Fast eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind seit Beginn des russischen Angriffs Ende Februar nach Deutschland geflüchtet. Vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen hat der Exodus aus dem gepeinigten Land hierher verschlagen. Weil niemand vorhersagen kann, wie lange Putins Krieg noch dauern wird, richten sich die Menschen notgedrungen auf einen längeren Aufenthalt ein – Wohnungssuche, Schulbesuch und Arbeit inklusive.
Die rechtlichen Voraussetzungen dafür wurden in Deutschland und den anderen EU-Staaten über die erstmalige Anwendung des sogenannten Massenzustrom-Mechanismus beispiellos schnell geschaffen. Wer einen ukrainischen Pass hat, darf hier grundsätzlich arbeiten. Wie viele Geflüchtete aus der Ukraine konkret einen Job in Deutschland anstreben, kann derzeit niemand genau sagen. Entsprechende Daten liegen noch nicht vor, eine Studie ist erst kürzlich angelaufen (siehe Infobox). Aus den Erfahrungen früherer Flüchtlingswellen aber liegt die Vermutung nah, dass Personaldienstleister ein vergleichsweise unkomplizierter Startpunkt in den hiesigen Arbeitsmarkt sein können.
Info
Wie ist die Lage der Ukraine-Geflüchteten?
Wissenschaftliche Daten zur Situation der Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine gibt es aktuell nicht. Erfahrungen aus früheren Flüchtlingswellen lassen sich auch nur bedingt übertragen, zu groß sind die Unterschiede: Das betrifft die geografische Nähe der EU zur Ukraine, zudem benötigen Ukrainer keine Visa bei der Einreise und kein Asylverfahren. Auch die demografische Zusammensetzung ist ohne Vorbild. Diese Kenntnislücken zu schließen, ist Ziel einer Befragung von 6.000 Geflüchteten, die Ende August vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), dem Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und dem Soziooekonomischen Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) gemeinsam gestartet wurde. In der Untersuchung geht es unter anderem um Erwerbstätigkeit der Geflüchteten, um ihre schulische, berufliche und akademische Qualifikation, die finanzielle und familiäre Situation und sowie die Deutschkenntnisse dieser Personen. Außerdem werden noch Herkunft und Fluchtumstände erfragt. Es geht überdies um Fragen der Gesundheit, der sozialen Netzwerke der Geflüchteten, ihre Beratungs- und Unterstützungsbedarfe und ihre Absichten für die Zukunft im Hinblick auf Familiennachzug oder die Rückwanderung in die Ukraine.
Telefon-Hotlines und Infoseiten für Geflüchtete
Schon bald nach dem russischen Angriff und mit teils beträchtlichem Aufwand reagierten deshalb etliche Zeitarbeitsfirmen, sie erstellten in Eigenregie umfangreiche Angebote für die Geflüchteten. Der deutsche Branchenprimus Randstad etwa bietet über eine eigens eingerichtete Job-Plattform in englischer und ukrainischer Sprache geflohenen Ukrainerinnen und Ukrainern kostenlose Unterstützung bei der Stellensuche, innerhalb Deutschlands und über einen Talent Pool auch in anderen EU-Ländern. Auch das Unternehmen selbst stellt Geflüchtete ein. „Ende Juli 2022 waren bei Randstad knapp 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Ukraine beschäftigt. Das sind etwa doppelt so viele wie im Vorjahresmonat“, berichtet Dr. Christoph Kahlenberg, Manager Randstad Akademie & Arbeitsmarktprojekte.
