Die Krankenreporte zahlreicher Krankenkassen haben in den vergangenen Jahren einen Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage (AU) aufgezeigt. In der Öffentlichkeit hieß es daher: Die Menschen melden sich zu oft krank. „Wir haben zu viele Fehltage. Wir haben mit einen der höchsten Krankenstände in Europa“, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) jüngst.
Genauer Blick ist nötig
Expertinnen und Experten haben eine differenziertere Sicht. Der Anstieg habe sehr wahrscheinlich mit der Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung sowie dem Post-Pandemie-Effekt zu tun. Was kann HR aus der aus dem Ufer geratenen Diskussion lernen? Und wie sollen Personalerinnen und Personaler auf die Zahlen der Krankenkassen schauen?

„Unsere Zahlen basieren nur auf den Diagnosen, die uns mitgeteilt werden“, sagt Mustapha Sayed, Head of Corporate Health bei der Barmer. Inwiefern sie den wirklichen Krankenstand abbilden, ist nicht nachzuweisen. Das wird am Beispiel der Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) aufgrund von psychischen Erkrankungen deutlich. Diese steigen seit Jahren kontinuierlich langsam an. Auf längere Zeit zeigen sich so beträchtliche Anstiege: Von 2020 bis 2024 sind die AU-Fälle aufgrund von Angststörungen um 75 Prozent gestiegen, die wegen Reaktionen auf schwere Belastungen um 169 Prozent und die wegen Depressionen um rund 48 Prozent.
Liegt das daran, dass diese Krankheiten häufiger vorkommen? Oder gehen wir offener mit ihnen um? Haben die Ärzte und Ärztinnen möglicherweise mehr Wissen über psychische Erkrankungen und diagnostizieren sie häufiger? „Das können wir anhand der Daten nicht sagen“, sagt Sayed.
Es kommt auf den Kontext an
Auch unterscheidet sich der Krankenstand teilweise stark von Unternehmen zu Unternehmen. Vom gesamtwirtschaftlichen Krankenstand auf den eigenen zu schließen oder den eigenen damit zu vergleichen, könnte zu einfach gedacht sein. Die Top-Krankheiten, welche AU-Tage verursachen, sind seit Jahren gleich – Muskel-Skelett-Erkrankungen, psychische Erkrankungen und Atemwegserkrankungen.

Doch was stärker ausgeprägt ist, ist laut Sayed von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Es unterscheiden sich nicht nur die Branchen voneinander, sondern auch Berufsgruppen innerhalb der Branchen und eben auch Unternehmen. Deshalb rät Sayed: „Es ist wichtig, in seinem Unternehmen zu schauen, wie es dort aussieht.“
Vor allem auch, wenn man herausfinden möchte, welche Ursachen es für den jeweiligen Krankenstand und die AU-Tage gibt. Denn auch das lässt sich allein aus den Zahlen nicht herauslesen. Laut dem Barmer-Experten können Unternehmen mittels Mitarbeiterbefragungen, anhand der eigenen HR-Daten (in welchen etwa die Häufigkeit der Krankschreibungen festgehalten wird) oder im Dialog zwischen Führungskraft und Mitarbeiter oder Mitarbeiterin Informationen zu den Ursachen erhalten.
Dabei sollte auch im Blick behalten werden, welche Veränderungen es im Unternehmen gab und in welchem Kontext die Organisation agiert. Hat sich die Wirtschaftskrise beispielsweise auf die Arbeit ausgewirkt, und sind dadurch Ängste in der Belegschaft entstanden?
Für sich haben die Zahlen der Krankenkassen-Reports also nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Sie zeigen aber hilfreiche Tendenzen auf und sind damit ein Anhaltspunkt, um sich darauf basierend mit den eigenen Mitarbeitenden auszutauschen. „Man darf sich nicht ausschließlich auf die AU-Daten fokussieren“, sagt Sayed. „Man muss mit den Menschen in den Dialog gehen.“
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der November-/Dezember-Ausgabe unseres Magazins. Dort widmen wir uns schwerpunktmäßig dem Thema skillbasiertes Arbeiten. Hier gelangen Sie zum E-Paper!
Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.

