist die Eindämmung des Anstiegs der Sozialversicherungsbeiträge zur Sicherung der Generationengerechtigkeit. Zusammengefasst heißt das, dass die jungen Generationen entlastet werden sollen, da diese immer stärker belastet und der Arbeitskräftemangel dadurch verstärkt werde. Darunter fällt beispielsweise, die Abschläge bei einem frühzeitigen Renteneintritt und Zuschläge bei späterem Renteneintritt anzupassen. In einem vor wenigen Tagen auf der Webseite des Sozialverband VdK Deutschland veröffentlichten Beitrag zeigt sich die VDK-Präsidentin, Verena Bentele wenig begeistert. „Laufend werden neue Daten, Analysen und Ansätze präsentiert, wie man ältere Menschen länger im Job halten kann, um den Fachkräftemangel auszugleichen. Dadurch wächst der Druck auf die Rentnerinnen und Rentner, die im Ruhestand nicht mehr arbeiten wollen oder können. Ihnen wird ein schlechtes Gewissen gemacht. Dabei wird oft übersehen: Wer fit ist, arbeitet schon heute teils über die Regelaltersgrenze hinaus“, erklärt die VdK-Präsidentin.
Frederic Haupt war Volontär der Personalwirtschaft.

