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„Frühere Bewerbungen haben von persönlichen Schicksalsschlägen erzählt“

Personalwirtschaft: Herr Luks, als Historiker an der Justus-Liebig-Universität Gießen forschen Sie zur Geschichte der Bewerbungen und haben vor Kurzem das Buch „In eigener Sache: Eine Kulturgeschichte der Bewerbung“ veröffentlicht. Was waren die ältesten Bewerbungen, die Sie untersucht haben?
Timo Luks: Die ersten Bewerbungen, die ich in deutschen Archiven finden konnte, stammen aus den 1770er Jahren. Davor gab es so etwas Ähnliches wie eine Bewerbung. In den Schriften haben sich die Absender aber nicht explizit auf eine Stelle oder Anstellung bezogen, sondern allgemein Hilfe von jemand anderem erbeten. Das konnte dann ein kleines Almosen sein, oder man bot seine Dienste an.

„Erbeten“ klingt wenig nach dem Selbstmarketing-Stil, der heutigen Bewerbungen eigen ist.
Das stimmt. Vom Ton her haben die Bewerbenden aus einer Rolle der Unterwürfigen heraus geschrieben. Sie haben von persönlichen Schicksalsschlägen und Miseren ihres Lebens erzählt, die sie in ihren Augen würdig machen, die Stelle zu bekommen. Was die bewerbende Person kann und bietet, fand in den ersten Bewerbungen so gut wie keine Erwähnung. Vereinzelt wurde in den letzten kurzen Absätzen auf Qualifikationen eingegangen.

Wie war das Design der Bewerbungen damals?
Die Bewerbungen waren sehr verschnörkelt gestaltet, was damals als förmlich galt. Für den Laien sehen sie aus wie Urkunden. Es war folglich nicht leicht, eine Bewerbung aufzusetzen, weshalb sie oftmals von professionellen Schreibern aufgesetzt wurden. Oder man griff auf Ratgeber zurück, die die Formalia detailliert erläuterten. Das betraf sogar die Farbe und Qualität der Tinte und das richtige Papier: Es durfte kein einzelnes Blatt, sondern es musste ein ganzer Bogen im Folioformat sein, also etwas größer als das heutige DINA4-Format. Man hat sich in hierarchieangelehnten Höflichkeitsformen ausgedrückt und in langen, verschachtelten Sätzen, die manchmal über zwei Seiten gingen. Dabei wurden dann einfach alle Argumente aneinandergereiht.

Gab es skurrile Bewerbungen, die aus diesem Muster herausgefallen sind?
Die Bewerbungen waren sich – wie auch heute – sehr ähnlich. Doch es gab einzelne besondere. Das sind zum einen solche, die sehr umfänglich waren, oder solche, die auf Briefpapier und nicht auf Papierbögen niedergeschrieben waren. Zum anderen hatten einzelne Bewerbungen einen drohenden Tonfall. Ein Bürger Nürnbergs hat beispielsweise in seine Bewerbung bei der Stadt paraphrasiert in etwa so etwas geschrieben wie: Wenn sie mich nicht einstellen, dann werde ich sie ohne eine Gegenleistung meiner Arbeitskraft etwas kosten. Dann werde ich der Armenkasse zur Last fallen.

Hat die Drohung in der damaligen Bewerbung funktioniert?
Das kann ich aus den Quellen leider nicht sagen. Oftmals liegen nur die Bewerbungen vor. Was danach mit ihnen geschieht, ist so gut wie nicht dokumentiert. Im Falle des Nürnberger Bürgers könnte ich mir allerdings vorstellen, dass sein Argument überzeugend war.

Timo Luks ist Historiker und forscht zum 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere zur Geschichte des Kapitalismus, prekärer Lebenswelten und industrieller Arbeitsverhältnisse. (Foto: privat)

Wie sind wir nun von der bittenden Bewerbung gefüllt mit persönlichen Schicksalsschlägen zum aktuellen Stil der Bewerbung gekommen?
Ab 1860 setzte eine Verschiebung ein. Bewerbende schilderten immer mehr ihre Karrierewege, wobei die persönlichen Lebenssituationen und Gründe, warum sie den Job brauchen, weiterhin Teil des Inhalts waren. Beides wurde im Detail beschrieben, womit die Bewerbungen oftmals sieben bis acht Seiten lang waren.

