Zahlreiche Personalerinnen und Personaler konnten am Mittwoch ihren Augen nicht trauen. Denn mehrere Medien titelten, die Bundesregierung sehe keinen (allgemeinen) Fachkräftemangel in Deutschland. Und tatsächlich heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag wörtlich: „Von einem umfassenden Fachkräftemangel beziehungsweise von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel kann in Deutschland […] nicht gesprochen werden.“ Bezweifelt das Bundesarbeitsministerium also ernsthaft, dass es einen Fachkräftemangel gibt?
Die kurze Antwort ist: Nein, tut sie nicht.
Rein rechnerisch mehr Arbeitslose als offene Stellen
Die etwas längere Antwort: Um den Satz einordnen zu können, sollte man die ganze Reaktion auf die Anfrage, lesen – oder zumindest mehr als einen Satz. Schließlich zeichnet das Ministerium auf den restlichen knapp 21 Text- und den knapp 100 Tabellenseiten ein anderes Bild. „Bei 118 [von 144] Berufsgruppen lag der Bestand an gemeldeten Arbeitsstellen [im Dezember 2022] unter dem Bestand an Arbeitslosen und bei 138 Berufsgruppen unter dem Bestand an Arbeitsuchenden“, heißt es zum Beispiel ganz am Anfang der Antwort. Und auch im weiteren Verlauf wird immer wieder darauf hingewiesen, dass in vielen Branchen und Bereichen Fach- und zunehmend auch einfache Arbeitskräfte fehlen. Auch auf den demografischen Wandel und sich verändernde Anforderungen aufgrund von Digitalisierung und anderen Transformationsprozessen in der Wirtschaft wird in dem Text eingegangen.
Und dann kommt Frage 20 von 41, jene, in deren Antwort der vermeintlich verhängnisvolle Satz steht. Dort wird die Bundesregierung darum gebeten, zum Urteil der Bundesagentur für Arbeit (BA) aus dem Mai 2022 Stellung zu nehmen, in dem es heißt, dass „man in Deutschland weder von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel noch von einem umfassenden Fachkräftemangel sprechen“ kann. Das, was das Bundesarbeitsministerium hier tut, ist lediglich, den Expertinnen und Experten der BA nicht zu widersprechen – eine Institution übrigens, die dem Ministerium nachgelagert ist. Und die Rechnung, die dort aufgemacht wird, widerlegt ja – rein zahlenmäßig und in der Theorie – zumindest einen allgemeinen Arbeitskräftemangel. Denn rein rechnerisch gibt es nach wie vor mehr Arbeitslose als offene Stellen in Deutschland.
Das Wörtchen „umfassend“
Aber den Mitarbeitenden im Ministerium ist auch bewusst, dass diese Rechnung natürlich viel zu einfach ist, schreiben sie doch selbst an anderer Stelle vom „sich vergrößernden Fachkräfteparadox“, bei dem ein Ausgleich „nur begrenzt stattfindet“. Man darf also wohl davon ausgehen, dass auch ihnen klar ist, dass es auch eine Passung geben muss zwischen dem Fachkräftebedarf und dem -angebot, jenseits der schieren Personenanzahl.
Dass die Bundesregierung wirklich der Überzeugung ist, es gebe keinen Fachkräftemangel oder versucht, diesen kleinzureden, ist zumindest von der Antwort nicht gedeckt. Dazu kommt: Völlig unabhängig, wie man die Wirkung der einzelnen Maßnahmen bewertet, deutet allein schon die Existenz einer von der Regierung erstellte Fachkräftestrategie darauf hin, dass das Problem zumindest bekannt ist.
Überlesen darf man darüber hinaus auch nicht das Wort „umfassend“, dass in vielen Überschriften in dieser Woche weggelassen wurde. Denn ein „umfassender Fachkräftemangel“ wäre ja, zu Ende gedacht, einer, in dem es in jeder Branche und in jeder Region zu wenige Fachkräfte gebe. Das ist (noch?) nicht der Fall.
Matthias Schmidt-Stein koordiniert als Chef vom Dienst die Onlineaktivitäten der Personalwirtschaft und leitet die Onlineredaktion. Thematisch beschäftigt er sich insbesondere mit dem Berufsbild HR und Karrieren in der Personalabteilung sowie mit Personalberatungen. Auch zu Vergütungsthemen schreibt und recherchiert er.