Es ist ein ungewöhnlicher Vorgang: Der Autozulieferer ZF Friedrichshafen hat im Februar 2025 Strafanzeige erstattet. Nicht gegen Wettbewerber, Lieferanten oder Kriminelle von außen. Sondern gegen Unbekannt. In Verdacht stehen damit die eigenen Mitarbeitenden. Der Vorwurf: Verrat von Geschäftsgeheimnissen nach § 23 des Geschäftsgeheimnisgesetzes.
„Die Anzeige ist bei uns eingegangen, und es wurden Ermittlungen aufgenommen“, bestätigt Dr. Christian Weinbuch, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Ravensburg, auf Anfrage der Personalwirtschaft. Zuerst darüber berichtet hatte die Wirtschaftswoche. ZF habe dabei „Listen mit mehreren hundert Mitarbeitenden übermittelt, die Zugang zu vertraulichen Informationen hatten“. Heißt: Mehrere hundert Mitarbeitende sind verdächtig. ZF selbst wollte sich zu den Vorfällen auf Anfrage unserer Redaktion nicht äußern. Nur so viel: Man werde „auch in Zukunft alles Notwendige tun, um seine Geschäftsgeheimnisse zu wahren”.
Ein Verdacht – viele Verdächtige
Den Stein ins Rollen gebracht hatten Medienberichte, in denen über interne Überlegungen zur möglichen Ausgliederung der sogenannten Division E berichtet wurde. Diese ist verantwortlich für die Antriebstechnologie im Pkw-Segment – mit rund 30.000 Mitarbeitenden weltweit und einem Umsatz von zehn Milliarden Euro im Jahr 2024 ein zentrales Geschäftsfeld bei ZF.
Die Veröffentlichung sorgte im Unternehmen für Aufruhr – vor allem, weil sie interne Strategiedebatten vorwegnahm. Besagte Strategie geht mit einem drastischen Stellenabbau einher: ZF ist hoch verschuldet und steckt mitten in einer umfassenden Restrukturierung. Bisher ist bekannt, dass bis 2028 bis zu 14.000 Stellen in Deutschland abgebaut werden sollen. Bereits zur Jahresmitte 2025 waren laut Unternehmensangaben 5.700 davon realisiert, weitere 4.700 durch Vorruhestand oder Altersteilzeit langfristig gesichert.
Die Strafanzeige gegen Unbekannt lief jedenfalls ins Leere. Nach Abgleich der von ZF gelieferten Namenslisten mit E-Mail-Kontakten stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren Mitte Juni wieder ein. Die Ermittlungen hatten „keine erfolgversprechenden Ansätze“ ergeben. Der in Betracht kommende Tatbestand des § 23 sei „nicht verwirklicht“. Laut Gesetz werde nämlich nur bestraft, wer „zur Förderung des eigenen oder fremden Wettbewerbs oder aus Eigennutz“ ein Geschäftsgeheimnis offenlegt. Auf die Medieninformanten oder -Informantinnen würde dies eher nicht zutreffen.
Wenn Geschäftsgeheimnisse keine sind
Dass die Staatsanwaltschaft Ravensburg das Ermittlungsverfahren gegen unbekannte ZF-Mitarbeitende nach wenigen Monaten wieder einstellte, lag unter Umständen auch nicht nur an fehlenden Spuren – sondern eventuell auch an einem grundlegenden juristischen Problem: Es müsste auch geprüft werden, ob es sich bei den durchgestochenen Informationen überhaupt um Geschäftsgeheimnisse im Sinne des Gesetzes handelte. Denn um auf das 2019 in Kraft getretene Geschäftsgeheimnisgesetz zurückgreifen zu können, müssen die Informationen, um die es geht, gewisse Voraussetzungen erfüllen.
„Nicht allgemein bekannte Informationen von kommerziellem Wert, für die auch angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen getroffen wurden“ – nur diese gelten laut Rechtsanwalt Michael Fuhlrott als Geschäftsgeheimnis. Wer Geschäftsgeheimnisse schützen will, müsse sie nicht nur als solche identifizieren, sondern auch technische, organisatorische und arbeitsrechtliche Schutzmaßnahmen ergreifen, betonte der Arbeitsrechtler vor einiger Zeit in einem Interview mit uns.
Welche Maßnahmen das sind, macht Fuhlrott ebenfalls deutlich: „Ein Großteil der Maßnahmen liegt im Arbeitsrecht wie Formulierungen im Arbeitsvertrag – etwa bezüglich der Vertraulichkeit und Nichtweitergabe sowie entsprechender Unterweisungen. Auch können Vertragsstrafen festgelegt werden.“ Zudem sei es entscheidend, dass nur jene Mitarbeitenden Zugang zu sensiblen Informationen erhalten, die sie tatsächlich benötigen: „Das heißt: Jeder Mitarbeitende muss nur das wissen, was er oder sie für die Tätigkeit braucht.“
Auch die IT-Sicherheit spiele eine Rolle – ebenso wie externe Schnittstellen: „Außerhalb des Arbeitsrechtes ist zudem eine valide IT-Struktur notwendig und auch die Sicherstellung, dass Kunden und Lieferanten nicht auf die geheimen Informationen zugreifen können.“ Im Grundsatz gelte: Nur wer Geheimnisse selbst auch als solche behandelt, kann sich später darauf berufen, dass es Geheimnisse sind – inklusive entsprechender Schutzansprüche.
Alles nur Abschreckung?
Die Strafanzeige sollte möglicherweise ohnehin nur ein Exempel statuieren und ein Signal der Abschreckung senden. In solchen Fällen wären Kündigungen aufgrund einer erheblichen Pflichtverletzung ein naheliegendes Mittel. Denn ob nun Geschäftsgeheimnis oder nicht: Grundsätzlich dürfen Beschäftigte gewisse interne Informationen nicht an Dritte geben – dies ist eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht. Allerdings scheint ZF selbst eben nicht zu wissen, wer es war. Wen also kündigen? Informationen zu etwaigen Kündigungen oder Auswirkungen auf einzelne Arbeitsverhältnisse liegen unserer Redaktion derzeit nicht vor.
Ein Schicksalstag könnte für ZF auch der 29. Juli werden: Dann nämlich tritt der Aufsichtsrat des Unternehmens zusammen, um über die Zukunft des Automobilzulieferers und eine mögliche Restrukturierung zu entscheiden. Gesamtbetriebsratschef Achim Dietrich organisiert momentan große Proteste im Umfeld der Aufsichtsratssitzung. Möglicherweise steht an diesem Tag die ZF-Produktion deutschlandweit still.
Sven Frost betreut das Thema HR-Tech, zu dem unter anderem die Bereiche Digitalisierung, HR-Software, Zeit und Zutritt, SAP und Outsourcing gehören. Zudem schreibt er über Arbeitsrecht und Regulatorik und verantwortet die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.

