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Das Zeitalter der Menschlichkeit

„Computerization of humans“ lautete der Prompt für dieses mit der Open-AI-Software DALL-E generierte Bild. (Bild: Personalwirtschaft/Dall-E)
„Computerization of humans“ lautete der Prompt für dieses mit der Open-AI-Software DALL-E generierte Bild. (Bild: Personalwirtschaft/Dall-E)

Im Netz stolperte ich kürzlich über ein Video: Ein Schüler hat einen Kuli so in seinen 3D-Drucker eingespannt, dass jener die wiederum vom intelligenten Sprachbot Chat GPT formulierten Hausaufgaben „handschriftlich“ niederschreibt. Der Jugendliche ist also der Mühen des Denkens und des Schreibens entledigt. Wie praktisch!

@3d_printer_stuff #fyp #chatgbt #3dprint #timelapse ♬ In The End – Mellen Gi Remix – Tommee Profitt & Fleurie & Mellen Gi

Ob Fake oder nicht: Die Episode zeigt, wie sehr Technik unseren Alltag inzwischen zu prägen imstande ist. Chat GPT ist nur die populärste in einer Reihe von Anwendungen, die uns seit einigen Monaten die Kraft von KI deutlich wie nie vor Augen führen: Auf Knopfdruck beantworten sie komplexe Fragestellungen, machen uns zu Comic-Avataren oder fertigen avantgardistische Kunstwerke an. Sehr bald schon werden wir diesen Tools in der Breite der Wissensarbeit repetitive, rechercheintensive, aber auch analytische Aufgaben anvertrauen, für deren Erledigung wir aktuell noch Tage und Wochen aufwenden. Die Systeme greifen auf das Wissen der Welt zu und komponieren es in Sekunden neu, in teils atemberaubender Qualität (und mit teilweise haarsträubenden Fehlern); die menschliche Leistung liegt hier vor allem darin, die KI zu bedienen, die richtigen „Prompts“ zu setzen.

Die Kraft der KI für unsere Stärken nutzen

Das wird uns Milliarden von Arbeitsstunden ersparen und ja, es wird natürlich Jobs fressen. Anwältinnen, Bänker, Journalistinnen, Analysten, Grafikerinnen, Designer, Musikerinnen, Wissenschaftler, Lehrerinnen – für alle Berufsgruppen und -felder werden sich Veränderungen ergeben. Heute bekannte Jobs und Tätigkeiten werden verschwinden, während neue entstehen. Der potenzielle Quantensprung liegt allerdings darin, die Arbeit der KI als Grundlage für die des Menschen zu nutzen und andersherum. Beide Seiten haben völlig andere Stärken.

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Entscheidend wird sein, ob die Arbeit im Wesentlichen darauf basiert, auf kanonisches Wissen zuzugreifen, dieses zu analysieren und zu interpretieren; hier sind uns die Bots uneinholbar voraus. Aber die Frage ist doch, ob wir die KI nun enteilen lassen bis zum Grad der Unbeherrschbarkeit, oder ob wir ihre Kraft für unsere Stärken nutzen: für die inspirierte und originelle Lösung oder das gewogene, das wahrhaft menschliche Urteil. Mögen die großen Geistes- und Sozialwissenschaftler unserer Zeit KI doch bitte nutzen, um das Gewesene aufzubereiten – und darauf aufbauend ihre eigene Gesellschaftsanalyse oder Literaturtheorie formulieren! Möge die Anwältin mithilfe der Technik alles Wissen zusammentragen, um auf dieser Basis ein umso stärkeres, schärferes, flammendes Plädoyer zu halten!

Ironisch oder gar witzig ist nichts

Verstehen Sie mich nicht falsch: KI kann Musik und Poesie und Kunst und Design, sie besteht Eingangstests und Abschlussprüfungen bedeutender Bildungseinrichtungen. Doch ist ihr Angang nicht schöpferisch, nicht künstlerisch, nicht originär. Sie kann – bislang – nur modulieren, was wir Menschen schon gedacht, schon gemacht haben. Sie kann das Bestehende verbinden und auf Knopfdruck weiterdenken. Dort, wo es für uns Menschen wirklich spannend wird – sprich: ironisch oder erotisch, besonders grob oder besonders empathisch, wo Zuneigung und Wärme, Originalität oder Esprit gefragt sind –, versagt die KI bis jetzt.

Ja, ich bin überzeugt: Je mehr Technologie unser Leben prägt, desto mehr wird das Zwischenmenschliche zum entscheidenden Faktor. Wie sollte uns eine noch so raffinierte KI je so berühren und inspirieren, zum Nachdenken oder Weinen bringen, wie es die Schauspielerin im Kammerspiel, die Hardcore-Band im Jugendzentrum, die Zauberin im Zirkus, der Pfleger am Krankenbett, die Leitartiklerin im Feuilleton könnte? Dort, wo wir denken und fühlen, spüren und gestalten, wo wir einander inspirieren, motivieren und begeistern, kommt die KI nicht mit. Mehr noch: Wenn sie zuspitzen oder streiten soll, laviert sie. Ihre politische Korrektheit langweilt erst und nervt dann bald. Ironisch oder gar witzig ist nichts, was sie gebiert. Dafür (re-)produziert sie bisweilen ärgerliche, diskriminierende Verzerrungen. Und Fehler, wie gesagt.