Waren beide Teile gleich lang?
Je nach Beruf war die Gewichtung eine andere. Ich habe mir für meine Forschung vor allem Bewerbungen für städtische Dienste angeschaut. Für dortige Berufe, wie die Arbeit als Rechnungsrevisor, legten Bewerbende den Fokus mehr auf ihre Qualifikationen. Für Jobs, für die man nicht unbedingt bestimmte Qualifikationen benötigte oder unterschiedliche Kenntnisse von Vorteil waren, wurde mehr von persönlichen Umständen und Schicksalsschlägen berichtet – beispielsweise um für die Polizei arbeiten zu dürfen.

Wann kam der letzte Schritt zur aktuellen Form der Bewerbung?
Mit der Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Ab da gab es nur noch eine kurze Eingangsfloskel, die die persönlichen Umstände und den Grund erörterte, warum der Bewerber oder die Bewerberin den Job braucht. Der Großteil war ein Fließtext, der im Stil eines autobiografischen Essays den Lebenslauf wiedergab und teilweise auch schon in Absätze zu den einzelnen Berufserfahrungen gegliedert war. Um 1900 herum sah die Bewerbung dann schon in etwa so aus wie heute und bestand aus zwei Teilen: dem Lebenslauf und dem Anschreiben.

Warum wurde auf die Beschreibung der persönlichen Schicksalsschläge auf einmal verzichtet?
Das lag vermutlich an der Entstehung des Arbeitsmarktes, auf dem erstmals Arbeitskräfte miteinander konkurrierten. Auch setzten sich damals Ausbildungen und daran geknüpfte Zertifikate durch. Mit ihnen konnten Qualifikationen messbar gemacht werden, was ihre Angabe aussagekräftig gemacht hat.

Es scheint überraschend, dass sich die Bewerbung innerhalb von knapp 100 Jahren nicht geändert hat. Woran liegt das?
Die vergangenen gut 100 Jahre wurden eher dazu genutzt, ein System aufzubauen, mit dem die Bewerbungen organisiert und bewertet werden können – die Personalabteilung entstand. In den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in großen Unternehmen erstmals Bemühungen, Personalabteilungen aufzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie vielerorts professionalisiert. Ihr Aufbau wurde vor allem durch US-amerikanische Besatzungskräfte gefördert, die ihre Management-Methoden in deutsche Unternehmen brachten.

Wie wurden zuvor Bewerbungen in Deutschland ausgewählt?
Zuvor entschieden in Deutschland meist die Leiter der Niederlassung wie kleine Könige darüber, wer eingestellt wird. In den USA hatte sich aufgrund deren von Anfang an demokratisch ausgerichteten Kultur schon ein objektiveres, zumindest aber ein einheitlicheres System zur Auswahl der Kandidaten und der Kandidatinnen gebildet.

Seitdem hat sich die Welt der Personalabteilungen stark aufgebaut – das zeigt auch die große Menge an Themen, über die wir als HR-Fachmedium berichten. Wird sich die Art der Bewerbungen Ihrer Meinung nach künftig ändern?
Vielleicht. Allerdings nur dann, wenn HR die Bewerbenden bewusst nach anderen Details über ihr Person und ihre Berufslaufbahn fragt. Beide Seiten haben sich so aufeinander eingespielt, dass hier ein Impuls nötig ist, um eine Veränderung hervorzurufen.

Lena Onderka ist redaktionell verantwortlich für den Bereich Employee Experience & Retention – wozu zum Beispiel auch die Themen BGM und Mitarbeiterbefragung gehören. Auch Themen aus den Bereichen Recruiting, Employer Branding und Diversity betreut sie. Zudem ist sie redaktionelle Ansprechpartnerin für den Deutschen Human Resources Summit.