Auch Wettbewerber Persona Service nutzt seine Ressourcen, um den Menschen aus der Ukraine zu helfen: „Im ersten Schritt haben wir eine Telefon-Hotline sowie einen Bereich auf unserer Website eingerichtet, um ein Informationsangebot in ukrainischer Sprache zu schaffen. Damit wollten wir zunächst ein allgemeines Hilfsangebot zur Verfügung stellen, um ankommende Geflüchtete bei ihren ersten Schritten in Deutschland zu unterstützen“, sagt Melanie Vinci, Präsidentin des Verwaltungsrates von Persona Service. Später seien Stellenausschreibungen, Flyer et cetera in ukrainischer Sprache dazugekommen. Ergebnis: „Seit Ausbruch des Krieges gab es rund 60 Einstellungen.“
Mit rund 50 Einstellungen bewegt sich I. K. Hofmann in einer ähnlichen Größenordnung. Dort wurde ein komplettes Kommunikationspaket speziell für Geflüchtete aus der Ukraine entwickelt, wie Michael Laux sagt, seines Zeichens Relationshipmanager bei dem Personaldienstleister: „Wir haben unseren Support im Sinne der Suche von Arbeitsstellen und auch Unterstützung in organisatorischen Themen über mehrere Plattformen kommuniziert.“ Eine eigene telefonische Helpline sei von ukrainischen Mitarbeitern aus dem Unternehmen besetzt worden. Zudem wurden Broschüren und eine Website in ukrainischer Sprache erstellt. „Diese Website ist in ihren Kontaktmöglichkeiten mit unseren 90 Niederlassungen in Deutschland vernetzt.“
Zusätzlich seien Mitarbeiter der Niederlassungen direkt in die Aufnahmeeinrichtungen gegangen, um vor Ort zu informieren. Rund 100 Einstellungen von Arbeitskräften aus der Ukraine seit 2021 bei Randstad, 60 bei Persona Service und 50 bei I. K. Hofmann, das ist schon mal einiges. Aber gemessen an der Mühe und dem Aufwand, den die Personaldienstleister betreiben und der Zahl von fast einer Million Geflüchteten dann doch eine eher bescheidene Größenordnung. Woran hapert es also? Warum finden Zeitarbeitsfirmen und Geflüchtete nur selten zueinander?
Grund für den schwierigen Einstieg: Demografische Faktoren
Die erste und offensichtliche Erklärung ist die demografische Zusammensetzung der Gruppe: Rund zwei Drittel sind weiblich, fast vier von zehn registrierten Flüchtlingen sind Kinder und Jugendliche, so die Angaben des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat (BMI). Die Kultusministerkonferenz meldete Ende August, dass mehr als 163.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine in Deutschland die Schule besuchen. Da Männer im wehrfähigen Alter seit Kriegsbeginn nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen, sind diejenigen, die den Weg hierher geschafft haben, vielfach zu alt oder zu jung für einen Job.
Bleiben also überwiegend Frauen, die eine Arbeit aufnehmen könnten, doch: „Ukrainerinnen mit jüngeren Kindern fehlen sehr häufig Betreuungsmöglichkeiten“, sagt Silvia Schwanhäuser, Expertin für die Arbeitsbereiche Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB. Und selbst wenn die Kinder die Schule oder einen Kindergarten besuchen, reichen die Betreuungszeiten kaum für die in der Zeitarbeit verbreiteten Schichtdienste. Partner, Großeltern oder Freunde, die einspringen könnten, sind bei den meisten sehr weit weg.
Fehlende Sprachkenntnisse ebenfalls ein Faktor
Der zweite Faktor, der die Arbeitsaufnahme erschwert, sind fehlende Sprachkenntnisse bei den Geflüchteten. „Das ist in der Regel das Hauptproblem“, sagt Michael Laux von I. K. Hofmann. Randstad-Experte Christoph Kahlenberg konkretisiert: „Ohne Deutschkenntnisse auf B1-Niveau ist eine Einstellung in der Regel nicht möglich und auch nicht empfehlenswert, insbesondere wegen des Arbeitsschutzes.“ Laut einer Erhebung der Randstad-Akademie scheitert in fast 80 Prozent der Unternehmen die erfolgreiche Einarbeitung von Menschen aus der Ukraine vor allem an fehlenden Sprachkenntnissen. Lediglich 3,7 Prozent der befragten Unternehmen haben Bedenken bei deren Qualifikation.