Unsere Hybris ist bemerkenswert

Nun reden wir über lernende, über schnell trainierbare Systeme – über Systeme also, die über sich selbst und womöglich auch über uns hinauswachsen. Ich bin viel zu wenig Technologieexperte, um zu beurteilen, welche Sprünge in welcher Zeit möglich sein werden; aber sie dürften unvorstellbar groß sein (einen fundierten Einblick geben Kai-Fu Lee und Qiufan Chen in ihrem Buch „KI 2041 – Zehn Zukunftsvisionen“, das wir zu den besten Business-Büchern des Jahres 2022 gezählt haben). Und es gibt eine Menge KI-Spezialisten, die vorhersehen, dass uns dereinst die Systeme dominieren und domestizieren, in Zoo und Zirkus vorführen werden, wie wir es heute mit den Tieren tun. Doch wenn ich eine Schlussfolgerung aus all dem ziehe, dann doch die, dass das wahrhaft Menschliche – die Authentizität, Wärme und Verlässlichkeit der persönlichen Beziehung und Begegnung – an Wert gewinnen muss. Wir brauchen es, um zu sein. Wir sind zutiefst bedürftig danach. Das gilt übrigens auch in besonders ironischer Form, wenn wir wirklich im Menschenzoo landen sollten: als soziale, emotionale, intelligente Tiere. Mehr sind wir nicht und waren wir nie.

Doch unsere Hybris ist bemerkenswert. Als Menschen sind wir seit jeher fasziniert von unserer Intelligenz und der daraus resultierenden Fähigkeit zur Dominanz. Immer schon haben wir diejenigen unterjocht, die wir unterjochen konnten. Wir lieben den technischen Fortschritt und reizen ihn aus. Wir wollen geliebt werden und natürlich der Schönste, Stärkste, Beste im Werben umeinander sein. Der Fake am eigenen Leibe ist uns längst – und sprichwörtlich – in Fleisch und Blut übergegangen: die gemachten Brüste, die geweißten Zähne, die aufgespritzten Lippen, die abgesaugten Fettschürzen, die falschen Nägel, die blondierten, toupierten und transplantierten Haarprachten. Wir wischen einander wie Avatare nach links und nach rechts, sind aber enttäuscht, wenn die reale Person dem gefilterten digitalen Abbild nicht standhält. Das Ergebnis technischer Optimierung des Menschen: fast immer schal. Abgeschmackt. Übertrieben. Glööckler statt Glamour.

Von der Technik keine Menschlichkeit erwarten

Die Technik hat ihre Stärken, der Mensch hat seine. Die Gefahr liegt darin, die Kompetenzen zu vermengen oder zu verwechseln. Darin, mehr sein zu wollen, als wir sind. Wir haben Systeme geschaffen, mit denen wir einander so glaubwürdig hinters Licht zu führen vermögen, dass wiederum (und wenn überhaupt) nur noch die Systeme selbst es merken. Doch wir dürfen von der Technik keine Menschlichkeit erwarten, nur weil sie scheinbar in der Lage ist, uns Menschen perfekt zu simulieren. Der Deep Fake ist die logische Folge des Techniksprungs. Und die nächste Ausbaustufe des Verrats an der so oft beschworenen Authentizität.

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Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz (KI) wird im HR-Kontext unter anderem im Recruiting genutzt, etwa bei der Auswahl passender Bewerberinnen und Bewerber aus einem großen Pool. Aber auch beim Betrieb von Chatbots und bei der KPI-Auswertung kommt KI zum Einsatz.

Was unsere Spezies auszeichnet, was uns lebendig und selbstwirksam macht, ist so einfach, so offensichtlich, so sprichwörtlich, so natürlich: Es ist das Zwischenmenschliche. Es ist das Miteinander. „Die Wahrheit beginnt zu zweit“: Der Psychologe und Autor Michael Lukas Moeller hat natürlich recht. Wir können einander anrühren, bewegen und begeistern. Wir können authentisch sein und aufrichtig. Wir können lachen, und wir können weinen. Wir sind echt. Unsere Menschlichkeit ist eine Superkraft. Wir tun gut daran, sie achtsamer denn je wertzuschätzen und zu kultivieren.

Cliff Lehnen ist Chefredakteur der Personalwirtschaft und unter anderem spezialisiert auf die Themen Organisationsentwicklung, Unternehmenskultur, Innovations- und Veränderungsmanagement.