Der Umgang mit fehlenden Sprachkenntnissen ist ein Standardthema für Zeitarbeitsfirmen, bei ihnen arbeiten weit überdurchschnittlich viele Männer und Frauen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer können sie deshalb auf eingespielte Muster zurückgreifen. Über die Randstad Akademie etwa werden Bewerbenden und Mitarbeitenden kostenlose Sprachkurse angeboten. Auch Hays offeriert bereits seit Jahren für „interne Mitarbeitende und Mitarbeitende in Arbeitnehmerüberlassung bei Bedarf Sprachkurse, unabhängig von ihrer Herkunft“, wie Alexander Heise, Vorstand der Hays AG, sagt. Gefragt seien vor allem Deutsch- und Englischkurse.
Bei Persona Service wurde in diesem Jahr ein neues Projekt zur Qualifizierung in der deutschen Sprache gestartet. Melanie Vinci: „Dafür haben wir ein durch digitale Plattformen unterstütztes Konzept entwickelt. Darüber hinaus haben alle unsere Mitarbeitenden – und damit natürlich auch Geflüchtete, die für uns tätig sind – die Möglichkeit, an einem Deutschkurs teilzunehmen.“ Das digitale Training finde an mehreren Tagen pro Woche und zu unterschiedlichen Zeiten statt. „Dadurch erhöhen sich deutlich die Chancen der Integration und auf dem Arbeitsmarkt.“
Anerkennung von Abschlüssen ist kompliziert
Das dritte Problem, mit dem die Geflüchteten zu kämpfen haben, ist die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen aus der Ukraine. Dies sei kompliziert und langwierig, sagt Christoph Kahlenberg. „Ohne Anerkennung kann in Deutschland niemand mit einem ausländischen Abschluss in seinem Beruf arbeiten. Hier wäre ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren wünschenswert.“ Tatsächlich ist das Bildungsniveau der Ukrainer grundsätzlich hoch, „teilweise sogar höher als in Deutschland“, sagt IAB-Expertin Silvia Schwanhäuser. Gerade technisch-digitale Fähigkeiten sind weiter verbreitet.
Die Krux bei der Anerkennung liegt darin begründet, dass das Schul- und Ausbildungssystem in der Ukraine ganz anders strukturiert ist als in Deutschland: Zunächst besuchen alle Kinder neun Jahre lang die gleichen Schulen. Danach folgt entweder eine allgemeinbildende Oberschule oder ein mehrstufiges berufliches Bildungsangebot. Dieses ist überwiegend schulisch organisiert und ermöglicht eine Berufsausbildung auf mehreren Qualifikationsniveaus. Ein Beispiel dafür sind etwa Berufe im Friseurhandwerk: Die Kompetenzen für helfende Tätigkeiten werden auf der ersten Stufe erworben, anspruchsvollere fachliche Tätigkeiten werden auf der zweiten Stufe erlernt. Die Ausbildung zum Beruf „Friseur/Friseurin – Stylist“ auf der dritten Stufe vermittelt zusätzliche Kompetenzen, unter anderem in Betriebswirtschaft, Arbeitsrecht und Informatik. Abschlüsse auf der dritten Stufe gelten als Bachelor.
Diese Eigenart des beruflichen Bildungssystems erklärt die hohe Akademikerquote bei den Geflüchteten. Im April sagte der damalige Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, er gehe davon aus, dass etwa jeder zweite Geflüchtete eine akademische Ausbildung hat, „entweder wissenschaftlich ausgebildet ist oder einen Fachschulabschluss auf Bachelorniveau besitzt, der in etwa der dualen Ausbildung in Deutschland entspricht“. Scheele wies auch darauf hin, dass besonders die Frauen in der Ukraine in akademischen, technischen und medizinischen Berufen tätig seien. Eine duale Ausbildung ähnlich wie in Deutschland gibt es erst seit 2015 in der Ukraine – allerdings nur sehr punktuell und weitgehend unter dem Radar (was auch dazu führt, dass für ukrainische Jugendliche das System beruflicher Ausbildung in Deutschland unbekanntes Terrain ist).
Ukraine-Geflüchtete arbeiten oft unter ihrem Niveau
Die Personaldienstleister, die sich um die ukrainischen Flüchtlinge bemühen, kennen das Qualifikations- und Anerkennungsproblem nur zu gut. „Der Großteil der aus der Ukraine Geflüchteten ist gut bis sehr gut qualifiziert, unter ihnen befinden sich viele Akademikerinnen und Akademiker. Sie sind in Deutschland aber überwiegend in Jobs unter ihrem Qualifikationsniveau tätig“, weiß Christoph Kahlenberg. Alexander Heise ergänzt: „Die Skills der ukrainischen Fachkräfte sind natürlich sehr unterschiedlich. Grundsätzlich ist das Niveau hoch, gerade bei digitalen Fähigkeiten.“
Auch Melanie Vinci weiß, dass die Qualifikationen und die Tätigkeiten, in denen die Menschen eingesetzt werden können, oft auseinanderklaffen: „Wir haben es mit einem breiten Spektrum an Bildungshintergründen und beruflichen Qualifikationen zu tun – von Produktionshelferinnen und -helfern bis zu medizinischem Personal und auch Menschen mit Hochschulabschlüssen.“ Aufgrund der in den meisten Fällen zunächst nicht ausreichenden Sprachkenntnisse und nicht anerkannter Abschlüsse lägen die Tätigkeitsbereiche in erster Linie in den Bereichen Produktion, Kommissionierung oder Helfertätigkeiten.
Bei Randstad wird die überwiegende Mehrheit der Mitarbeitenden ebenfalls im verarbeitenden Gewerbe eingesetzt. „Über alle Einsatzgebiete hinweg nehmen Geflüchtete vor allem Tätigkeiten an, die geringe Qualifikationen voraussetzen. Dies kann sich aber mit besseren Sprachkenntnissen, zunehmender Berufserfahrung und anerkannten Qualifikationen in Zukunft ändern“, sagt Christoph Kahlenberg.
Vor- und Nachteile der Zeitarbeit
Für IAB-Expertin Silvia Schwanhäuser sind das Gründe, den Einsatz der ukrainischen Geflüchteten differenziert zu betrachten: „Zeitarbeit ist erst einmal eine Chance, kurzfristig arbeiten und Geld verdienen zu können.“ Auch für diejenigen, die sich nicht längerfristig binden wollten, weil sie auf eine baldige Rückkehr hoffen, sei die Arbeit bei einem Personaldienstleister eine gute Möglichkeit. So viel zur positiven Seite. „Andererseits bindet so ein Job Zeit und Kapazitäten, die sonst für Sprach- und Eingliederungskurse, Bewerbungen oder für die Anerkennung der Ausbildung zur Verfügung stehen könnten“, sagt sie. Schwierig sei die Situation besonders für ukrainische Frauen, „die oftmals aus wissensintensiven Tätigkeiten kommen – und diese aufgrund der Sprach- und Anerkennungsprobleme hier nicht ausüben können“. Je länger diese Frauen bei einem Personaldienstleister tätig seien, desto höher sei das Risiko, bei einer Tätigkeit, die eben nicht den eigentlichen Qualifikationen entspreche, „hängenzubleiben“.
Info
Der Beitrag erschien auch in unserem aktuellen HR-Recruiting Guide 2023, den Sie hier kostenlos lesen können. Das Anbieterverzeichnis finden Sie auch online.
Christina Petrick-Löhr betreut das Magazinressort Forschung & Lehre sowie die Themen Recruiting und Employer Branding. Zudem schreibt und recherchiert Sie zum Thema Transformation, Change Management und Leadership und ist verantwortlich für die redaktionelle Planung verschiedener Sonderpublikationen der Personalwirtschaft.